Freistetters Formelwelt: Die Krux mit der Zonenzeit
Ganz in der Nähe des östlichsten Punkts von Deutschland bei der Ortschaft Deschka beginnt die Linie an einer unscheinbaren Wiese am Ufer der Neiße. Sie verläuft durch Felder, Wälder und kleine Ansiedlungen bis zu einem Fabrikgelände in Görlitz und endet bei der nach Papst Johannes Paul II. benannten Stadtbrücke.
Diese Linie ist jener Abschnitt des 15. Längengrads, der durch Deutschland verläuft. Nur hier, in der Nähe von Görlitz an der polnischen Grenze, reicht das Bundesgebiet über den Längengrad hinaus nach Osten. Der ganze Rest Deutschlands liegt westlich davon. Was diese fiktive Linie auszeichnet, kann man an dieser Formel ablesen:
Sie beschreibt die Zeitverschiebung zwischen der in Deutschland gültigen Mitteleuropäischen Zeit (MEZ) und der mittleren Sonnenzeit auf dem Längengrad λ. Alle Uhren in Deutschland zeigen die gleiche Zeit an, egal ob sie sich in Nordrhein-Westfalen an der Grenze zu Belgien befinden oder in Sachsen an der Grenze zu Polen. Das liegt daran, dass wir eine so genannte »Zonenzeit« benutzen, denn in der Realität ändert sich der Zeitpunkt, an dem die Sonne ihren Tageshöchststand erreicht (das, was wir »Mittag« nennen), je nachdem wie weit im Osten beziehungsweise im Westen man sich befindet.
Die Erde dreht sich von West nach Ost. Wenn wir in Deutschland die Sonne aufgehen sehen, dann ist sie weiter östlich schon lange am Himmel zu sehen, im Westen hingegen wird es noch dauern, bis sie über dem Horizont auftaucht. Früher war es nicht tragisch, wenn Städte die für sie gültige Uhrzeit jeweils individuell nach dem lokalen Sonnenstand bestimmten. Aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts war das durch das Aufkommen des Eisenbahnverkehrs nicht mehr praktikabel. Deswegen einigte man sich 1884 auf die Einführung von 24 weltweiten Zeitzonen und eine Referenzzeit, die von der Sternwarte Greenwich in London aus gemessen wurde. Dort lag auch der Nullpunkt der Längenmessung, also der Nullmeridian, der die Erde in eine östliche und eine westliche Hemisphäre teilt.
Ein Kreis um den gesamten Planeten herum hat 360 Grad, und ein Tag hat 24 Stunden. Das sind historisch bedingte, recht willkürliche Einheiten, die aber dazu führen, dass ein Längenunterschied von 15 Grad genau einer Stunde Differenz bei der Zeit entspricht (360 : 24 = 15). Das ist auch der Grund, warum in der Formel oben die 15 Grad auftauchen. Und es ist der Grund, warum Görlitz so besonders ist. Da 15 Grad genau einer Stunde Unterschied zur Referenzzeit in Greenwich entsprechen, gilt die Mitteleuropäische Zeit auch nur direkt am 15. Längengrad exakt. Hier passt die Uhrzeit zum Stand der Sonne am Himmel. Überall sonst in Deutschland zeigen die Uhren eine spätere Zeit an, als vom Lauf der Sonne zu erwarten wäre.
Köln etwa liegt um den 7. Längengrad herum, also acht Grad weiter westlich als der 15. Längengrad. Und da pro Längengrad vier Minuten Differenz anfallen, ist die mitteleuropäische Zeit dort um 32 Minuten der mittleren Sonnenzeit voraus. Der Unterschied zwischen der Zeit, die auf den Uhren angezeigt wird, und dem wahren Stand der Sonne kann aber je nach Datum anders sein. Hier muss man auch noch die »Zeitgleichung« berücksichtigen. Denn auf Grund der elliptischen Form der Erdbahn und der Neigung der Erdachse ist die scheinbare Bewegung der Sonne am Himmel der Erde nicht gleichmäßig. Von den 32 Minuten Unterschied muss man also den Wert für die Zeitgleichung abziehen, der im Lauf eines Jahres größer und kleiner wird.
Zusätzlich verkompliziert wird die Sache noch durch die Einführung der Sommerzeit. Die Mitteleuropäische Sommerzeit (MESZ) entspricht dann dem 30. Längengrad (dort liegt zum Beispiel St. Petersburg) – und wir hier in Deutschland müssen noch eine Stunde mehr Unterschied zwischen Uhrzeit und Sonnenstand berücksichtigen.
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