Artensterben und Klimakrise: Das Ende von »Ja, aber«
Das erfolgreiche Volksbegehren für Artenvielfalt in Bayern hätte für Union und SPD eine Warnung sein können: 1,8 Millionen Menschen im konservativsten Bundesland trotzten der Februarkälte, um für den Schutz der Natur zu unterschreiben. Doch die Botschaft blieb außerhalb von Bayern ungehört, und die Europawahl lieferte die Quittung.
Wer die Umweltpolitik schon etwas länger beobachtet, kann sich in diesen Nach-Wahl-Tagen nur verdutzt die Augen reiben: nicht so sehr wegen des prozentualen Erfolgs der Grünen, sondern wegen der nun offenkundigen Rückschritte, die vor allem CDU und SPD bei den Kernthemen Klima und Umwelt in letzter Zeit gemacht haben.
Die Regierungsparteien waren schon einmal sehr viel weiter
Der von der Bevölkerung honorierte inhaltliche Vorsprung der Grünen beim Klima ist nämlich in Wahrheit ein Stillstand. Die Grünen haben ihre Position zur Klimapolitik gar nicht merklich verändert und schon gar nicht radikalisiert. Vielmehr haben Union und SPD während ihrer Koalitionszeit schrittweise eine Art ökologischen Gedächtnisverlust erlitten, einhergehend mit haarsträubenden Rückschritten in der politischen Praxis.
Ich habe das als journalistischer Beobachter aus nächster Nähe erlebt: Bei den UN-Klimakonferenzen 1995 in Berlin und 1997 in Kyoto, als Angela Merkel erstmals auf dem Parkett der Weltpolitik reüssierte und als engagierte Bundesumweltministerin die Grundlagen dafür legte, zehn Jahre später weltweit als »Klimakanzlerin« gefeiert zu werden.
Dann beim Klimagipfel 2007 auf der indonesischen Insel Bali, als der damalige Bundesumweltminister Sigmar Gabriel an ökologischem Engagement kaum zu überbieten war, grüner als die Grünen agierte nach dem krachend gescheiterten Weltklimagipfel.
Verkehrspolitik wird in Deutschland durch die Windschutzscheibe von SUVs gemacht
Und schließlich 2009 in Kopenhagen, als ein sichtlich abgekämpfter Bundesumweltminister Norbert Röttgen von der CDU frustriert und erbost in seinem Ministerbüro saß und sagte: »Das CO2-Thema ist fundamental, es greift tief in alle Wirtschaftsprozesse ein … Unser Kapital sind grüne Technologien und politische Glaubwürdigkeit. Damit können wir politisch und wirtschaftlich Einfluss nehmen … Alle müssen mitmachen – aber die Bürger können nicht die politische Verantwortung und die technologische Revolution ersetzen, deren es bedarf.«
Und heute?
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich nie wirklich vom Trauma der Kopenhagen-Konferenz erholt, wo ihr damaliger Klima-Idealismus zwischen den Machtinteressen der USA und Chinas zermalmt wurde. Sie hat politisch schon lange kein echtes Interesse am Klimathema mehr gezeigt, hat das Bundesumweltministerium, das sie einst führte, zu einem Rumpfministerium ohne echte Macht zusammengestutzt. Ihre Umweltministerin, Svenja Schulze, ist deshalb eine Königin ohne Land, die Vorlagen macht, damit andere sie sabotieren.
Merkel hat die wahren Schlüsselministerien der Umweltpolitik mit Menschen besetzt, für die Klima und Naturschutz keine Frage der Lebensgrundlagen sind, sondern Luxusbeschäftigungen, die man sich als Hobby leisten kann, wenn der Motor der Umweltzerstörung ausreichend laut rattert. Verkehrspolitik wird in Deutschland durch die Windschutzscheibe von SUVs gemacht, für die Agrarpolitik haben Kiebitz und Braunkehlchen höchstens den Status von Geduldeten. In der Energiepolitik folgte auf eine Zeit des Aufbruchs der rasende Stillstand.
Das kann nicht gut gehen, und Merkel, die spätestens seit ihrer Klimakanzlerperiode 2007/2008 im Vollbesitz wissenschaftlicher Kenntnisse um Tragweite, Dynamik und Dramatik der Klimakrise ist, weiß es allzu genau. Ja, es gab mit Griechenland, Massenmigration, AfD, Ukraine, Brexit und Trump immer neue aktuelle Großherausforderungen – aber auf Dauer ist das keine Ausrede.
