News: Eine unerwartet lange Nachbarschaft
Neandertaler werden meist als prähistorische Menschen mit beschränkteren Fähigkeiten angesehen, die von den aus dem Nahen Osten eindringenden modernen Menschen schnell in Richtung Westen verdrängt wurden. Bisher vermuteten die Wissenschaftler als letztes Rückzugsgebiet die südwestliche Iberische Halbinsel, wo die Neandertaler dann vor etwa 30 000 Jahren ausgestorben sein sollen.
Der Fund der beiden Schädel vom letzten Jahr widerspricht damit der Annahme vieler Anthropologen, daß die Neandertaler im mittleren Europa bereits vor 34 000 Jahren ausstarben. "Die meisten Wissenschaftler hätten die letzten Neandertaler eher in Südwesteuropa als in Mitteleuropa erwartet", meint Fred H. Smith vom Anthropology Department der Northern Illinois University und Mitglied des Forschungsteams. "Die neuen Daten aus den Radiokarbonmessungen lassen dagegen vermuten, daß die Neandertaler in Mitteleuropa mehrere Jahrtausende neben den modernen Menschen gelebt haben."
"Die Ausrottung der Neandertaler durch den modernen Menschen, entweder durch Vertreibung oder durch Vermischung der Populationen, war ein langsamer und geographisch mosaikartig verteilter Prozeß", meint dagegen Erik Trinkaus von der Washington University in St. Louis. "Die Unterschiede im grundlegenden Verhalten und den Fähigkeiten zwischen den beiden Gruppen müssen gering und eher subtil gewesen sein."
Die neuen Befunde lassen auch bisherige DNA-Untersuchungen an Neandertalern in einem anderen Licht erscheinen. Diese hatten ergeben, daß – auch wenn die beiden Gruppen nebeneinander lebten – sie sich womöglich nicht miteinander fortpflanzten. "Die neuen Daten unterstützen meiner Meinung nach die Ansicht, daß wahrscheinlich ein ziemlich großer genetischer Austausch zwischen Neandertalern und modernen Menschen stattgefunden hat", meint Smith. "Wenn man die Anatomie der frühen modernen Europäer betrachtet, findet man auch eine Reihe von Merkmalen, die eigentlich nur dann zu erklären sind, wenn man die Neandertaler in die Vorfahren mit einbezieht. Und abgesehen davon ist die mitochondriale DNA der Neandertaler nicht außerhalb des Bereiches einzuordnen, den die mitochondriale DNA des modernen Menschen einnimmt – nur eben ziemlich weit an dessen äußeren Rand."
Unterstützt werden all diese Folgerungen durch den Fund von Überresten eines Kindes in Portugal, der 24 500 Jahre alt ist. Obwohl das Kind zu den modernen Menschen gezählt werden muß, weist es einige besondere Charakteristika von Neandertalern auf, was doch auf eine gemeinsame Fortpflanzung von Neandertalern und modernen Menschen schließen läßt. Und wie Trinkaus zu bedenken gibt, hätten die beiden Gruppen viel Zeit gehabt, sich zu mischen, wenn sie wirklich auch in Mitteleuropa noch Jahrtausende nebeneinander gelebt haben.
Was die Forscher weiterhin wundert, ist der Fund verschiedener Werkzeuge aus Knochen und Stein in dem Grab. Von Neandertalern wird allgemein angenommen, daß sie ausschließlich primitive Steinwerkzeuge herstellten, während die frühen modernen Menschen auch ausgereiftere aus Knochen fertigten. Die Vindija-Grabstätte enthielt beide Arten von Werkzeugen, darunter auch einen abgeschrägten Knochen, der womöglich als Speerspitze gedient hat. "Es wäre möglich, daß die Neandertaler alle diese Werkzeuge hergestellt haben oder sie im Handel mit modernen Menschen erhielten", erklärt Smith. Beide Möglichkeiten widersprechen der verbreiteten Ansicht, daß die Neandertaler weder in der Lage waren, solche Werkzeuge herzustellen, noch mit ihnen umzugehen.
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 1.10.1999
"Kannibalismus unter Neandertalern" - Spektrum Ticker vom 21.3.1999
"Familientreffen besonderer Art"
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