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Unterricht: »Wir vermiesen vielen Schülern die Mathematik«

Jürgen Flachsmeyer, Mathematikprofessor im Ruhestand, ist überzeugt: Bei den meisten Menschen kann mehr Verständnis für Mathe erreicht werden. Wie, erklärt er im Interview.
Schülerin an der Tafel

Herr Flachsmeyer, Sie haben seit vielen Jahren eine Mission: Sie wollen zeigen, dass bei den meisten Menschen mehr Verständnis für Mathe erreicht werden kann. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Es ist doch widersinnig: Die Mathematik und ihre junge Schwester Informatik sind mit unserer Geisteskultur, ja mit unserer gesamten aktuellen gesellschaftlichen Praxis aufs Engste verflochten, und doch empfinden viele Menschen den beiden gegenüber Abneigung oder, noch schlimmer, sogar Angst. Das kann mich als Mathematiker nicht kaltlassen.

Woher kommt denn diese Distanz zur Mathematik?

Der wichtigste Grund liegt meines Erachtens darin, dass die meisten Menschen der Welt vorwiegend emotional gegenübertreten und sich erst in zweiter Linie rational analytisch mit ihr auseinandersetzen. Bei diesem zweiten Schritt ist die Mathematik als die allgemeinste Strukturwissenschaft mit ihrer Methodik der eigentliche Kernpunkt. Ihre Verwurzelung im Abstrakten hat nur leider für viele Menschen von sich aus keine natürliche Anziehungskraft, sondern im Gegenteil sogar Abstoßungspotenzial.

»Formschöne Gebilde eröffnen die Bereitschaft zur geistigen Verarbeitung«, | sagt Jürgen Flachsmeyer, 83. Der inzwischen emeritierte Mathematiker war mehr als 30 Jahre lang Professor für Geometrie und Topologie an der Universität Greifswald.

Auch weil viele das Gefühl haben, schon immer eine Niete in Mathe gewesen zu sein.

Das sind Schutzbehauptungen. Sicher: Der Umgang und die Vertrautheit mit der Mathematik erfordern eine strikte Ausbildung und einen gehörigen Aufwand. Gleich den Künsten, die ebenfalls ein großes Übungspensum abverlangen. Doch das wäre für die meisten zu schaffen – wenn nicht die Unterrichtskultur für die Mathematik und die Naturwissenschaft in der Schule unter einem ernsthaften Mangel litte.

Wie würden Sie diesen Mangel beschreiben?

Wir müssen uns stärker um das Verstehen bei den Schülern bemühen, weil nicht Verstandenes abgewiesen wird. Doch viele Mathematiklehrer nehmen zu wenig Rücksicht auf die unterschiedlichen Denktypen. Langsame Denker werden fälschlich als weniger begabt eingestuft; man unterstellt ihnen eine geringere Leistungskraft. Mein Doktorvater war ein Beispiel für solch einen international sehr erfolgreichen, aber langsamen Denktypus. Er hatte Glück, gefördert zu werden, doch die meisten Schüler erfahren nicht diese Beachtung, sie erleben Misserfolge und wenden sich von der Mathematik ab. Der ausufernde Nachhilfesektor ist ein beredtes Zeugnis vom Scheitern unseres Matheunterrichts.

Ist das nicht einseitig negativ dargestellt? Es gibt doch viele engagierte Mathelehrer, die hervorragende Arbeit leisten!

Ja, die gibt es. Aber im Kern vermiesen wir vielen Schülern die Mathematik und vergeuden noch dazu wertvolle Talente. Es gibt zahllose Familien, die unter den finanziellen Kosten der Nachhilfe leiden. Der gesellschaftliche Verdruss über die Mathematikschwäche junger Menschen ist groß. Die Bildungspolitiker müssten ernstlich aufgeschreckt sein.

Sind sie doch auch. Neulich hat zum Beispiel eine Kommission im Auftrag des Hamburger Bildungssenators umfangreiche Reformvorschläge für den Mathematikunterricht vorgelegt – mit bundesweit großer Beachtung.

