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Freistetters Formelwelt: Die Mathematik der Seuchen

Die Beziehungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt sind komplex. Wir brauchen die Mathematik, wenn wir verstehen wollen, welche Folgen unsere Handlungen haben.
Pferde und Vögel

Den ersten Mückenstich dieses Jahres habe ich vor zwei Wochen auf einer Wiese in Wien bekommen. In Österreich hat das glücklicherweise im Allgemeinen nur ein wenig Jucken zur Folge. In anderen Ländern übertragen Mücken oft schwere, teilweise sogar tödliche Krankheiten. Ein wichtiger Aspekt bei ihrer Verbreitung ist die Temperatur, wie man in dieser Formel sehen kann:

Formel für die Fieberkurve

Sadie Ryan von der University of Florida und ihre Kollegen haben sie kürzlich verwendet, um die Wahrscheinlichkeit der Ausbreitung von Viren durch die Gelbfiebermücke und die Asiatische Tigermücke in Abhängigkeit von der Temperatur zu untersuchen. Dazu müssen erstaunlich viele Parameter berücksichtigt werden. Mit »a« wird in der Formel angegeben, mit welcher Rate eine einzelne Mücke sticht, der Ausdruck »b · c« gibt an, wie wahrscheinlich es ist, dass sich eine Mücke mit einer Krankheit infiziert. »PDR« ist ein Maß für die Entwicklungsrate des Virus und »μ« die Sterberate der Mücken. »EFD« bemisst, wie viele Eier eine weibliche Mücke legt, und »MDR«, wie viele sich zu einem ausgewachsenen Exemplar entwickeln. »pEA« steht für die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mücke überlebt. Die Parameter »N« und »r« geben die Größe der menschlichen Bevölkerung im untersuchten Gebiet an beziehungsweise die Wahrscheinlichkeit, mit der sich ein Mensch von der Krankheit erholt.

Mit Ausnahme der letzten beiden Zahlen betreffen alle Werte in der Formel die Mücke oder das von ihr übertragene Virus, und bis auf »N« und »r« hängen auch alle von der Temperatur ab. Formeln dieser Art – das Modell von Ryan und ihren Kollegen ist eine Weiterentwicklung eines älteren mathematischen Modells zur Beschreibung, wie sich Malaria ausbreitet – demonstrieren nicht nur die Komplexität biologischer Vorgänge. Sie zeigen vor allem die Komplexität der Welt selbst. Um zu verstehen, wie sich Krankheiten wie das Gelb- oder das Denguefieber verbreiten, reicht es nicht, einfach nur die Verteilung der Mücken zu betrachten. Man darf die ökologischen Zusammenhänge nicht ignorieren, und in diesem Fall muss man die Temperatur berücksichtigen, die prominent auf der linken Seite der Gleichung steht.

Der menschengemachte Klimawandel betrifft nicht nur uns selbst, sondern das gesamte Ökosystem. Während wir über CO2-Steuern diskutieren oder darüber nachdenken, ob es statt mit dem Flugzeug vielleicht mit dem Zug in den Sommerurlaub geht, sehen sich auch die restlichen Lebewesen auf diesem Planeten vor veränderte Lebensbedingungen gestellt. Die weltweit steigenden Temperaturen zerstören Lebensräume und eröffnen neue; die Krankheiten übertragenden Mücken könnten bald völlig neue Gegenden erreichen.

Die Realität ist dabei noch ein ganzes Stück komplizierter. Wir Menschen greifen ja nicht nur durch unsere Treibhausgasemissionen in die globale Ökologie ein. Jedes Mal, wenn wir ein Stück Wald abholzen (oder wieder aufforsten), wenn wir Flüsse begradigen, neue Siedlungen bauen, neue Felder und Plantagen anlegen, dann verändern wir die Art und Weise, wie die Organismen der Erde miteinander wechselwirken.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts reiste Alexander von Humboldt durch Südamerika und untersuchte dort die geografische und räumliche Verteilung von Pflanzen und Tieren. Er zeigte, wie all diese Lebewesen an ihre Umwelt angepasst sind und wie sehr sie sich gegenseitig beeinflussen. 250 Jahre nach Humboldts Geburt ist dieser Befund nur noch stärker geworden. Die Mathematik mag zwar in der Lage sein, die Komplexität der ökologischen Zusammenhänge in Formeln zu fassen und vorherzusagen, wie sich unser Handeln auf unsere Umwelt auswirkt. Was wir mit diesem Verständnis anfangen, bleibt uns jedoch selbst überlassen. Meine Urlaubsreisen werde ich in diesem Sommer jedenfalls weder mit dem Flugzeug noch mit dem Zug absolvieren, sondern mit dem Fahrrad.

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