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Analphabetismus: Können Sie denn nicht lesen?

Nicht nur in Entwicklungsländern können viele Menschen nicht richtig lesen und schreiben - auch Millionen Deutsche gelten als Analphabeten. Wie kann das sein, wenn doch eigentlich alle die Schule besuchen? Forscher fahnden immer noch nach den Ursachen.
Verschiedene graue 3D-Buchstaben liegen und stehen auf weißem Untergrund

Eine Speisekarte lesen, den Stimmzettel im Wahlbüro durchsehen, ein Formular für den Handyvertrag ausfüllen: keine schwierigen Aufgaben, möchte man meinen. Und doch scheitern unzählige Erwachsene hier zu Lande genau daran. Denn sie können nicht lesen und schreiben. Was oft als Problem von Entwicklungsländern abgetan wird, ist auch in einem Industriestaat wie Deutschland, in dem Schulpflicht herrscht, alles andere als eine Ausnahmeerscheinung.

Die repräsentative Studie »leo. – Level One Studie« zeigte 2011 erstmals, wie groß das Problem vor Ort wirklich ist. Die Forscher von der Universität Hamburg testeten bei mehr als 8400 Erwachsenen die Lese- und Schreibfähigkeiten. Die Hochrechnungen ergeben: Es mangelt rund 7,5 Millionen Deutschen zwischen 18 und 64 Jahren in großem Maß an Schriftsprachekenntnissen. Genauer: Knapp fünf Millionen können nur einzelne, kurze Sätze lesen und schreiben, weitere zwei Millionen kommen über einzelne Wörter nicht hinaus, und etwa 300 000 Menschen scheitern selbst daran. Sie alle gelten zumindest als funktionale Analphabeten. Das bedeutet, ihre Fähigkeiten zu lesen und zu schreiben sind so schwach ausgeprägt, dass sie nur mit Mühe am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können – und das, obwohl sie zur Schule gegangen sind.

Was bedeutet Analphabetismus?

Der Begriff »Analphabetismus« ist bis heute nicht völlig einheitlich definiert. Totaler Analphabetismus wird oft als völlige Unkenntnis der Schrift verstanden. Das betrifft in modernen Industrienationen heutzutage kaum jemanden. Weitere Abstufungen des Analphabetismus können aber von Schwierigkeiten, selbst gebräuchliche Wörter zu lesen und zu schreiben, bis hin zum "Unterschreiten der vollen Teilhabe im Lesen, Schreiben und Rechnen" nach UNESCO-Definition reichen.

In der leo.-Studie sprechen die Forscher von Analphabetismus, wenn Personen zwar einzelne Wörter lesen und schreiben können, nicht aber ganze Sätze. Dabei müssen die Betroffenen auch gebräuchliche Wörter Buchstabe für Buchstabe zusammensetzen.

Der Begriff funktionaler Analphabetismus bezieht sich dagegen auf die Unfähigkeit, schon kurze Texte zu verstehen oder zu schreiben. Die Betroffenen sind dadurch nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzuhaben, und haben etwa bereits Schwierigkeiten mit einfachen schriftlichen Arbeitsanweisungen.

Tatsächlich haben vier von fünf funktionalen Analphabeten einen Schulabschluss, davon jeder Fünfte die Mittlere Reife, jeder Achte sogar Abitur. Auch das offenbart die leo.-Studie. Mehr als die Hälfte der Betroffenen geht zudem einem Job nach. Vom Dachdecker über Hausmeister bis Kellner oder Gärtner ist alles dabei, wie eine Erhebung der Stiftung Lesen von 2014 auflistet. Aber: Viele schweigen am Arbeitsplatz über ihre Schwäche und versuchen, sie zu vertuschen. Aus Scham. Und aus Angst, die Stelle zu verlieren.

Analphabeten meiden Lesen und Schreiben

»Analphabeten nutzen bestimmte Strategien, damit die anderen nicht merken, dass sie nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben können. Typischerweise vermeiden sie jegliche Situationen, in denen sie mit Schriftsprache konfrontiert wären«, sagt der Pädagoge Peter Hubertus, Gründungsmitglied des Bundesverbandes Alphabetisierung. Er unterrichtete viele Jahre Betroffene in Alphabetisierungskursen und bildet Lehrer für diese Arbeit fort. Ein Kursteilnehmer berichtete ihm, in seinem Leben noch nie ein Diktat geschrieben zu haben. Das geht doch gar nicht, denkt man sich. Aber doch: »Irgendwie hat er sich immer davor drücken können, war krank, hat randaliert, bis er herausgeschmissen wurde, oder sich vorsätzlich die Hand verletzt«, erzählt Hubertus.

