Direkt zum Inhalt

News: Teufelstreppe aus Wasser und Seife

Kristallographen zählen nicht wie andere Menschen. Für sie gilt ein Kristall, der zwölf wunderschöne glatte Flächen besitzt, als zweiseitig, da die restlichen Grenzflächen sich auf Grund der Symmetrie durch Drehungen ineinander überführen lassen. Der bislang komplizierteste in einem Labor erzeugte Kristall wies nur sechs unterschiedliche Flächen auf. Nun konnte ein Forscherteam aber ein Exemplar herstellen, das mehr als 60 verschiedene besaß, und bestätigten damit zum ersten Mal die Vorhersage aus den 50er Jahren, dass unter idealen Bedingungen Kristalle eine nahezu unbegrenzte Anzahl von Grenzflächen hervorbringen können.
Festkörperphysiker haben sich schon häufig darüber gewundert, warum Kristalle überhaupt glatte Grenzflächen ausbilden. Trotz ihrer Ordnung auf atomarer Ebene könnten sie doch im makroskopischen Bereich schlicht Tropfenform annehmen wie Flüssigkeiten auch. Aber sie bilden Grenzflächen aus und das nicht mal unbedingt parallel zu den einfachsten Atomebenen. Ein kubischer Kristall kann zum Beispiel eine Grenzfläche im 45-Grad-Winkel zur Kristallachse hervorbringen, indem er auf atomarer Ebene eine "Treppe" errichtet. Zu jeder Verschiebung um eine vertikale Kristalleinheit gehört eine Translation um eine horizontale Einheit, was Millerschen Indizes von (110) entspricht. Diese mathematische Notation erlaubt es, die Stellung einer Ebene im Kristallgitter in Bezug auf ein Achsensystem zu beschreiben. Eine sehr viel weniger stabile Grenzfläche mit Indizes von (190) würde einen flacheren Winkel zur Hauptachse ergeben, wobei für neun vertikale Einheiten nur eine horizontale hinzukommt.

In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts stellte der herausragende russische Physiker Lev Landau die Theorie auf, dass sich bei einer Temperatur von null Grad Kelvin Grenzflächen mit prinzipiell allen denkbaren Millerschen Indizes ausbilden könnten. Diese theoretischen Möglichkeiten bezeichnete man später als "Teufelstreppen". Aber Physiker gingen bislang davon aus, dass nur die wenigsten Grenzflächen über dem absoluten Nullpunkt stabil sein würden. Nun haben Pawel Pieranski und seine Kollegen von der Université Paris-Sud in Orsay einen Kristall aus Seife und Wasser erzeugt, der sogar bei Raumtemperatur viele stabile Grenzflächen aufweist (Physical Review Letters vom 13. März 2000).

Bei geeigneter Temperatur und Feuchtigkeit sowie den richtigen Konzentrationen bilden die Tenside einen Komplex – ein sich gegenseitig durchdringendes Netz mit kubischer Symmetrie. Diese Art von flüssigem Kristall hat mechanische Eigenschaften, die sogar Flächen mit ausgesprochen flachen Winkeln stabilisieren können. Das Forscherteam aus Orsay platzierte einen ein Millimeter breiten Tropfen in einer Kammer mit kontrolliertem Feuchtigkeitsgehalt. Durch Erhöhen der Feuchtigkeit brachten sie die Flüssigkeit dazu, einen Kristall zu bilden, den sie mit einem Mikroskop untersuchten. Dabei konnten sie zumindest 60 verschiedene Grenzflächen identifizieren, darunter sogar einige mit so hohen Millerschen Indizes wie 11. Die Winkel der verschiedenen Flächen maßen die Wissenschaftler mit Hilfe von Laserinterferometrie, oder ermittelten sie aus der Geometrie des Kristalls.

"Diese Methodik ist ausgesprochen clever", sagt Sebastien Balibar von der École Normale Supérieure in Paris. "Ich finde es sehr eindrucksvoll, dass eine Mischung aus Seife und Wasser bei Raumtemperatur so viele Grenzflächen ausbildet, dass die Theorie überprüft werden kann."

Siehe auch

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.