Auch zur zweiten langsamen Existenzkrise – der Krise der Artenvielfalt, die Wissenschaftler erst Anfang Mai in einer alarmierenden Studie dokumentiert haben – fällt der Kanzlerin nicht wirklich etwas ein. Sie räsoniert manchmal, was sie für die Umwelt gerne tun würde, wenn dieses oder jenes andere Thema nicht wäre. Aber so ist es auch im Alltag, wenn man sagt, »keine Zeit« zu haben. Es bedeutet oft: Das ist mir nicht wichtig genug.
Die Union setzte in diesem Europa-Wahlkampf auf ein 1980er-Jahre-Argument
Traurig ist es auch um die SPD bestellt. Die Sozialdemokraten hatten in den Kohlerevieren in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen Jahrzehnte Zeit, den viel beschworenen »Strukturwandel« hinzubekommen, und haben dabei versagt. Um das zu kaschieren, klammern sie sich nun umso verzweifelter an die letzten Braunkohle-Arbeitsplätze, so als bildeten diese das Allerheiligste des deutschen Wohlstands.
Eingeleitet hat diesen Rollback der Sozialdemokrat, der einst auf UN-Klimagipfeln von aller Welt für sein Klimaengagement bewundert wurde. Kaum vom Umwelt- ins Wirtschaftsressort gewechselt, fing Sigmar Gabriel an, die Bewunderung der Kohlelobby wichtiger zu finden. Während einem anderen früheren Bundesumweltminister, Klaus Töpfer, der Schock über das, was er im Amt lernen konnte, so tief in die Knochen fuhr, dass daraus eine lebenslange Leidenschaft für den Schutz der Biosphäre entstand, war Gabriels Engagement ein Strohfeuer.
Andrea Nahles, bis Anfang Juni Partei- und Fraktionsvorsitzende, kopierte den Kurs Gabriels, opportun auf Kohlekumpel und Abgrenzung zu Umweltthemen zu setzen. In einem Fragebogen sollte sie angeben, welches Teil eines Fahrrads sie wäre, wenn sie sich das aussuchen könnte. Ihre Antwort: »das Auto, das danebensteht«.
Am Abend der Europawahl saß Gabriel bei »Anne Will« im Studio und zählte auf, was er alles wichtiger findet als Klimaschutz. Er versuchte, die Interessen von Krankenschwestern und Handwerkern als den vermeintlichen »kleinen Leuten« gegen die angebliche grüne Bourgeoisie auszuspielen – so als würden Krankenschwestern nicht mitbekommen, wie ältere Menschen bei Hitzewellen leiden und Handwerker nicht davon profitieren, Solaranlagen und effiziente Heizungen zu installieren. Sigmar Gabriel war im Vergleich zum Bundesumweltminister desselben Namens am Wahlsonntag nicht wiederzuerkennen. Er wirkte, als wäre er von einem Fluch des Vergessens befallen – ein Trauerspiel.
Schlimmes Vergessen
Noch schlimmer ist das Vergessen früherer Erkenntnisse nur bei jenen Christdemokraten, die jetzt angeblich die Zukunft der Partei verkörpern. Die CDU hat heute in ihrem Führungspersonal niemanden mit ökologischem Gespür oder ökologischer Glaubwürdigkeit, nicht einmal einen Umweltpolitiker mit der analytischen Schärfe eines Norbert Röttgen. Frische inhaltliche Impulse für das Überlebensthema Umwelt kommen in der CDU/CSU von Senioren wie Klaus Töpfer (80) und Ruprecht Polenz (73). Die Junge Union giftet lieber gegen die Jugendlichen von Fridays for Future.
Das intellektuelle Versagen der Union hat einen Namen: »Ja, aber«. Ja, wir brauchen Umweltschutz, aber das geht nur mit einer starken Wirtschaft. Diese Formel hat sich in den vergangenen Wochen und Monaten als Standardantwort auf Fridays for Future durchgesetzt. Immer wenn die Schülerinnen und Schüler Taten verlangten, wie sie die Klimaforschung und der UN-Vertrag von Paris vorzeichnen, bekamen sie gesagt, dass das nur gehe, wenn die Wirtschaft brumme.
Die Leute, die das sagten – ob der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet, der neue Generalsekretär Paul Ziemiak oder die neue Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer –, merkten nicht einmal, dass sie mit ihrem »Ja, aber« auf Menschen mit Langzeitgedächtnis wirken mussten, als hätte man sie Ende der 1980er Jahre eingefroren und gerade erst wieder aufgetaut.