Ist Vermeiden nicht möglich, versuchen die Betroffenen die Situation durch Mogelei zu retten. »Die klassische Ausrede ist die angeblich vergessene Lesebrille. Diejenigen bitten dann jemand anderes, kurz den Text vorzulesen oder etwas für sie zu schreiben, weil sie es ja angeblich nicht richtig sehen können«, sagt Hubertus. Ein anderer Kniff: Ein LKW-Fahrer habe Hubertus mal erzählt, er sei in eine Zollkontrolle gekommen, wo er ein Formular hätte ausfüllen müssen. In seiner Not schnappte er sich noch rechtzeitig den Verbandskasten im Wagen und bandagierte seinen Unterarm. Den Zollbeamten erklärte er, er habe eine Sehnenscheidenentzündung und könne nicht schreiben. Ein Kollege aus einem anderen Truck übernahm dann die Lese- und Schreibarbeit für ihn.

Undenkbar | Daheim mit einem guten Buch auf der Couch zu sitzen – für Analphabeten ist das undenkbar. Viele von ihnen meiden von vornherein Situationen, in denen sie mit Schriftsprache in Kontakt kommen könnten.

Oft haben die Betroffenen zu Hause oder auf der Arbeit eine oder zwei Vertrauenspersonen, die eingeweiht sind und ihnen kniffelige Aufgaben abnehmen. Auf diesen Wegen laufen die Betroffenen durch das Leben, ohne doch noch richtig Lesen und Schreiben zu lernen. Doch wie kann das überhaupt passieren? Dass jemand viele Jahre zur Schule geht und am Ende im extremsten Fall nicht einmal die Schlagzeile der Tageszeitung oder Straßenschilder lesen kann?

Die Probleme beginnen oft schon vor der Einschulung

Die bislang gängigste Theorie legt den Fokus vor allem auf soziale Umstände. Demnach nimmt die Entwicklung bereits im Elternhaus noch vor der Einschulung ihren Lauf. Dort erfahren die Betroffenen als Kinder nur Ablehnung, werden abgewertet oder vernachlässigt. Das geschriebene Wort spielt in den Haushalten eine untergeordnete Rolle, es wird nicht vor- oder selbst gelesen, nur selten etwas geschrieben. Kommen die Kinder dann in die Schule, haben sie Probleme mitzuhalten und wegen der schwierigen Situation daheim auch Probleme, sich zu motivieren oder zu konzentrieren. Sie trauen sich wenig zu, halten sich für zu dumm. Sich fürs Lernen von Lesen und Schreiben zu motivieren, fällt ihnen schwer. Lehrern fehlt hier oft die Geduld oder der Raum für individuelle Förderung.

Die Schulzeit rauscht also an ihnen vorbei, ohne dass die Kinder und Jugendlichen wirklich sicher im Umgang mit Schriftsprache werden. Nach der Schule meiden sie dann Texte oder Schreibaufgaben, suchen sich einen Beruf, der möglichst schriftfern ist – eine andere Wahl haben sie dann ja auch nicht mehr. Die rudimentären Schreibkenntnisse gehen mit den Jahren verloren. Situationen, wo sie geübt oder gebraucht würden, werden erst recht gemieden.

»Die klassische Ausrede ist die angeblich vergessene Lesebrille«
Peter Hubertus

Gestützt werden diese Annahmen durch Interviews mit funktionalen Analphabeten, die von solchen Lernbiografien rückblickend berichten. »Bei aller Berechtigung der soziologischen Theorien sind diese alleine vermutlich nicht ausreichend, um zu erklären, warum Menschen trotz eines Schulbesuchs nicht flüssig lesen und schreiben können«, sagt Michael Grosche, Professor für Rehabilitationswissenschaften mit dem Förderschwerpunkt Lernen an der Bergischen Universität Wuppertal. Untersuchungen hätten mehrfach gezeigt, dass Schriftsprachprobleme in bildungsbenachteiligten Schichten zwar gehäuft auftreten, aber die Mehrzahl der Kinder aus sozial stark benachteiligten Haushalten durchaus die Schriftsprache auf gutem Niveau beherrscht.

Analphabetismus und Lese-Rechtschreib-Schwäche

Grosche und andere Kollegen aus Deutschland verfolgen daher seit Kurzem einen neuen Ansatz: Sie nehmen an, dass es eine Verbindung zur Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) gibt. Menschen mit dieser Lernstörung haben große Probleme, korrekt schreiben und lesen zu lernen, ohne dass sie generell lernbehindert oder geistig zurückgeblieben sind. Die Ursache für eine LRS liegt der aktuellen Forschung zufolge auf neurokognitiver Ebene. Den Betroffenen mangelt es an der Fähigkeit, Laute und gesprochene Worte im Gehirn mit schriftlichen Zeichen zu verknüpfen. Verursacht wird dies wiederum durch Defizite im auditiven System, dem Bereich, der Töne verarbeitet. »Hier fehlt es auf Grund einer Genmutation an so genannten Magnozellen, die für Reize zuständig sind, die eine feine zeitliche Auflösung benötigen. Wir brauchen diese etwa, um den Unterschied zwischen ›g‹ und ›k‹ oder ›d‹ und ›t‹ zu hören«, erklärt Jascha Rüsseler, Professor für Allgemeine Psychologie an der Universität Bamberg. Bei Menschen mit LRS kommen die Zellen in deutlich verminderter Zahl vor, und ihnen fällt es schwer, diese Laute auseinanderzuhalten.

