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Impfskepsis: Im Zeichen der Egozentrik

Einzelmeinungen zählen mehr als Fakten und Evidenz – diese Botschaft vermittelt David Sievekings Dokumentation »Eingeimpft«.
Impfung

Zugegeben, die neue Dokumentation von David Sieveking hat mich emotional berührt – und wünscht man sich das nicht von einem Kinofilm? Normalerweise schon, aber in diesem Fall gibt es weitaus Wichtigeres. Es geht um eine junge Familie, die vor der Frage steht, wie und ob sie ihre Kinder impfen lassen soll. Eine Geschichte mitten aus dem Leben, und insofern bildet der Film sicherlich die Zweifel und Sorgen vieler junger Eltern ab. Diverse Rundfunkanstalten, Filmförderinitiativen und Medienstiftungen haben ihn unterstützt; die Deutsche Film- und Medienbewertung gab dem Werk das Prädikat »Besonders wertvoll«. All das verspricht Impfaufklärung im besten Sinn. Doch leider geschieht etwas ganz anderes, und zwar auf fatale Weise.

Der ganze Film ist durchzogen von einer Emotionalisierung und Individualisierung des Themas, die konsequent wegführt von der entscheidenden Frage »Was schützt mein Kind nachweislich am besten?« hin zu der egozentrischen Erwägung »Wie mache ich es so, dass es sich für mich am besten anfühlt?«. Der Vater, autobiografisch dargestellt von Sieveking selbst, ist zunächst eher impfbefürwortend. Nachdem seine Partnerin und spätere Mutter der beiden Kinder während der ersten Schwangerschaft nach einer Impfung krank wird, beginnt das Drama. Obwohl ihr Infekt nachweislich nichts mit der Impfung zu tun hat, was die Doku auch einräumt, sieht sich Sieveking als »Familienoberhaupt« dafür verantwortlich, den Ängsten seiner Partnerin etwas entgegenzusetzen. Er beginnt eine ganz private Recherche dazu, wie sicher und sinnvoll Impfungen sind.

Als erfahrener Dokumentarfilmer (»Vergiss mein nicht«, 2012) fängt Sieveking die nun beginnende Suche nach Antworten authentisch und teilweise sehr berührend ein. Doch von Anfang an ist der Wurm drin. Die werdende Mutter sagt, sie wolle ihr Kind nicht mit Chemie und nicht mit Metallen »vollspritzen«. Diese Aussage lässt der Film als reale, ernst zu nehmende Angst im Raum stehen. Er klärt nicht darüber auf, dass letztlich alles Chemie ist – insbesondere alles, was mit Leben zu tun hat – und dass Impfstoffe keine elementaren Metalle enthalten. Dieses Muster zieht sich durch das gesamte Werk: Wieder und wieder werfen Pauschalbehauptungen vermeintliche Probleme auf, ohne sie je auszuräumen, obwohl das möglich wäre. Selten werden Zahlen genannt, Verhältnisse beleuchtet oder irrationale Behauptungen und Befürchtungen mit medizinischer Evidenz konfrontiert.

Der Film und das parallel dazu erscheinende, gleichnamige Buch behandeln viele Fragen, die längst geklärt sind, etwa ob Impfungen Autismus auslösen (tun sie nachweislich nicht, wie der Autor schließlich an anderer Stelle selbst bestätigt), warum Impfstoffe Wirkverstärker enthalten und ob Mediziner für die Sicherheit von Impfungen sorgen. Das geschieht stets so, dass letztlich Zweifel bleiben, wo keine bleiben müssten. Es gibt keine positive Korrelation zwischen Impfungen und Autismus; dieser Irrglaube geht auf eine methodisch äußerst schwache, von Interessenkonflikten überschattete und obendrein gefälschte Studie zurück. 10 von 13 Autoren der Studie distanzierten sich später von ihr; die publizierende Fachzeitschrift zog die Arbeit zurück; und dem Hauptautor Andrew Wakefield, einem britischen Arzt, wurde ein lebenslanges Berufsverbot wegen unethischer Methoden erteilt. Wirkverstärker machen Impfungen wirksamer und letztlich sicherer, und Impfungen gehören zu den bestüberwachten Medikamenten überhaupt. Das stellt die Dokumentation nicht klar.

