Freistetters Formelwelt: Warum man rückwärtsgehend keinen Kaffee verschüttet
»Rarely do we manage to carry coffee around without spilling it once.« Wenn ein mathematischer Fachartikel mit so einem Satz anfängt, dann weiß man, dass sich die Lektüre lohnt. Und tatsächlich ist »A Study on the Coffee Spilling Phenomena in the Low Impulse Regime« von Jiwon Han eine Fundgrube faszinierender Informationen.
Das dort untersuchte Phänomen ist bekannt: Wenn man einen Kaffeebecher von A nach B trägt, neigt das Getränk dazu, überzuschwappen. Dieses Problem muss eine Ursache haben – und unter Umständen auch eine Lösung. Der Weg dorthin führt über diese Formel:
Sie ist überraschend komplex, wenn man berücksichtigt, dass es nur um eine Tasse Kaffee geht. Aber wenn man das Lieblingsgetränk der Forschung nicht nur konsumiert, sondern auch wissenschaftlich betrachtet, dann handelt es sich um eine Flüssigkeit, die auf die Bewegung der Tasse auf sehr komplizierte Art und Weise reagieren kann. Genau diese Reaktion lässt sich mit der Formel besser verstehen. Ohne auf die Details einzugehen, beschreibt sie die Eigenfrequenz einer Flüssigkeit in einem zylindrischen Behältnis. Also die periodische Bewegung, die entsteht, wenn man den Kaffee nach einer Anregung von außen sich selbst überlässt. Wenn von außen aber weitere Anregungen dazukommen – und das noch dazu in einer Periode, die der Eigenfrequenz (oder Vielfachen davon) entspricht –, kann sich die Bewegung des Kaffees aufschaukeln, bis das passiert, was wir alle kennen: Er schwappt über den Rand der Tasse.
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Jiwon Han hat sich diese Eigenfrequenzen angesehen und mit den Schwingungen verglichen, die entstehen, wenn man einen Kaffeebecher durch die Gegend trägt. Mit den typischen Dimensionen eines Bechers von 95 Millimeter Höhe und 82 Millimeter Durchmesser bekommt man eine Eigenfrequenz von zirka 4 Hertz. Genau diese Frequenz findet man ebenso in der Bewegung der Hände beim normalen Gehen, wie Han in entsprechenden Experimenten herausgefunden hat. Es ist also kein Wunder, dass man dabei so schnell Kaffee verschütten kann.
Mit der Identifikation des Problems kann man aber auch leicht eine Lösung finden. Man könnte zum Beispiel rückwärtsgehen. Das ungewohnte Verhalten führt dazu, dass man die Hände anders als vorher bewegt und die Eigenfrequenz des Kaffeebechers nicht mehr angeregt wird. Die Gefahr des Verschüttens wird dadurch leider trotzdem nicht geringer, da wir keine Augen im Hinterkopf haben. Man kann die Tasse jedoch einfach anders greifen, in Form einer »claw hand«, wie Han erklärt. Anstatt am Henkel greift man den Becher also von oben mit den Fingern und das verhindert ebenfalls die Anregung in der Eigenfrequenz.
Rotwein statt Kaffee
Diese Lösung ist durchaus praktikabel und deutlich weniger auffällig als der Rückwärtsgang. Wer dennoch nicht darauf verzichten möchte, den Kaffee so wie immer zu transportieren, müsste auf ein anderes Behältnis umsteigen, um ein Verschütten zu verhindern. Die Eigenfrequenz hängt unter anderem vom Radius des Bechers ab; je kleiner er ist, desto größer wird die Frequenz und desto schwerer ist es, sie beim Gehen anzuregen. Man könnte den Kaffee also beispielsweise aus Reagenzgläsern trinken, was in den meisten Laboren aber eher ungern gesehen wird.
Oder man lässt den Kaffee ganz bleiben. In seiner Arbeit hat Jiwon Han auch untersucht, wie sich Rotwein in einem typischen Weinglas verhält. Bei einer Frequenz von 4 Hertz schwappt er nur leicht im Glas hin und her, ohne dass etwas verschüttet wird. Aber würde Rotwein in den gleichen Mengen konsumiert wie Kaffee, wäre das der mathematischen Kreativität vermutlich eher wenig zuträglich. Und: Ja, man kann natürlich einfach einen Becher mit Deckel nehmen. Aber wo bleibt denn da der mathematische Spaß!
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