Denn spätestens seit dem »Erdgipfel« von Rio im Jahr 1992 ist in großen UN-Lettern gemeißelt, dass es kein »Ja, aber« gibt. Vor dem Gipfel gab es dieselben »Ja, aber«-Diskussionen wie heute. Lesen die Jugendlichen von Fridays for Future sie jetzt mal nach, wird ihr Zorn noch größer ausfallen: Es wurde alles schon mal gesagt und gedacht, und es gab diese Erkenntnis schon einmal im globalen Maßstab. Umwelt und Wirtschaft sind keine Gegensätze, und erfolgreiche Bruttosozialproduktsteigerung ist keine Voraussetzung für ökologisches Handeln.
Das Prinzip Nachhaltigkeit
Es verhält sich vielmehr genau umgekehrt: Nur erfolgreicher Natur-, Umwelt- und Klimaschutz schafft die Voraussetzungen für dauerhaft erfolgreiches Wirtschaften. Zu diesem Prinzip (man nennt es Nachhaltigkeit, aber das ist ein anderes Thema) hat sich damals auch Deutschland bekannt.
Über viele Jahre hinweg – Jahre, in denen Greta Thunberg und Luisa Neubauer gerade mal Kleinkinder waren – war dieses Prinzip in weiten Kreisen sogar zumindest konzeptionell anerkannt. In diesen Jahren war es ein Zeichen des Fortschritts, dass Umwelt und Klima eben kein exklusives Thema der Grünen mehr waren, sondern zur Normalität auch in den Volksparteien gehörten. »Aus irgendeinem Grund«, um ein geflügeltes Wort von Armin Laschet zu benutzen, konnten die Erkenntnisse des Erdgipfels von 1992 aber in Vergessenheit geraten.
Während die AfD mit ihrem aberwitzigen Meme von der »Klimareligion« hausieren ging, setzte die Union in diesem Europa-Wahlkampf auf das 1980er-Jahre-Argument, Wirtschaft gegen Umwelt auszuspielen. Dieses Spiel hat sie nach Punkten gegen die Grünen verloren.
Weil Union und SPD sich vom zwischenzeitlichen Konsens verabschiedeten, haben die Sorgen der Bevölkerung um Umwelt und Klima nun eine neue Volkspartei geboren. Die Grünen wurden mit Abstand stärkste Partei bei den Jungwählern – aber mehr noch, sie wurden stärkste Partei bei den Wählern unter 60 Jahren. Ob das eine Momentaufnahme oder ein Trend ist, wird sich noch zeigen. Die Nervosität bei den Regierungsparteien spiegelt aber wider, was für möglich gehalten wird.
Ein ähnlicher ökologischer Gedächtnisverlust, wie er in den beiden großen Parteien in Deutschland aufgetreten ist, hat auch andere Länder befallen – etwa Brasilien, Australien und die USA. Die Folgen sind brutal.
Ein Baby namens Rezo
Genau zwei Monate nach der feierlichen Abschlussdeklaration des Erdgipfels von Rio kam ein Baby zu Welt, das die Öffentlichkeit heute als Rezo kennt. Bei seiner Geburt atmete Rezo Luft mit einer Konzentration von 356 ppm CO2 ein. Bis 2016 war der Kohlendioxidgehalt schon auf 400 ppm gestiegen. 2019 kletterte er auf 415 ppm, einen Wert, den die Welt seit hunderttausenden Jahren nicht erlebt hat. Auch wenn der deutsche Anteil an den weltweiten Emissionen von Treibhausgasen klein ist, ist Deutschland daran mitschuldig. Das Land war einmal Triebkraft der ökologischen Modernisierung. Heute hängt es hintendran und fehlt als Vorbild für Länder, die mehr Wagemut als wir benötigen, das umweltpolitisch Richtige zu tun.
Es sind die Jungen, die heute den Erwachsenen beibringen müssen, auf Spielchen zu verzichten
In Rezos Lebenszeit ist noch etwas Zweites passiert. Das Versprechen des Erdgipfels, den Niedergang der biologischen Vielfalt zu stoppen, wurde so knallhart und so rücksichtslos gebrochen, dass es einer einseitigen Aufkündigung des Generationenvertrags gleichkommt. Anfang Mai zogen die Wissenschaftler des Internationalen Biodiversitätsrates IPBES Bilanz: Demnach sind von geschätzten acht Millionen Arten, die es auf der Erde gibt, eine Million in diesem Jahrhundert vom Verschwinden bedroht – ebenso wie 99 Prozent der Riffe, ein erheblicher Teil der Regenwälder und auch die Überbleibsel jener Feuchtgebiete, die auf dem Weg in eine »Heißzeit« überlebenswichtig sind.