In »Eingeimpft« schwingt ein gefährlicher Subtext mit. Denn der Film bedient alle irrationalen Ängste, die sich mit dem Impfen verbinden, und macht die Impffrage zu einer reinen Gefühls- und Meinungsangelegenheit. Dies tritt besonders in den unaufgelösten Widersprüchen der Handlung zu Tage. So vertritt die Mutter, eine bekannte Filmmusik-Komponistin, die populäre Meinung »Ich möchte mein Kind natürlich aufwachsen lassen; ich will nicht, dass es Chemie erhält«. Wenig später taucht sie die verletzte Hand ihrer Tochter wie selbstverständlich in Desinfektionslösung.

Filmplakat »Eingeimpft« | Der rezensierte Film läuft ab September 2018 in den Kinos.

Der elterliche Wunsch nach einem naturnahen Aufwachsen der Kinder ist nachvollziehbar, doch die Dokumentation erwähnt nicht, dass Impfungen die natürlichen Mechanismen der Immunisierung nutzen – mit Impfstoffdosen, die die kindliche Körperabwehr souverän bewältigt. Die Behauptung, alle geimpften Kinder im Freundeskreis seien im Gegensatz zum eigenen ungeimpften ständig krank, konterkariert der Film selbst, indem er die vielen schlaflosen Nächte der kranken Tochter, ihre Dauerrotznase, eine Lungenentzündung und eine Bindehautentzündung zeigt. Zwei Anläufe, die erste Tochter impfen zu lassen, scheitern an akuter Krankheit des Mädchens, was den Protagonisten offenbar nicht zu denken gibt. Auf den klärenden Hinweis, dass Ungeimpfte nachweislich nicht gesünder sind als Geimpfte, ganz im Gegenteil, wartet man vergebens.

Die Dokumentation stilisiert das Impfen zu einem riesigen Akt hoch und lenkt letztlich völlig von der Tatsache ab, dass Immunisierung vor schlimmen Infektionskrankheiten schützt, Millionen Menschen das Leben gerettet hat und eine der größten Errungenschaft der modernen Medizin ist. Die Protagonisten beziehen in die Impfentscheidung auch das wohl knapp zweijährige Mädchen ein (»Willst du eine Spritze haben?« – »Neiiin«) und schieben die Verantwortung für Gesundheit, Krankheit und Tod damit einem Kleinkind zu. Eines der Grundanliegen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die potenziell lebensbedrohlichen Masern mittels einer ausreichend hohen Durchimpfungsrate auszurotten, tritt hinter der privat geschaffenen Angstspirale völlig zurück.

Stattdessen bekommt das Publikum eine impfkritische Hebamme präsentiert, die ihre fachlich nicht fundierte Meinung zum Impfen mit der Familie und den Zuschauern teilt. Sie schürt weitere Ängste – was die Realität werdender Eltern gut abbilden dürfte – und hält ihre persönlichen Erlebnisse (»Das habe ich selbst nie gesehen, dass es Neugeborenen-Tetanus gibt«) für wichtiger als die gesammelte medizinische Evidenz. Der notwendige Widerspruch bleibt aus. Tatsache ist: Neugeborenen-Tetanus bricht selten, dann aber sehr schnell aus. Infizierte Kinder sterben »ganz natürlich« binnen 14 Tagen nach der Geburt.

Immerhin tauchen in dem Film keine bekannten Impfgegner wie der Milchwirt Hans U. P. Tolzin oder der impfkritische Arzt Martin Hirte direkt auf. Nur in einer Bahnfahrtszene erhascht man einen Blick auf Hirtes Buch. Wie viel Gedankengut von erklärten Impfgegnern oder gar Virenleugnern indirekt eingeflossen ist, bleibt offen. Der eindeutig impfkritische Bundesverband Impfschaden wird jedenfalls im Abspann erwähnt.

