Tagebuch: Galaxien folgen dunkler Materie
Für Kristin Riebe vom Astrophysikalischen Institut Potsdam besteht kein Zweifel daran, dass die Dunkle Materie existiert. Dabei ist dieses 1933 von Fritz Zwicky in die Astrophysik eingeführte Konzept unter Physikern noch immer umstritten, berichtete sie jüngst vor gut zwei Dutzend Kolleginnen und Kollegen. Der schweizerisch-amerikanische Astrophysiker Zwicky stellte bei der Beobachtung des Coma-Haufens fest, dass allein die Schwerkraft der dort sichtbaren Materie nicht in der Lage sein kann, diese Ansammlung von mehr als tausend Galaxien zusammenzuhalten. Tatsächlich hätte Zwicky erwartet, etwa 400 Mal mehr Materie zu finden.
Er löste das Problem, indem er davon ausging, dass diese Materie eben doch vorhanden sei, aber unsichtbar sein müsse: Die "dunkle Materie“ war geboren. Heute glauben wir zu wissen, dass sich die Dunkle-Materie-Teilchen fundamental von den Bausteinen der Sterne und unseres Planeten unterscheiden müssen. Mit den Vertretern aus dem sichtbaren Teilchenspektrum haben sie aber auf jeden Fall gemein, dass sie gravitativ wechselwirken und so die kosmologischen Strukturen beeinflussen.
Zweifel im Publikum
Im Saal sehen das manche zwar anders. Anhänger der so genannten MoND-Theorie (Modified Newtonian Dynamics) behaupten, die von Zwicky beobachtete und seither oft bestätigte Abweichung zwischen erwartbarer Schwerkraft und beobachteter Materie könnte auf ein modifiziertes Gravitationsgesetz zurückgehen. Für Kristin Riebe ist das eher unwahrscheinlich, denn das Dunkle-Materie-Modell funktioniert ihrer Meinung nach einfach zu gut. Das hat die junge Physikerin auch in ihrer Doktorarbeit über Zwerggalaxien gezeigt. Solche Galaxien mit höchstens einem Fünftel der Größe der Hauptgalaxie werden im Verlauf der kosmischen Strukturbildung oft gravitativ von größeren Galaxien eingefangen und dann als Satellitengalaxien bezeichnet.
Unsere Milchstraße etwa besitzt mehrere solcher Satelliten, darunter die Große Magellan'sche Wolke als die größte und wohl bekannteste. Zur Zeit werde allerdings darüber debattiert, ob unsere Galaxis die Magellan'schen Wolken wirklich schon eingefangen hat. "Falls nicht, wären sie noch keine echten Satelliten", so Riebe.
Mit dem ruhigen Schweben künstlicher Satelliten um unseren Globus ist das Dasein einer solchen Sternansammlung nicht zu vergleichen. An einer Satellitengalaxie greifen gewaltige Gezeitenkräfte an, die sie zunächst in die Länge ziehen und mit der Zeit gänzlich zerreißen. Nach und nach verliert sie auf ihrer Umlaufbahn ihre Materie, am Ende zeugt nur ein glitzerndes Band aus Sternen von ihrem Weg.
Da die Bahn der Satellitengalaxie präzediert, also von Umlauf zu Umlauf einen leicht veränderten Weg einschlägt, entstehen riesige Materiebänder, die sich um die jeweilige Zentralgalaxie winden. Beobachten lasse sich ein solcher Sternstrom etwa bei der Galaxie NGC 5907, so Riebe, allerdings sei noch nicht bekannt, ob sich die Zwerggalaxie, die ihn einst hinterließ, inzwischen aufgelöst hat oder derzeit schlicht hinter NGC 5907 liegt und deshalb nicht sichtbar ist.
Ein Großteil der Forschungsarbeit geschieht mit Computerhilfe. "Wenn wir in unseren Simulationen das Lambda-CDM-Modell verwenden", sagt Riebe, "entstehen Satellitengalaxien und ihre Gezeitenströme darin quasi auf natürliche Weise, also ohne weiteres Zutun." Das Cold Dark Matter Model geht davon aus, dass die Dunkle Materie aus nichtrelativistischen Teilchen besteht, denn nur solche langsamen Teilchen konnten in der kosmischen Frühzeit miteinander verklumpen und Strukturen bilden. Darüberhinaus enstünden die Strukturen des Universums im CDM-Modell auf hierarchische Weise: "Erst bilden sich kleine Klumpen, die dann zu immer größeren Objekten verschmelzen, bis sie die Größe von Galaxien und Galaxienhaufen erreichen“, so Riebe.
Dass dies auch im echten Universum so geschieht, "dafür sprechen genügend Gründe". Zum Beispiel folgt aus der hierarchischen Strukturentwicklung, dass die Galaxienhaufen erst spät entstanden sein müssen, also zu den jüngeren Strukturen im Universum gehören sollten. Und tatsächlich beobachtet man Galaxienhaufen vor allem im nahen Universum, also bei kleinerer Rotverschiebung, wärend die Astronomen in sehr großen Entfernungen eher auf einzelne Galaxien stoßen.
Eine Galaxie wird geboren
Doch wie beginnt überhaupt der Prozess der Galaxienentstehung? "Zunächst bilden sich annähernd sphärische so genannte dunkle Halos, große kugelförmige Wolken aus Dunkler Materie also. In ihnen sammelt sich nach und nach Gas an, aus dem sich Sterne bilden können – eine Galaxie wird geboren."
