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Wahlverfahren : Die Mathematik der doppelten Gerechtigkeit
Für ein Zuteilungsproblem, bei dem zwei konkurrierende Forderungen zugleich zu erfüllen sind, gibt es eine algorithmische Lösung. Sie ist so überzeugend, dass sie – unter anderem – für die Besetzung des Zürcher Gemeinderats praktiziert wird.
Die Mathematik der doppelten Gerechtigkeit
Was Parteien- und Regionalproporz angeht, können wir von unseren Schweizer Nachbarn noch eine ganze Menge lernen. Die allerdings haben bei einem deutschen und einem französischen Mathematiker gelernt.
In manchen Dingen sind die Schweizer, entgegen ihrem Ruf, erstaunlich schnell. Bereits neun Monate nach einer Wahl im März 2002 gab das Schweizerische Bundesgericht der Beschwerde eines Bürgers statt, der durch das damals geltende Wahlsystem das Prinzip der Gleichheit aller Wählerstimmen verletzt sah. Dagegen brütet das deutsche Bundesverfassungsgericht immer noch über den Beschwerden gegen die Bundestagswahl von 2002!
Der Beschwerdeführer hatte geltend gemacht, dass seine Stimme, die er für eine kleine Partei abgegeben hatte, von vornherein wertlos war, denn in dem Stadtbezirk von Zürich, in dem er wohnte, würden für diese Partei nie so viele Stimmen zusammenkommen, dass es für einen Sitz im Zürcher Stadtrat reichte, im gesamten Stadtgebiet aber sehr wohl. Wenn also nicht bezirksweise, sondern stadtübergreifend die Stimmen ausgezählt und die Sitze zugeteilt würden, würde auch seine Stimme zählen. Dass sie bislang unter den Tisch fiel, war also keineswegs unvermeidlich.
Das sahen auch die Bundesrichter so und trugen dem Gesetzgeber auf, Abhilfe zu schaffen. Aber die war nicht einfach; denn man legte Wert darauf, dass im Stadtrat nicht nur die Parteien proportional zu ihren Stimmenzahlen, sondern auch die Bezirke proportional zu ihrer Größe vertreten sein sollten.
Auf der Suche nach einer Lösung wurde Christian Schuhmacher, Leiter des zuständigen Gesetzgebungsdienstes, ausgerechnet in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift fündig: Michel Balinski von der École Polytechnique in Paris hatte in "Spektrum der Wissenschaft" (ursprünglich in deren französischer Schwesterzeitschrift "Pour la Science") eine theoretische Lösung des Problems präsentiert: Wenn die Mexikaner rechtzeitig einen Mathematiker gefragt hätten, dann hätten sie sich viel Kopfzerbrechen und viel Streit um die Zusammensetzung ihres Parlaments ersparen können. Sein Augsburger Kollege Friedrich Pukelsheim hatte Balinskis Verfahren weiter ausgearbeitet und in ein Computerprogramm umgesetzt. Und siehe da: Auf Schuhmachers Anfrage konnte Pukelsheim eine Lösung aus der Schublade ziehen, die nur noch den lokalen Gegebenheiten angepasst werden musste.
Der Vorschlag passierte im Eiltempo die zuständigen Gremien, wurde in ein Gesetz gegossen und kam alsbald zur Anwendung: Am 12. Februar 2006 wurde der Zürcher Stadtrat erstmals nach dem "Neuen Zürcher Zuteilungsverfahren" gewählt. Am 15. April dieses Jahres folgt der Kantonsrat des Kantons Zürich; weitere Kantone erwägen sich anzuschließen.
Dass Mathematik auf dermaßen elegante Weise Frieden stiften kann, ist ein – leider – ziemlich seltenes Vergnügen. Wie kam es, dass Politiker entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten eine wissenschaftliche Methode so bereitwillig übernahmen? Offensichtlich hat sie die Tatsache überzeugt, dass das Verfahren jeder Anfechtung standhält. Dass eine Partei einer anderen einen Sitz streitig macht mit der Begründung, auf diese Weise komme man dem Ideal der doppelt-proportionalen Repräsentation näher, kann nachweislich nicht vorkommen. Auch umfangreichere Ringtäusche zwischen Parteien und Bezirken bringen in dieser Hinsicht nichts ein.