Das ist ja sehr lobenswert, auf die praktische Umsetzung darf man gespannt sein. Doch auch wenn ich den Hamburgern natürlich Erfolg wünsche: In den meisten Ländern ist eher Verdrängung als Verarbeitung angesagt, und nicht nur die Politiker agieren so, wir alle tun es. Seit Jahrzehnten stellt beispielsweise die Bruchrechnung in Deutschland einen großen Stolperstein dar. In einer Talkshow machte sich neulich ein bekannter Moderator darüber lustig, dass man beim Teilen von zwei Zahlen den Schülern Widersinniges beibringe, weil 30 geteilt durch ½ das Resultat 60 ergibt. Es sei doch klar, dass beim Teilen von Quantitäten das Ergebnis einer Teilung kleiner als die Ausgangsgröße werde. »So etwas Unvernünftiges wie 30 : (½) = 60 kann ich natürlich nicht erklären! In Mathematik war ich schon immer schlecht«, verkündete er, und was machten die Zuschauer? Sie klatschten frenetisch.

In der Tat ist es gesellschaftlich salonfähig, seine schlechten Mathekenntnisse zum Besten zu geben. »Ich konnte noch nie richtig schreiben«, so kokettieren Prominente dagegen selten.

Der Schriftsteller, Lyriker und Kulturkritiker Hans Magnus Enzensberger hat einmal mit Esprit die Kluft zwischen den großen Kulturleistungen der Mathematik und der herrschenden Mathematikignoranz in der Gesellschaft beschrieben und sah selbst bei gebildeten Leuten »eine Art intellektueller Kastration«. Man kann sie den Leuten vorwerfen oder sich fragen, wie sie mit unserer Lehrerbildung zusammenhängt. Ich habe zum Beispiel in meiner Forschung Mathematiklehrer der gymnasialen Unterstufe befragt, und die konnten oft auch nicht richtig erklären, wieso die Bruchrechnung zu dem eben zitierten Ergebnis kommt. Ich lasse an dieser Stelle noch mal Enzensberger sprechen: »Der Unterricht fördert letzten Endes den mathematischen Analphabetismus.«

Kleiner Exkurs: Wie würden Sie denn die Lösung der Rechenaufgabe erklären?

Wenn a gleich 1 ist (aufgefasst als ein Ganzes) und b eine natürliche Zahl, so bedeutet der Stammbruch 1/b, dass man das Ganze in b gleich große Teile zu zerlegen hat. Damit kommt man durch Vielfachbildung zu den Brüchen a/b für die natürlichen Zahlen. Hingegen hat man das Teilen der Zahl a durch b im Falle, dass b kleiner als a ist, so aufzufassen: »Wie viel mal steckt b in a drin?«. Der Ausdruck »geteilt« kann also nicht immer im Sinne des Feststellens von Teilstücken aufgefasst werden! Im Grunde kommt es darauf an, dass man fleißig übt. Dass die Lehrkräfte einem dafür die Zeit lassen. Und eine Portion Kopfrechnen sollte man auch noch beherrschen, selbst im Zeitalter der Computer.

Ich gebe zu, die Erklärung muss ich mir auch noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Aber zurück zum Matheproblem unserer Gesellschaft. Ist das typisch deutsch?

Von wegen. Neulich bot ich im Rahmen einer Hochschuldidaktik-Tagung einen spontanen Workshop »Lebendige Mathematik« an, und es kam nur ein einziger Teilnehmer. Der war Professor an einer amerikanischen Universität und berichtete, dass dort ebenfalls die meisten Grundschüler die Mathematik mit Argwohn betrachten. Unsere Gesellschaft ist halt so: Man möchte mehr locker plaudern als konzentriert nachdenken. Das war zwischendurch mal anders.

Wann genau?

Nach dem Sputnik-Schock Ende der 1950er Jahre. Als der sowjetische Satellit Sputnik im Orbit piepte, legten die Vereinigten Staaten vor Schreck ein groß angelegtes Mathematikprogramm auf. Erstrangige Forscher der Mathematik und mustergültige Pädagogen etablierten mit großem staatlichen Engagement eine tief greifende Neuordnung des Schulunterrichts. Dieser Enthusiasmus schwappte auch nach Europa. Leider hat man es damals übertrieben, so dass irgendwann die Überforderung einsetzte.

Und die führte wozu?

Der Mathematikunterricht kehrte zur alten Oberflächlichkeit zurück. Der Schulstoff in Mathematik sei heillos überladen, schimpfte zum Beispiel vor einigen Jahren ein bekannter Pädagoge bei einem Vortrag. Einer seiner konkreten Vorschläge lautete damals: Auf den Lehrsatz des Pythagoras über das rechtwinklige Dreieck könne man verzichten. Das stieß bei den anwesenden Eltern auf Zustimmung. Ich habe dagegengehalten.