Bei Zwerggalaxien ist das genauso, in diesem Fall sei einfach der Halo kleiner. In ihrer Doktorarbeit hatte Riebe eine Reihe von dunklen Materiehalos simuliert und beobachtet, wie daraus Satellitengalaxien entstehen. "In den Computern haben wir uns regelrecht ein kleines Urknall-Labor geschaffen", sagt sie, "aber ehrlicherweise starten die Simulationen natürlich erst einige Millionen Jahre nach dem Big Bang." Das genügt aber. Nun sind die Physiker nicht mehr darauf angewiesen, nur ein einziges Universum zu beobachten, sondern können die Strukturbildung in beliebig vielen Universen simulieren. Ausgangspunkt ist stets eine fast gleichförmige Materieverteilung. "Und dann lässt man einfach die Gravitation wirken, sonst nichts", erklärt Riebe, "und tatsächlich entstehen Strukturen, wie wir sie im Universum sehen."
Neun Galaxien und Galaxienhaufen hat Riebe sich aus einer solchen großen Simulation herausgegriffen und ihre Satelliten untersucht. "Es entwickeln sich jeweils zwei Gezeitenarme, die in entgegengesetzte Richtung zeigen – genau wie bei der Erde, bei der durch die Anziehungskraft von Mond und Sonne zwei Flutberge entstehen, von denen einer in Richtung des Mondes, der andere in die entgegengesetzte Richtung weist." Allerdings können sich die Gezeitenarme im Lauf der Zeit gleich mehrfach um die Muttergalaxie winden und zudem schnell recht komplexe Formen annehmen, sodass es "sehr schwer werden kann, die beiden Arme voneinander zu unterscheiden", sagt Riebe.
Mittlerweile hat sie ihren Computer aber soweit, dass er die zwei Gezeitenarme einer Sateliltengalaxie zumindest in den weniger komplexen Fällen automatisch identifiziert und unterschiedlich einfärbt.
Die Dunkle Materie spielt bei all dem eine zentrale Rolle: "Sie schützt sozusagen den stellaren Kern der kleinen Galaxie vor sofortiger Zerstörung. Bevor die Sterne an die Reihe kommen, greifen die Gezeitenkräfte erst die äußeren Schichten aus dunkler Materie an." Aber auch bei der Simulation der Hauptgalaxien kommt Riebe nicht ohne Dunkle Materie aus. Erst wenn man sie und ihre Schwerkraft berücksichtigt, bilden sich überhaupt Gezeitenarme aus, die mit den Beobachtungen vergleichbar sind.
Vernachlässigbar: die Gravitation der sichtbaren Materie
Letztlich ist die Dunkle Materie sogar so übermächtig, dass sie "die sichtbare Materie in meinen Simulationen einfach vernachlässigt" habe, sagt Riebe. "Sie ist geradezu irrelevant." Weil sich das natürlich nicht einfach behaupten lässt, überprüfte sie schließlich auch, ob sich die sichtbare Materie nicht doch auf unerwartete Weise verhält, berücksichtigte in weiteren Simulationen also auch die Physik von Gas und Sternen. "Als ich dann sah, dass die Sterne genau den Bahnen der dunklen Materie folgten, hatte ich endlich den direkten Beleg dafür, dass meine Ergebnisse grundsätzlich auch auf sichtbare Materie angewendet werden können und dass ein Dunkle-Materie-Universum die Bahnen der Satellitengalaxien sehr gut beschreibt."
Die entsprechenden Simulationen haben allerdings noch Baustellencharakter. Denn natürlich kann auf solchen Skalen nicht die Entstehung von einzelnen Sternen in die Berechnungen einfließen: "Da muss man Kompromisse eingehen." Durch das virtuelle Universum wirbeln also "Gasteilchen", die riesige Gasvolumina repräsentieren.
Stellen sich günstige Umstände ein, also hohe Dichte und geringe Temperatur, wird aus solchen Gasteilchen von einem Rechenschritt auf den nächsten ein "Sternteilchen". Dieses entspricht nicht einem einzigen Stern, sondern einem ganzen Sternhaufen, der typischerweise eine Masse von 100 000 bis zu einer Million Sonnenmassen besitzt. Weiterhin wird berücksichtigt, dass die massereichen unter ihnen – ihre Zahl wird statistisch ermittelt – heiß und hell brennen und schnell wieder als Supernova verglühen.
Ganz falsch kann das CDM-Modell nicht sein...
Die dabei entstehenden Winde, das so genannte Supernova Feedback, gehen dann in die Simulationen für das Verhalten des Gases ein. Ganz perfekt ist das Verfahren aber noch nicht: Denn noch immer entstünden in Riebes Computer keine Scheibengalaxien, die in allen physikalischen Größen mit den beobachteten Exemplaren übereinstimmen.
Alles in allem aber ist Riebe hochzufrieden. Die sichtbare Materie folgt in ihren Modellen einfach der dunklen Materie – und am Ende sehen die Simulationen fast genau so aus wie das Universum, das wir mit unseren Teleskopen beobachten. Dann grinst sie in die Ecke der MoND-Anhänger hinüber: "Ganz falsch kann das mit der dunklen Materie dann ja eigentlich nicht sein."
Die Autorin Vera Spillner ist Physikerin und promoviert zurzeit an der Universität Bonn in Philosophie.
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