Mit fortschreitender Filmdauer werden die Zuschauer zu Zeugen wachsender Panik, die mittlerweile auch den Vater erfasst, verbunden mit verschwörungstheoretischen Einflüssen. So heißt es, ein ehemaliger Mitarbeiter des Paul-Ehrlich-Instituts habe von »verschwiegenen« Todesfällen nach Impfungen mit einem Mehrfachimpfstoff (Hexavac) berichtet. Unerwähnt bleibt, dass es zwar Todesfälle gab, die aber untersucht wurden und bei denen weder die Europäische Arzneimittelagentur noch das Paul-Ehrlich-Institut noch das kritische »arznei-telegramm« einen Zusammenhang zu Impfungen feststellen konnten. Im Gegenteil: Ergebnisse, die 2007 in der Fachzeitschrift »Vaccine« veröffentlicht wurden, deuten sogar darauf hin, dass die Sechsfach-Impfung das Risiko eines plötzlichen Kindstods senkt.

Während die Dokumentation solche Fakten verschweigt, bietet sie einem Pathologen, dessen Vermutungen längst ausgeräumt wurden, die große Bühne. Auf geschickte Weise stellt sie das Impfen zunehmend als manipulativen Eingriff dar, für den es allenfalls eine rudimentäre Berechtigung gebe. Die geneigten Zuschauer dürften irgendwann selbst dem Sprecher des Robert Koch-Instituts nicht mehr abnehmen, dass Impfstoffe zu den besterforschten und bestgeprüften Medikamenten weltweit gehören. Es entsteht der Eindruck, Impfexperten-Kommissionen seien eine Art »closed shop«, ihre Beschlüsse und Empfehlungen entstünden unter Ausschluss der Öffentlichkeit und sollten absichtlich schwer nachvollziehbar sein. Ihre direkte Manipulation oder Bezahlung unterstellt der Film zwar nicht, aber Genaues weiß man nicht, oder?

Es bleibt das schale Gefühl, dass dieser Film ein Problem offenbart, das man mit »Uns geht es zu gut« umschreiben könnte. Wer mitten in Deutschland gut situiert, ordentlich gebildet und bestens versorgt ist, kann es sich leisten, auf das Impfen zu verzichten. Bezeichnenderweise schicken die Protagonisten ihre Kleine zu einer privaten Tagesmutter (»Zum Glück können wir uns das leisten«) und nicht in eine öffentliche Kita, wo sie sich – weil ungeimpft – anstecken könnte. Mit anderen Worten, sie nehmen das Ansteckungsrisiko durchaus wahr, weichen ihm aber aus, weil sie es können. Mit einem Hauch von Kulturrassismus zeigt der Film dann als Kontrast »die afrikanische Frau«, die Impfungen ohne Nachfragen vertraut und ihre Kinder ohne Bedenken immunisieren lässt – weil sich dadurch deren Überlebenschance verbessert, was immerhin nicht unerwähnt bleibt. Der Regisseur neidet ihr diese vermeintliche Unbedarftheit; dass dieser aber nicht so sehr Gefühle, sondern eher harte Mortalitäts- und Infektionsraten zu Grunde liegen, fällt unter den Tisch.

Berlin-Kreuzberg kann es sich – im Gegensatz zu Äthiopien, Bangladesch und Sudan – schon wegen der erheblich besseren Lebensbedingungen einschließlich medizinischer Grundversorgung leisten, impffrei zu bleiben. Die nächste anthroposophische Kinderärztin ist ja nicht weit. Man entscheidet sich nach Gusto für eine bis drei Impfungen und meint dabei, Kombinationsimpfstoffe seien irgendwie gefährlich (obwohl sie tatsächlich viel besser erforscht sind als Einfachimpfstoffe). Dies sei eine Frage der »Coolness« (sic!) und der »Selbstbestimmung«. Wer sich dagegen nach den allgemeinen Expertenempfehlungen impfen lässt, gilt als uninformiert und auch ein wenig obrigkeitshörig. Dass es Evidenz und Fakten gibt, die klar für eine durchimpfte Gesellschaft sprechen, dass Herdenimmunität etwas mit sozialer Verantwortung zu tun hat, negiert der Film. Er zelebriert das Individuelle als oberstes Gut, ganz im Sinn der Millennials-Individualgesellschaft. Von hier aus ist es nur ein gefährlich kleiner Schritt bis zu dem sozialdarwinistischen Denken, dass die Schwachen der Gesellschaft eben Pech gehabt haben.

