Tagebuch: Fraktale Weihnachtskugeln
Pünktlich zum Fest erfreut ein besonderes Sierpinski-Tetraeder die Welt: Seine Elemente bestehen aus glänzenden Metallkugeln.
Das neue Baby (hier oder am Ende des Textes geht es zur Bildergalerie) will nicht so recht in die Krippe unterm Weihnachtsbaum passen. Die Körperlänge ist ja mit knapp 50 Zentimetern noch im Rahmen; nur wiegt es reichlich 25 Kilogramm und ist beim besten Willen nicht als kuschelig zu bezeichnen. Aber es strahlt ganz wundervoll. Will sagen: Es reflektiert das einfallende Licht immer und immer wieder, wie die Kugeln am Weihnachtsbaum; denn es besteht gänzlich aus reflektierenden Metallkugeln.
Das wissenschaftlich Interessante an ihm ist jedoch etwas Anderes: Es handelt sich um eines der klassischen Fraktale, und zwar um ein Sierpinski-Tetraeder, genauer gesagt, eine Näherung an ein solches. Ihm kann man eine wesentliche Eigenschaft der Fraktale, die Selbstähnlichkeit, in besonders schöner Weise ansehen.
"So viele Hände hat man gar nicht, alle Kugeln festzuhalten"
Die Sache fängt ganz harmlos an: Man lege drei gleich große Kugeln dicht an dicht auf den Tisch und eine vierte obenauf. Die Anordnung ist eindeutig bestimmt, und wenn man die Kugeln aneinanderklebt, hält sie auch zusammen. Die Mittelpunkte der Kugeln bilden ein regelmäßiges Tetraeder (eine dreiseitige Pyramide aus lauter gleichseitigen Dreiecken). Jetzt ersetze man jede dieser vier Kugeln durch eine komplette Vierergruppe von Kugeln mit dem halben Durchmesser. Das macht insgesamt 16 kleine Kugeln, und die Anordnung hält ungeklebt nicht zusammen. So viele Hände hat man gar nicht, die kleinen Kugeln alle festzuhalten, denn zwischen ihnen tun sich große Hohlräume auf.
Nach demselben Verfahren macht man aus 16 Kugeln im nächsten Schritt 64, im übernächsten 256, und so weiter. Das mathematische Fraktal ist der "Grenzwert", also das, was herauskommt, wenn man die Anweisung "Ersetze jede Kugel durch eine tetraedrische Vierergruppe von Kugeln des halben Durchmessers" unendlich oft durchführt. Für das mathematische Fraktal kommt es übrigens auf die Gestalt der Einzelteile nicht an. Statt mit Kugeln geht es auch mit Tetraedern (die übliche Darstellung) oder mit Rhombendodekaedern (siehe das Sierpinski-Tetraeder von Dresden).
Sonderanfertigung auf Universitätskosten
In der Praxis muss man natürlich mit dem Ersetzen ( "aus eins mach vier") irgendwo aufhören, schon weil der Materialaufwand erheblich ist. In jede Kugel aus verchromtem Stahl (Durchmesser 3 Zentimeter) müssen vier Löcher an den richtigen Positionen gebohrt werden; in die Löcher werden Stahlstifte gesteckt und verklebt. Die Sonderanfertigung der Kugeln ist nicht billig; aber Willi Jäger, Mathematikprofessor an der Universität Heidelberg und Gründungsdirektor des zur Universität gehörenden Interdisziplinären Zentrums für Wissenschaftliches Rechnen (IWR), war bereit, für eine so augenfällige Demonstration eines bedeutenden mathematischen Prinzips Mittel der Universität einzusetzen. Da erschien die vierte Iterationsstufe mit 256 Kugeln eine geeignete Größenordnung.
Es ist zwar einfacher, ein (genähertes) Sierpinski-Tetraeder in der Computersimulation herzustellen als in der Realität. Aber die vielen Lichtreflexe sind gleichwohl eine Herausforderung für die numerische Visualisierung, die eines der Hauptarbeitsgebiete des IWR darstellt. Susanne Krömker vom IWR hat dazu eine instruktive Website verfasst.
Nachdem die Planung und die Fertigung der Kugeln lange Zeit in Anspruch genommen hatten, ging das Zusammenkleben überraschend schnell. Man folgt beim Bau dem mathematischen Iterationsverfahren, das heißt, man klebt zunächst 64 Vierergruppen, fügt die dann zu 16 Sechzehnergruppen zusammen, diese zu 4 Vierundsechzigern und die dann im letzten Schritt zum Gesamtkunstwerk. Das hat eine kleine engagierte Gruppe von Angehörigen des IWR zusammen mit mir an wenigen Abenden bewerkstelligt (siehe Bildergalerie am Ende dieses Artikels).
"Ich gebe zu, ich hatte noch mehr im Sinn"
Kann das Baby denn noch wachsen? Theoretisch jederzeit. Man muss nichts weiter tun, als weitere drei Exemplare zu bauen und mit dem bereits vorhandenen zusammenzufügen. Oder gleich noch fünfzehn Stück fertigen, was dann bereits eine repräsentative Dekoration (zwei Meter Kantenlänge) für die Eingangshalle eines wissenschaftlichen Instituts ergäbe.
Ich gebe zu, ich hatte noch eine Iterationsstufe mehr (die siebte) im Sinn. Ein Vier-Meter-Gesamtwerk, zusammengeklebt von 500 Freiwilligen an einem Sommerwochenende – das wäre ein spektakulärer Event im Jahr der Mathematik 2008 geworden. So hatte ich mir das gedacht, den Entwurf ausgearbeitet und die Planungen schon weit vorangetrieben. Aber bis ich die Vorversuche erfolgreich abgeschlossen hatte, war es schon Sommer 2008, und da war aus dem Etat des "Jahrs der Mathematik" kein Geld mehr übrig.
Also wird das Baby, das der Prototyp für das große Werk werden sollte, wohl nicht weiterwachsen. Aber die Idee, ein monumentales, wetterfestes Sierpinski-Tetraeder zu bauen, ist damit nicht gestorben. Ich denke schon über alternative Entwürfe nach.
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