Freistetters Formelwelt: Die Mathematik der Natur
Die Mathematik ist sich selbst genug. Die Formeln und Symbole müssen keine Entsprechung in der realen Welt haben. Das gilt allerdings nur dann, wenn sie nicht dafür verwendet werden, die Natur zu beschreiben. Als Isaac Newton sich im 17. Jahrhundert daranmachte, die Naturwissenschaft zu revolutionieren, stand er nicht nur vor dem Problem, dass es noch gar keine geeignete Mathematik gab, mit der sich die Bewegung der Himmelskörper und all die anderen Phänomene beschreiben ließen, die er gerne definieren wollte. Er hatte ein noch viel fundamentaleres Problem: Er musste zuerst einmal die Bedeutung der Begriffe herausfinden, die er verwenden wollte. Zu einer der bekanntesten Formeln, die auf Newton zurückgehen und die man schon im Physikunterricht der Schule kennen lernt, gehört diese hier:
F = ma
Oder in Worten: Kraft ist Masse mal Beschleunigung. Heute ist die Bedeutung der Formel und vor allem die Bedeutung der hinter den Symbolen stehenden Begriffen klar. Was eine "Kraft" im physikalischen Sinn ist, wurde von den Physikern gut definiert. Die Einheit, in der die Kraft gemessen wird, ist heute nach Newton selbst benannt. Der Namensgeber aber hatte noch zu kämpfen: Was ist eine "Kraft"? Was ist Bewegung? Und überhaupt: Was ist Masse? In den frühen Aufzeichnungen des englischen Wissenschaftlers finden sich Notizen, die deutlich machen, wie schwer es ihm fiel, die alltägliche Bedeutung dieser Worte von einer exakten wissenschaftlichen Verwendung zu trennen. Wörter wie "power", "efficacy", "vigor", "strength" und ähnliche Begriffe tauchen auf und wechseln einander ab. Sein Meisterwerk "Philosophiae Naturalis Principia Mathematica" lässt davon allerdings nichts mehr merken. Es beginnt mit einer Liste von knappen und klaren Definitionen: Masse, Impuls, Trägheit und Kraft.
Der Impuls wäre mir selbst einmal fast zum Verhängnis geworden. Im ersten Semester meines Astronomiestudiums hatte ich eine mündliche Prüfung über die klassische newtonsche Mechanik zu absolvieren. Eine Frage des Professors war die nach den newtonschen Axiomen. Das zweite davon präsentierte ich ihm in genau der oben beschriebenen Form: Kraft ist Masse mal Beschleunigung. Der Blick des Prüfers war ein wenig skeptisch. Er schien nicht ganz zufrieden damit zu sein, war aber nachsichtig und bereit, mir ein wenig zu helfen. Ich solle mir eine startende Rakete vorstellen und dann noch einmal über meine Antwort nachdenken. Der Hinweis war mehr als deutlich: Meine Antwort war zwar nicht falsch, aber auch nicht vollständig. Denn eigentlich sagt Newton in seinem zweiten Axiom, dass eine Kraft immer aus der Veränderung des Impulses entsteht. Und – so hatte er es ja zu Beginn der "Principia" selbst definiert – der Impuls ist das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit.
Im Alltag sind wir es gewohnt, dass sich die Massen von Objekten nicht beziehungsweise kaum ändern, und konzentrieren uns nur auf die Geschwindigkeit. Aber das ist nicht ganz korrekt. Newton selbst hat die nötige Mathematik entwickelt, mit der man berechnen kann, wie sich Größen in Abhängigkeit der Veränderung anderer Größen verändern. Und die Regeln dieser – heute ebenfalls allen Schülern bekannten – Differenzialrechnung besagen eben, dass die Veränderung des Impulses nicht nur allein von der Veränderung der Geschwindigkeit abhängt, sondern auch von der Veränderung der Masse! Wenn die konstant bleibt, kann man das zweite newtonsche Axiom tatsächlich auf die von mir bei der Prüfung genannte und oben aufgeführte Form F = ma reduzieren. Aber wenn man beispielsweise eine startende Rakete betrachtet, reicht das nicht. Sie verbrennt so viel Treibstoff, dass sich ihre Masse während sehr kurzer Zeit sehr deutlich verändert. Ohne auch diesen Faktor zu berücksichtigen, käme man zu falschen Ergebnissen.
Die Prüfung habe ich dann schlussendlich noch mit einer sehr guten Note bestanden. Und dabei gelernt, dass man in der Physik nie vergessen darf, was die Symbole in den Gleichungen wirklich bedeuten.
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