Die meisten Erwachsenen von heute haben sich schlichtweg nicht darum geschert, dass ihr Fleischkonsum und ihre Palmölprodukte den Regenwald vernichten, dass ihr Fischkonsum die Meere leert und dass ihre Urlaubsreisen ein Gas freisetzen, das nicht nur die Luft erhitzt, sondern auch Korallenriffe zersetzt. Man mag sich über Rezos Populismus echauffieren, aber darin kommt die Enttäuschung einer Generation zum Ausdruck.
Als »1 Rezo« mag man die neuartige Zeiteinheit definieren, wie lange es dauert, bis ein zorniger junger Mann eine ganze Volkspartei kommunikativ an die Wand spielen kann – mit Zahlen zur Klimakrise, die Faktenchecks wie den der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim weitgehend standhalten. Alternativ könnte man als »1 Rezo« die Zeiteinheit von 26 Jahren beschreiben, in der die Erwachsenen alle Umweltschwüre gebrochen und sich verhalten haben, als gäbe es jenes Morgen nicht, das die jungen Menschen von heute bewohnen sollen.
Eine selten bescheidene Jugendbewegung
Selten zuvor war eine Jugendbewegung so bescheiden und zugleich so realistisch wie Fridays for Future. Während die 1968er für den Marsch in ein sozialistisches Paradies kämpften, lautet die Bitte der Klimademonstranten von heute ganz schlicht: Bitte hört auf die Wissenschaft, bitte ermöglicht uns dieselben Klimabedingungen, wie ihr sie hattet, bitte richtet die Welt, in der wir als Erwachsene, Eltern und Großeltern leben werden, nicht mit Wirbelstürmen, Hitzewellen und Überschwemmungen zu Grunde. Das ist nicht viel verlangt.
Man könnte es auch einfach Anstand in planetarem Maßstab nennen. Zu diesem Anstand gehört, bestimmte Dinge, die heute als merkwürdig selbstverständlich gelten, zu unterlassen.
Der Umstand, dass es den Regierungsparteien als Zugeständnis, Zumutung oder gar Opfer erscheint, Mobilität nicht mit überdimensionierten Zivilpanzern zu organisieren, Fleisch nicht als industrielle Billigware zu produzieren und aus den Landschaften nicht auch noch die letzten Reste zirpenden und zwitschernden Lebens zu beseitigen, spiegelt wider, wie fragil etwas ist, was für selbstverständlich gehalten, was zum Gemeinplatz geworden war: »Umwelt-Bewusstsein«.
Jeder Satz, der in den vergangenen Monaten gegen Fridays for Future in Stellung gebracht wurde, offenbarte, dass es an entscheidender Stelle an einer physischen, sinnlichen, lebendigen Beziehung zu den Lebenskräften und Naturgewalten der Erde schlichtweg fehlt. Das »Ja, aber« offenbarte ein Bildungsdefizit von erdgeschichtlichem Ausmaß, dem offenbar auch regelmäßiger Schulbesuch nicht vorgebeugt hat.
Wer nach 30 Jahren dramatisch steigender CO2-Konzentrationen und dramatisch schwindender Biodiversität immer noch sagt, man dürfe nicht vorschnell handeln, dem fehlt es ganz offenkundig am Sensorium für das, um was es geht. Es mangelt an der Vorstellungskraft, was passiert, wenn die so gerne als schwach und verletzlich beschriebene Natur durch unser Zutun zu einem aggressiven Monster geworden ist, das sich gegen uns wendet. Zu einem Monster, das uns Ernten nimmt, Millionen Menschen in Richtung Norden in die Flucht schlägt, das den Ozean so aufpeitscht, dass er den erwachsenen Gretas, Luisas und Rezos gigantische Mengen zusätzlicher Treibhausgase ins Gesicht rülpst.
Kein Thema wie jedes andere
Zum Bildungsdefizit von Laschet, Gabriel, Nahles, Ziemiak und Kramp-Karrenbauer gehört es auch, dass sie sich die zeitlichen Dimensionen unseres Handelns nicht vorstellen können. Sie denken offenbar, dass es sich bei Klima und Biodiversität verhält wie bei allen anderen Politikthemen: Wenn man irgendwann auf einem Parteitag beschließt, dass es anders sein soll, dann ist es wieder anders. Wenn man entscheidet, dass im Schachspiel namens Politik die Wörtchen Klima und Natur nicht mehr auf den Bauern stehen, die man gerne opfert, sondern auf einem Turm und vielleicht sogar einer Dame, weil das Publikum das fordert, dann läuft das Spiel wieder.