Ebendiese Probleme, die bei vielen Menschen mit LRS auftreten, können auch das Risiko für funktionalen Analphabetismus erhöhen, so die jüngste Theorie. Die Forschergruppe um Jascha Rüsseler konnte dafür auch schon erste Hinweise finden. In einer Untersuchung von 2011 verglichen sie die Wahrnehmungsfähigkeiten von 60 erwachsenen funktionalen Analphabeten mit denen von ebenso vielen Erwachsenen, die im üblichen Maß lesen können, sowie mit 30 Kindern mit Lese-Rechtschreib-Störung. Alle durchliefen acht verschiedene Seh- und Hörtests, in denen sie beispielsweise sehr ähnliche Töne unterscheiden oder die Reihenfolge von eng aufeinander folgenden Lichtblitzen auf dem Bildschirm bestimmen mussten.

»Auch Analphabeten haben wie Menschen mit einer Lese-Rechtschreib-Störung Probleme, Reize voneinander zu unterscheiden«
Jascha Rüsseler

Das Ergebnis: Die funktionalen Analphabeten schnitten in allen Tests deutlich schlechter ab als die anderen Erwachsenen – genauso wie die Kinder mit LRS. »Die Hypothese, die bereits für Menschen mit Lese-Rechtschreib-Störung gut abgesichert ist, haben wir in einer Untersuchung auf funktionale Analphabeten übertragen und genau das gefunden: dass auch sie Probleme haben, Reize voneinander zu unterscheiden«, so Studienleiter Rüsseler.

Zu einem ebenso deutlichen Befund kam Michael Grosche 2011 mit seinem Kollegen Matthias Grünke von der Universität Köln. Sie unterzogen 54 erwachsene funktionale Analphabeten, 54 normal lesende Erwachsene und Grundschüler, die auf denselben Leseniveaus wie die Analphabeten waren, einem phonologischen Test. Tatsächlich schnitten die funktionalen Analphabeten, trotz größerer Unterschiede innerhalb ihrer Gruppe, in den Tests nicht nur durchweg schlechter ab als gleichaltrige Lesekundige, sondern auch als die Grundschüler mit ähnlichen Leseleistungen. »Diese Untersuchung liefert uns den Hinweis darauf, dass die phonologischen Beeinträchtigungen nicht als Folge der geringen Leseleistung zu interpretieren sind, da sonst Analphabeten und Grundschüler vergleichbare phonologische Leistungen zeigen müssten. Dass diese Beeinträchtigungen tatsächlich eine Ursache für funktionalen Analphabetismus sind, ist relativ wahrscheinlich, aber dennoch spekulativ. Bislang liegen schließlich nur ein paar kleine Untersuchungen dazu vor«, betont Bildungsforscher Grosche. Er vermutet zudem, dass dem mangelnden Schriftspracherwerb eher ein Zusammenspiel aus sozialen und kognitiven Defiziten zu Grunde liegt.

Wie gelingt Alphabetisierung am besten?

Vor allem letztere Probleme sollten Alphabetisierungskurse zusätzlich angehen, fordern Forscher wie Grosche und Rüsseler. Fast jede Volkshochschule bietet wöchentliche Grundbildungskurse an. Das Problem: »Bislang gibt es keine spezifische Didaktik für Alphabetisierungsangebote, oft auch widersprüchliche Herangehensweisen in den Kursen. Dies ist aber nicht den Lehrkräften anzulasten«, sagt Grosche. Denn die gezielte Forschung auf diesem Gebiet sei noch sehr jung, und die Wissenschaft sei sich selbst nicht einig über die geeignetste Unterrichtsmethode für Grundbildungskurse.

Wie Alphabetisierung am besten gelingt, ist ebenso wenig erforscht. Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung finanzierten Forschungsprojekts »Alpha plus« erprobten die Bamberger Psychologen 2013 erstmals ein speziell entwickeltes Intensivtraining. An fünf Tagen pro Woche übten die 20 Teilnehmer sechs Monate lang wie in regulären Kursangeboten die Zusammenhänge zwischen Schriftzeichen und den dazugehörigen Lauten, lernten ähnliche Laute auseinanderzuhalten sowie erworbene Lese- und Schreibkenntnisse im Alltag anzuwenden. Zusätzlich trainierten die Kursteilnehmer aber auch täglich eine halbe Stunde am Computer ihre Wahrnehmungsfähigkeiten.

Die Kursteilnehmer schnitten am Ende der sechs Monate in den Lese- und Schreibtests deutlich besser ab als vorher. Sie konnten mehr Wörter korrekt vorlesen und machten beim Schreiben weniger Fehler. Auch im Vergleich zu einer Gruppe erwachsener Analphabeten, die einen regulären Alphabetisierungskurs durchliefen, zeigten die Teilnehmer von »Alpha plus« einen deutlich größeren Lernzuwachs. Ob das Projekt künftig standardmäßig zum Einsatz kommen wird, ist noch offen. So wie vieles in der Forschung zum Analphabetismus.

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