Was haben Sie gesagt?

Ich sagte: Wir haben alle heute Morgen das elektrische Licht eingeschaltet. Damit wir das können, brauchte es ingenieurtechnisches Können und Wissen. Und die Schulen müssen die Grundlagen dafür legen, zum Beispiel indem sie die komplexen Zahlen vermitteln, die für die Berechnung von Energie und Schaltkreisen nötig sind. Doch müssen komplexe Zahlen in der Schule gar nicht mehr behandelt werden. Besagter Pädagoge erklärte, für solche Dinge hätten wir doch »unsere Spezialisten«. Aber auf welchem intellektuellen Mistbeet sollen die denn heranwachsen, bitte schön? Dazu braucht man eine gewisse Geisteskultur in der Gesellschaft und auf so einer elementaren Stufe wie dem Pythagoras keine Aussonderung von Spezialisten. Nicht jeder kann alles durchschauen, aber der Pythagoras ist ein Angelpunkt für die Ausmessung der Welt.

Das brauchen wir später nie wieder, ist tatsächlich so ein Satz, mit dem Schüler allzu komplexe Mathematikoperationen ablehnen.

Das mag ja sogar stimmen, doch in der Schulzeit brauchen sie es zum geistigen Training. Man muss später immer wieder objektiven Zwängen richtig begegnen können. Die erfordern ein logisch stringentes Vorgehen. Dieses muss man an konkreten, noch leicht überschaubaren Geistesdingen üben, ganz entsprechend wie im Sportunterricht. Dort übt man zum Beispiel Hochsprung, den man später in seinem Leben auch meist nicht mehr ausübt, aber man hat seinen Körper vorher zur allgemeinen Leistungsfähigkeit trainiert.

Inzwischen stößt die Digitalisierung in immer mehr Lebensbereiche vor. Welche Folgen muss das für den Mathematikunterricht haben?

Mathematik und Informatik müssen zum Allgemeingut einer guten Schulausbildung werden, sonst werden sich viele Menschen letztlich auf die Software ohne rechten Einblick verlassen und der Autorität der Computer blindlings vertrauen. Welche schädlichen Folgen das hat, können wir schon beim Umgang vieler Schüler mit ihrem Taschenrechnern beobachten. Der wird schon bei simplen Multiplikations- und Divisionsaufgaben herangezogen, und was dann auf dem Display steht, wird auch nach falschem Tastendruck in apodiktischer Gewissheit akzeptiert. Dabei würde oft eine einfache Überschlagsrechnung reichen, um misstrauisch zu werden.

Sie haben am Anfang gesagt, das Vermittlungsproblem der Mathematik liege in ihrer Verwurzelung im Abstrakten. Was könnte guter Mathematikunterricht dagegen tun?

Wir müssen die Schüler mit neuen Formen der Veranschaulichung gewinnen. Ein praktisches Beispiel ist die Verquickung von Origami, also traditionellen japanischen Papierfalttechniken, und der Mathematik. Auch die Verbindung von Gotik und Kreisgeometrie kann für Schüler spannende Einblicke bieten, motivieren kann sie, dass wir den Zusammenhang der Kunst von Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer mit der Elementargeometrie aufzeigen. Wir zeigen, wie die Mathematik konkret in unserem Kulturleben und in unserer Geschichte und Gegenwart wirkt und wie ästhetisch sie sein kann. Leider finden derartige Vorschläge in den Kultusministerien kaum Interesse.

Erklären Sie bitte das Origami-Beispiel noch etwas genauer.

Meine Grundhaltung ist: Durch mehr Verstehen kommt mehr Lernfreude, durch mehr Lernfreude kommt mehr Erfolg! Wie erreicht man mehr Verstehen? Durch die eigene Hand! Es gibt eine passende chinesische Weisheit: »Ich höre und vergesse, ich sehe und erinnere mich, ich tue es und verstehe.« Das ist es. Wir müssen die Schüler zu Mithelfern im Lernprozess machen, und das gelingt zum Beispiel mit Origami. Form- und farbschöne Gebilde, die durch eigene Hände entstehen, schaffen Freude und eröffnen die Bereitschaft zur geistigen Verarbeitung. Schon vier Jahre alte Kitakinder können dessen Grundtechniken erlernen. Mit dem Schuleintritt müsste die handwerkliche Tätigkeit des Papierfaltens systematisch angepackt werden. In Japan ist dem so. Dort und in Israel setzt man Origami sogar für therapeutische Zwecke bei Inklusionskindern ein. Origami-Objekte sind flache und zugleich räumliche Figuren. In der fünften Klasse kommt dann die Mathematik der Figuren hinzu. Die Verquickung mit dem Papierfalten macht manchen Schüler zum kleinen Entdecker. So kann aus der Pflicht die Freude quellen.