So ist zumindest auf diesem Feld die Vision des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz erfüllt worden: Mit zunehmendem Fortschritt der Mathematik – zu dem Leibniz selbst Wesentliches beigetragen hatte – würde die gerechte Lösung eines Streits nicht mehr durch das Ermessen eines Richters gefunden, sondern schlicht ausgerechnet werden.
Was Parteien- und Regionalproporz angeht, können wir von unseren Schweizer Nachbarn noch eine ganze Menge lernen. Die allerdings haben bei einem deutschen und einem französischen Mathematiker gelernt.
In manchen Dingen sind die Schweizer, entgegen ihrem Ruf, erstaunlich schnell. Bereits neun Monate nach einer Wahl im März 2002 gab das Schweizerische Bundesgericht der Beschwerde eines Bürgers statt, der durch das damals geltende Wahlsystem das Prinzip der Gleichheit aller Wählerstimmen verletzt sah. Dagegen brütet das deutsche Bundesverfassungsgericht immer noch über den Beschwerden gegen die Bundestagswahl von 2002!
Der Beschwerdeführer hatte geltend gemacht, dass seine Stimme, die er für eine kleine Partei abgegeben hatte, von vornherein wertlos war, denn in dem Stadtbezirk von Zürich, in dem er wohnte, würden für diese Partei nie so viele Stimmen zusammenkommen, dass es für einen Sitz im Zürcher Stadtrat reichte, im gesamten Stadtgebiet aber sehr wohl. Wenn also nicht bezirksweise, sondern stadtübergreifend die Stimmen ausgezählt und die Sitze zugeteilt würden, würde auch seine Stimme zählen. Dass sie bislang unter den Tisch fiel, war also keineswegs unvermeidlich.
Das sahen auch die Bundesrichter so und trugen dem Gesetzgeber auf, Abhilfe zu schaffen. Aber die war nicht einfach; denn man legte Wert darauf, dass im Stadtrat nicht nur die Parteien proportional zu ihren Stimmenzahlen, sondern auch die Bezirke proportional zu ihrer Größe vertreten sein sollten.
Auf der Suche nach einer Lösung wurde Christian Schuhmacher, Leiter des zuständigen Gesetzgebungsdienstes, ausgerechnet in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift fündig: Michel Balinski von der École Polytechnique in Paris hatte in "Spektrum der Wissenschaft" (ursprünglich in deren französischer Schwesterzeitschrift "Pour la Science") eine theoretische Lösung des Problems präsentiert: Wenn die Mexikaner rechtzeitig einen Mathematiker gefragt hätten, dann hätten sie sich viel Kopfzerbrechen und viel Streit um die Zusammensetzung ihres Parlaments ersparen können. Sein Augsburger Kollege Friedrich Pukelsheim hatte Balinskis Verfahren weiter ausgearbeitet und in ein Computerprogramm umgesetzt. Und siehe da: Auf Schuhmachers Anfrage konnte Pukelsheim eine Lösung aus der Schublade ziehen, die nur noch den lokalen Gegebenheiten angepasst werden musste.
Der Vorschlag passierte im Eiltempo die zuständigen Gremien, wurde in ein Gesetz gegossen und kam alsbald zur Anwendung: Am 12. Februar 2006 wurde der Zürcher Stadtrat erstmals nach dem "Neuen Zürcher Zuteilungsverfahren" gewählt. Am 15. April dieses Jahres folgt der Kantonsrat des Kantons Zürich; weitere Kantone erwägen sich anzuschließen.
Dass Mathematik auf dermaßen elegante Weise Frieden stiften kann, ist ein – leider – ziemlich seltenes Vergnügen. Wie kam es, dass Politiker entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten eine wissenschaftliche Methode so bereitwillig übernahmen? Offensichtlich hat sie die Tatsache überzeugt, dass das Verfahren jeder Anfechtung standhält. Dass eine Partei einer anderen einen Sitz streitig macht mit der Begründung, auf diese Weise komme man dem Ideal der doppelt-proportionalen Repräsentation näher, kann nachweislich nicht vorkommen. Auch umfangreichere Ringtäusche zwischen Parteien und Bezirken bringen in dieser Hinsicht nichts ein.
So ist zumindest auf diesem Feld die Vision des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz erfüllt worden: Mit zunehmendem Fortschritt der Mathematik – zu dem Leibniz selbst Wesentliches beigetragen hatte – würde die gerechte Lösung eines Streits nicht mehr durch das Ermessen eines Richters gefunden, sondern schlicht ausgerechnet werden.
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