Freistetters Formelwelt: Kompliziert und elegant
Wenn ich mir ansehe, was ich damals während meines Studiums in meinen Vorlesungen über Himmelsmechanik aufgeschrieben habe, dann tauchen dort zwei Symbole ganz besonders oft auf. Mal geöffnet, mal geschlossen (und idealerweise immer in genau der gleichen Anzahl) durchziehen geschwungene Klammern meine Skripte. Sie sind ein wichtiger Bestandteil der mathematischen Sprache, ganz besonders dann, wenn es um die Untersuchung von Bewegung geht.
Die Klammern in meinen Skripten sind so genannte Poisson-Klammern und so definiert:
Das sieht kompliziert aus. Das ist auch kompliziert. Aber auch höchst elegant. Mit qi werden in der theoretischen Mechanik die generalisierten Koordinaten eines Systems bezeichnet. Es ist die nötige Mindestmenge an Koordinaten, um den räumlichen Zustand des beobachteten dynamischen Systems eindeutig beschreiben zu können. Betrachtet man zum Beispiel ein idealisiertes Pendel, dann könnte man zur Beschreibung seiner Bewegung zwei Koordinaten benutzen, um seine jeweilige Position im zweidimensionalen Raum anzugeben.
Doch das ist unnötig, es reicht eine einzige Koordinate: Die Auslenkung des Pendels aus der Gleichgewichtslage; denn die Länge des Seils ist ja vorgegeben und ändert sich nicht (das nennt man Zwangsbedingung). Das ist die generalisierte Koordinate, und es braucht hier nur eine davon: Ein idealisiertes zweidimensionales Pendel hat auch nur einen Freiheitsgrad der Bewegung.
Ort und Impuls
Wenn qi die generalisierten Koordinaten sind, dann sind pi die entsprechenden generalisierten Impulse; in diesem Fall die kanonisch-konjugierten Impulse, die man erhält, wenn man die zeitliche Veränderung der Lagrange-Funktion (die von der Energie des Systems abhängt) in Bezug auf die generalisierten Koordinaten betrachtet.
Generalisierte Koordinaten und Impulse charakterisieren den Zustand eines Systems. Und will man wissen, wie sich das System mit der Zeit ändert, braucht man nun nur noch die so genannte Hamilton-Funktion. Sie hängt von den qi und pi und der Zeit ab und entspricht (unter bestimmten Bedingungen) der Gesamtenergie des Systems.
Die Hamilton-Funktion macht die Beschreibung der Bewegung eines Systems besonders einfach. Ihre zeitliche Änderung in Bezug auf die Impulse entspricht der totalen zeitlichen Änderung der Koordinaten. Und umgekehrt ist die totale zeitliche Änderung der Impulse die negative zeitliche Änderung der Hamilton-Funktion in Bezug auf die Koordinaten.
Womit wir nun endlich bei den geschwungenen Klammern angekommen sind. In der oben angegebenen Formel stehen f und g für Funktionen, die von den qi und pi abhängen. Durch den Einsatz der Poisson-Klammern kann man nun viele sonst langwierige mathematische Beziehungen viel kürzer aufschreiben. Die vorhin beschriebenen hamiltonschen Bewegungsgleichungen lauten etwa jetzt nur noch q̇={qi,H} und ṗ={pi,H} – wobei der Punkt über den Buchstaben wie üblich die totale zeitliche Ableitung anzeigt.
Mit den Poisson-Klammern kann aber noch viel mehr schöne Dinge anstellen. Für eine Funktion f, die sich im Lauf der Zeit nicht ändert, also eine Erhaltungsgröße ist, gilt {f,H} = 0. Und ganz allgemein kann man die zeitliche Entwicklung einer beliebigen Größe im entsprechenden dynamischen System durch Poisson-Klammern ausdrücken.
Die Poisson-Klammern werden nicht nur zur Beschreibung der Bewegung von Himmelskörpern verwendet. Man benutzt sie in der Quantenmechanik ebenso wie bei noch viel komplexeren Themen wie etwa der Schleifenquantengravitation. Dort bildeten sie den mathematischen Unterbau einer Theorie, mit der Quantenphysik und allgemeine Relativitätstheorie vereint werden sollen: ein Unterfangen, das sich als so kompliziert erwiesen hat, dass man froh über jede Art der Vereinfachung sein kann. Selbst wenn es sich dabei nur um eine etwas simplere Weise handelt, mit der man mathematische Gleichungen aufschreiben kann.
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