Wer bekommt mehr Schokolade? | Sind das blaue Quadrat links und das blaue Dreieck in der Mitte gleich groß? Die Antwort wird dank einer Hilfslinie leicht erkennbar.

Sie fordern mehr Geduld mit den Schülern, mehr Zeit zum Üben und Wiederholen. Woher soll diese Unterrichtszeit kommen?

Die übliche Unterrichtszeit bietet in sich einen gewissen Vorrat, weil man bei Erfolg nicht mehr gegen so viel unverstandenes Wissen und unbeherrschtes Können anrennen muss. Außerdem öffnet sich eine Brücke zur Nachmittagsbeschäftigung und zu den Eltern, weil auch die nicht mehr so sehr vom mathematischen Tun der Schüler abgeschreckt werden, sondern zu einem Teil selbst mittun können. Noch mal zum Origami: In Japan ist das Papierfalten eine moderne Haus- und Familienkultur.

Führt mehr Tiefe, die Sie fordern, nicht zu noch mehr Druck und Abneigung gegenüber der Mathematik?

Nein! Besseres Verstehen mindert den Druck.

Wie lange forschen Sie schon zum Thema Mathematikabneigung in unserer Gesellschaft?

Das bewegt mich schon seit meiner ganzen Berufsausübung und jetzt im Ruhestand.

Wie engagieren Sie sich persönlich für ein neues Verständnis von Mathematik und Matheunterricht?

Ich reise zu Kongressen und Tagungen, aber viel wichtiger ist das praktische Engagement: Meine Frau und ich besuchen noch immer regelmäßig den Matheunterricht nahe gelegener Schulen. Eine von Origami inspirierte Aufgabe, die ich den Schülern dann zum Beispiel stelle, geht so: Zuerst sollen sie ein Origami-Blatt zweimal nacheinander parallel zu den Kanten falten. Das Blatt hat, wenn man es wieder öffnet, vier kongruente Quadrate. Dann sollen die Schüler ein zweites Blatt nehmen und diagonal falten, wieder zweimal, so dass das wieder geöffnete Blatt in vier kongruente rechtwinklige und gleichschenklige Dreiecke unterteilt ist.

Das klingt jetzt noch nicht so lebenspraktisch.

Abwarten. Nun sollen sich die Schüler vorstellen, dass wir zwei quadratische Tafeln Schokolade so aufgeteilt hätten. Wäre das fair? Hätte jeder der Schüler, an die eins der acht Stücke verteilt wurde, die gleiche Menge Schokolade bekommen? Mathematisch gesehen läuft die Frage darauf hinaus, ob alle Stücke den gleichen Flächeninhalt aufweisen. Das erscheint auf den ersten Blick nicht so, weil die dreieckigen Teile einen größeren Umfang haben. Aber in Wirklichkeit ist der Flächeninhalt tatsächlich gleich. Und das lässt sich sogar ganz leicht beweisen mit dem Verfahren »Siehe!«. Man zieht eine Zusatzlinie im Dreiecksteil und im Quadratteil. Dann sieht man, dass beide Teile jeweils aus kongruenten Teilen bestehen. Sie waren gewissermaßen nur anders zusammengelegt. Damit hat man den Schülern die Invarianz des Flächeninhaltes und auch automatisch die Invarianz des Volumens, der Masse gegen Formänderung dargeboten. Die Schüler haben das an diesem Beispiel sofort intus. Und solche Erklärungen bietet das Origami haufenweise!

Sie sind über 80 Jahre. Was motiviert Sie, weiterzumachen?

Ich bin seit 2000 im Ruhestand und damit am Lebensabend meines Daseins. Ob mein Wissen noch für die Jugend genutzt werden kann? Das Entstehen einer Interessengemeinschaft von Eltern, Pädagogen, Studenten und Bildungsforschern in Sachen Mathematik via Origami ist mein Wunschtraum.

Der Artikel erschien ursprünglich im RiffReporter-Projekt »Der Bildungsforscher«.

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