Durchweg stellt die Dokumentation Einzelmeinungen (von Hebammen, Aussteigern, einzelnen Forschern) als verlässlicher dar als die Gesamtstudienlage und Einschätzungen internationaler Expertengremien. Nur im Rahmen von Einzelmeinungen lässt sie ausnahmsweise auch einmal Absolutaussagen und Zahlenangaben zu. Ein langer Abschnitt ist dem Epidemiologen Peter Aaby und seiner Hypothese gewidmet, Totimpfstoffe seien schlimmer als Lebendimpfstoffe. Sieveking reiste hierfür sogar extra nach Afrika. Warum er gerade Aaby mehr vertraut als allen anderen, bleibt völlig unklar. Die einschlägige Forschung steht allenfalls am Anfang, und dennoch meinen Sieveking und seine Partnerin, just bei Aaby Sicherheit zu finden. Immunisierungen gegen Tetanus, Polio oder Keuchhusten sollten dessen Hypothese zufolge besser weggelassen werden? Man kümmert sich um diese Frage nicht weiter.

Der Film wirkt ernsthaft suchend, nach Ausgleich ringend und durchaus bemüht, die richtigen Antworten zu finden. Doch genau das tut er nicht. Er bleibt an den wichtigsten Stellen vage, sät bewusst oder unbewusst Zweifel und hinterlässt ein starkes Gefühl von »Man weiß es nicht, und es ist alles irgendwie unnatürlich und riskant«. Ich finde ihn deshalb unter dem Strich schlimmer als einen offenkundigen Impfgegner-Film. Viel zu wenig deutlich thematisiert er das viel größere Risiko der Krankheiten, gegen die immunisiert wird. Er stellt die so genannten Impfskeptiker mit seriösen Forschern auf eine Ebene, woraus sich das Laienpublikum eine eigene, ganz individuelle Wahrheit basteln kann. Er rückt nicht die Faktenlage, sondern die persönliche Einschätzung eines medizinischen Laien in den Fokus, der sie emotional packend und mit gefährlich viel Identifizierungspotenzial umsetzt. Er vertut damit eine riesige Chance der Aufklärung, was leider Folgen haben wird.

Ich musste beim Ansehen des Films dauernd an einen Satz denken, den Vince Ebert geprägt hat: »Es kann ein Esoteriker in fünf Minuten mehr Unsinn behaupten, als ein Wissenschaftler in seinem ganzen Leben widerlegen kann.« Die geneigten Zuschauer werden nach dem Abspann mit einem unsinnigen Gefühl der Impfangst gehen. Wer soll das wieder zurechtrücken? Es wäre nicht erstaunlich, würde der Film eine neue Welle der Impfverweigerung auslösen. Denn nimmt man das Werk ernst, darf, ganz nach Pippi-Langstrumpf-Manier, jede(r) impfen, wie es gerade gefällt – es ist eine reine Meinungssache und Äußerung unseres Freiheitsempfindens. Gegen Ende des Werks habe ich mich gefragt: Was wäre eigentlich passiert, wenn eine der Töchter sich im Lauf der Dreharbeiten an den Masern angesteckt hätte, die zu dem Zeitpunkt in Berlin grassierten? Vielleicht schwer krank oder gar verstorben wäre? Wäre die Doku dann auch in die Kinos gekommen? Und hätten Rundfunkanstalten dann auch unsere Beiträge hineingesteckt?

Im Abspann wird offenbart, was den ganzen Film durchzieht. Gemeinsam sieht das Paar auf einen dritten positiven Schwangerschaftstest, ist entsetzt, und sie flüstert: »Ich dachte, du hättest aufgepasst.« Manche Dinge lassen sich eben doch nicht nur nach Gefühl regeln.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag wurde am 06.09.2018 an zwei Stellen inhaltlich korrigiert.

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