Für Gabriel war das Klima-Engagement vielleicht nie ein Kampf um die Sache, sondern nur ein Mittel zum Zweck, ein Weg, den Zeitgeist spielerisch in bare politische Münze zu verwandeln. Ähnliches trifft auf Teile des politischen Journalismus zu: Das Interesse gilt nicht der Sache selbst, sondern den Machtkonstellationen und -transaktionen, die sie generiert. Dass die jungen Menschen von Fridays for Future das erkannt haben und von Politikern wie Journalisten fordern, sich in der Sache zu bilden und sich um die Sache zu kümmern, zeugt von Realitätssinn und Pragmatismus zugleich.
Es sind die Jungen, die heute den Erwachsenen beibringen müssen, auf Spielchen zu verzichten. Denn was gerade läuft, ist kein Spiel, kein politischer Transaktionsprozess. Es handelt sich, um mit einer Gruppe von Wissenschaftlern zu sprechen, die in diesen Tagen in Berlin zu Beratungen über eine Umbenennung unserer Erdepoche von Holozän in Anthropozän zusammengekommen ist, um einen erdgeschichtlichen Umbruch. Wir sind dabei, ein eng begrenztes Budget an Kohlendioxid auszunutzen, innerhalb dessen uns das Klimasystem der Erde nicht um die Ohren fliegt. Jede Tonne zusätzlich, die wir heute freisetzen, schmälert die Freiheit der Jugendlichen von heute, es später zu tun.
Dieses Budget zu sprengen, passiert um den Preis, die geophysikalischen Rahmenbedingungen des Lebens auf der Erde in einen neuen Grundzustand zu versetzen, aus dem die Erde vielleicht für zehntausende Jahre nicht wieder herauskommt. Wir sind zudem dabei, Arten 10-, 50-, 100-mal schneller aussterben zu lassen, als es natürlicherweise passieren würde. Und beides geschieht auf einer Erde, auf der schon bald acht, neun, zehn Milliarden Menschen friedlich zusammenleben sollen.
Die wahren Konservativen
Wer Politik unbedingt als Spiel begreifen will, möge sich mit folgenden Spielregeln vertraut machen: Für die nächsten Züge haben wir in erdgeschichtlichem Maßstab nur Sekunden Zeit, können sie aber für tausende und zehntausende Jahre nicht rückgängig machen, im Fall des Artenaussterbens nie.
Die wahren Konservativen von heute sind deshalb nicht die, denen in einer radikal globalisierten, radikal technologisierten und radikal ökologisch gestressten Welt plötzlich wieder das Wort Heimat einfällt und wofür es vor Jahrzehnten gestanden haben mag. Die wahren Konservativen sind Wissenschaftler wie der Klimageologe Gerald Haug, Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz.
Haug bohrt auf dem Meeresgrund nach den Spuren früherer Klimaveränderungen – und destilliert daraus beunruhigende Erkenntnisse. Der Forscher hält es für möglich, dass unsere Handlungen von heute die Erde innerhalb der Lebenszeit der jugendlichen Protestierer »bis zur Unkenntlichkeit« verändern – und er hält es für dringend geboten, das jetzt sofort zu verhindern.
Unkenntlichkeit, das ist kein Sprachspiel, sondern eine Projektion: Jemand, den man in diese Zukunft beamen könnte, wäre nicht sicher, ob er vielleicht auf einem anderen Planeten als der Erde gelandet ist. Das sind die Dimensionen, um die es geht.
Konservativ (CDU) oder sozial (SPD) zu sein heißt heute, diese Risiken in jede Handlung, jede Strategie, jedes Gesetz einfließen zu lassen und Gewohnheiten privat und politisch aufzugeben, die alltäglich erscheinen mögen, aber in Wahrheit in erdgeschichtlichem Ausmaß umstürzlerisch und chaosstiftend sind. Was Klimaforscher und Biodiversitätswissenschaftler uns sagen und raten, ist die zugleich konservativste und sozialste Botschaft unserer Zeit.
Wer politisch relevant sein und Volkspartei bleiben oder wieder werden will, sollte die Einsichten dieser Wissenschaftler und ihre Umformulierungen auf den Freitagsplakaten auf sich wirken lassen – und sehr schnell sehr viele konkrete Antworten anbieten können.
Nur eine nicht: Ja, aber.
Der Artikel erschien ursprünglich im Online-Magazin »Die Flugbegleiter« auf der Plattform RiffReporter. Die in dem Kommentar geäußerten Ansichten stellen nicht notwendigerweise die Haltung und Meinung der Redaktion von »Spektrum.de« dar.
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