Emotionen: Fühlt man sich nach dem Weinen besser?
»Ist Weinen hilfreich?« – vor einigen Jahren stellte mir (Michael Barthelmäs) ein Patient diese Frage in einer Therapiesitzung. Er war etwas unbeholfen im Umgang mit Gefühlen und suchte Rat nach der Trennung von seiner Frau. Obwohl er sich traurig fühlte, fiel es ihm schwer, seinen Tränen freien Lauf zu lassen.
Emotionale Tränen treten bei starken Gefühlen auf – besonders wenn psychologische Grundbedürfnisse betroffen sind, etwa die Sehnsucht nach engen Beziehungen. Liebeskummer ist deshalb ein typischer Auslöser. Neben Nähe wünscht sich der Mensch außerdem Autonomie, also Dinge selbst beeinflussen zu können, sowie Kompetenz, das heißt Herausforderungen erfolgreich zu meistern. Passend dazu fanden wir in einer 2022 veröffentlichten Studie Einsamkeit, Machtlosigkeit und Überforderung als zentrale Anlässe, warum Menschen zu weinen beginnen. Tränen fließen aber mitunter auch in Momenten, in denen ein Grundbedürfnis intensiv befriedigt ist, zum Beispiel auf der eigenen Hochzeit.
Viele meinen, Weinen sei kathartisch: Dabei entlade sich emotionale Anspannung, und hinterher fühle man sich befreit. Die Forschung zeigt wie so oft: Es ist komplizierter. Ein Team um Lauren Bylsma, damals an der University of South Florida in Tampa, ließ knapp 100 Frauen darüber Buch führen, wann sie weinten und wie sie sich davor und danach fühlten. Insgesamt kamen den Probandinnen mehr als 1000 Mal die Tränen. Aber nur in einem Drittel der Fälle hatte sich die Stimmung nach dem Weinen verbessert. 2008 hatte Bylsma bereits Ähnliches an mehr als 5000 Studentinnen und Studenten aus 35 Ländern festgestellt: Während 40 Prozent von keiner Veränderung der Stimmung berichteten, gaben 10 Prozent sogar eine Verschlechterung an. In letzteren Fällen ging das Weinen oft mit Scham oder Verlegenheit einher.
Sollten Versuchspersonen jedoch mit etwas zeitlichem Abstand auf die letzte Situation blicken, in der sie geweint hatten, gab immerhin die Hälfte an, sie seien danach besser gelaunt gewesen. Womöglich wird die Wirkung des Weinens in der Rückschau etwas verklärt. Hinzu kommt: Es dauert offenbar, bis der Effekt eintritt. In einer 2015 veröffentlichten Laborstudie sollten sich Versuchspersonen, die teils nah am Wasser gebaut waren, tragische Filmszenen ansehen. Jene, die weinen mussten, fühlten sich direkt nach dem Film schlechter als zuvor. Wer nicht weinte, war hinterher ähnlich gestimmt wie vor dem Film. Allerdings: Als die Forscher die Stimmung 90 Minuten später noch einmal erhoben, ging es jenen, die geweint hatten, besser als vor dem Film und auch besser als den stoischen Teilnehmern. Die Laune verbessert sich demnach zwar nicht sofort, aber innerhalb von anderthalb Stunden nach dem Weinen.
Inwieweit Weinen über einen biologischen Weg wirkt, etwa über die Reduktion von Stresshormonen, ist bislang nicht geklärt. Ob Tränen die Stimmung aufhellen, scheint von verschiedenen Faktoren abzuhängen: Lässt man sich dabei Zeit und weint im Beisein eines Vertrauten, stehen die Chancen dafür am besten. Weinen erfüllt nämlich auch eine soziale Funktion. Das zeigen Experimente, bei denen Versuchspersonen Abbildungen von Gesichtern mit oder ohne Tränen sahen. Auf Tränen reagierten die Teilnehmenden mit gesteigerter Anteilnahme und der Absicht zu helfen. Weinen ist demnach ein wichtiges Signal im kooperativen Miteinander.
Ob es zwingend notwendig ist, um gut mit emotional fordernden Situationen umzugehen, ist jedoch sehr schwer zu sagen. Zumindest gibt es Hinweise darauf, dass sich Leute, die nie weinen, im Schnitt isolierter und etwas unzufriedener fühlen als diejenigen, die es gelegentlich tun. Am häufigsten weinen ängstliche Menschen und solche, die sehr unzufrieden mit ihrem Leben sind. Diese Befunde beruhen allerdings nur auf Korrelationen. Sicher kann man daher nicht sagen, ob eine niedrige Lebenszufriedenheit zu mehr Weinen führt, ob häufiges Weinen unzufrieden macht oder ob andere Faktoren wie Schicksalsschläge dahinterstecken.
Viele Fragen rund ums Weinen sind also noch unklar. Wir untersuchen aktuell, wie stark die bisherige Forschung durch die Abfragemethode beeinflusst ist und wie gut sich die oben beschriebenen Befunde auf andere Situationen und Bevölkerungsgruppen übertragen lassen. Der frisch getrennte Patient jedenfalls vergoss im Lauf der Therapiesitzungen doch noch etliche Tränen. Ihm schien es zu helfen.
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