Krebs verstehen: Wie kann man Krebs gezielt bekämpfen?
Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.
Bei der Behandlung von Krebs werden lokal wirksame Verfahren wie Operationen, Bestrahlungen oder »Systemtherapien« genutzt, die im ganzen Körper wirken. Patienten und Patientinnen fragen mich häufig, ob es außer Chemotherapeutika auch Medikamente gibt, die Krebszellen spezifischer angreifen und weniger Nebenwirkungen verursachen. Die gibt es: so genannte zielgerichtete Therapien. Sie greifen an den Achillesfersen von Krebszellen an und kommen bei bestimmten Krebsarten zum Einsatz.
Mutationen geben Krebszellen neue Eigenschaften
Krebs entsteht, wenn sich im Bauplan von Zellen etwas verändert. Das kann dazu führen, dass die Zellen ihre Eigenschaften verändern, sie sich beispielsweise unkontrolliert vermehren und Gewebegrenzen im Körper ignorieren. Die Zellen wachsen also irgendwohin, wo sie gar nicht hingehören. So genannte zielgerichtete Krebstherapien richten sich gegen diese veränderten Eigenschaften. Sie wirken spezifischer als Chemotherapeutika, die ganz allgemein die Zellteilung stören. Oftmals haben Erstere deshalb weniger Nebenwirkungen. Viele der Veränderungen, die Zellen bösartig machen, sind in der Medizin bekannt, doch leider lassen sich nur einzelne davon therapeutisch nutzen.
Zielgerichtete Therapien bremsen Krebszellen aus
Entsteht Krebs, sammeln Zellen immer mehr Erbgutveränderungen an. Einige davon kurbeln die Vermehrung der bösartigen Zellen ganz besonders an: so genannte Treibermutationen. Zielgerichtete Therapeutika richten sich unter anderem gegen solche Veränderungen. Das können Sie sich verbildlicht wie folgt vorstellen: In einem Ruderboot sitzen Amateur-Ruderer. Plötzlich kommt ein Profi dazu – eine Treibermutation – und das Boot fährt deutlich schneller. Diesen Profi bremsen zielgerichtete Therapien aus, so als würden sie ihm die Arme festhalten. Das Ergebnis: Das Boot fährt langsamer, das Krebswachstum wird gebremst.
Zielgerichtete Therapeutika können beispielsweise so genannte Antikörper sein, die sich auf ganz bestimmte Oberflächenmerkmale von Krebszellen setzen. Sie sorgen dafür, dass Signalstoffe von außen nicht mehr an diese Zellen binden und sie zum Wachstum anregen können. Außerdem gibt es so genannte Inhibitoren, die Wachstumstreiber innerhalb der Krebszellen blockieren. Die Medikamente werden zum Beispiel als Infusionen oder Tabletten verabreicht.
Kombination bringt Therapieerfolge
Leider können zielgerichtete Therapien das Krebswachstum oftmals nur bremsen und die Erkrankung nicht vollständig heilen. Sie werden deshalb in den meisten Fällen mit anderen Behandlungen wie Chemotherapeutika kombiniert. Immer häufiger werden auch Antikörper-Wirkstoff-Konjugate eingesetzt. Dabei handelt es sich um zielgerichtete Therapien, an die Chemotherapeutika gekoppelt sind. Diese sollen so gezielter in Krebszellen gelangen. Ein aktuelles Beispiel ist der Antikörper Trastuzumab, der schon seit vielen Jahren unter anderen bei der Behandlung von Brustkrebs eingesetzt wird. Im Medikament Trastuzumab-Deruxtecan ist ein Chemotherapeutikum an den Antikörper gebunden.
Spezialuntersuchungen helfen bei der Wahl der Therapie
Es gibt über 100 Arten von Krebs. In Krebszellen können zahlreiche Erbgutveränderungen vorliegen, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind. Wie finden Behandlerinnen und Behandler also heraus, welche zielgerichtete Therapie zu welchem Patienten passt?
Tatsächlich gibt es Veränderungen in Krebszellen, die besonders häufig bei bestimmten Krebsarten vorkommen. Ist das der Fall, wird bei der Diagnosestellung automatisch untersucht, ob diese vorliegen. Dazu werden etwa Oberflächenmerkmale auf den Krebszellen oder das Erbgut der Tumorzellen untersucht. Es gibt auch zielgerichtete Therapien, die ohne Zusatzuntersuchungen durchgeführt werden und an grundlegenden Mechanismen angreifen, die Krebszellen zum Überleben brauchen. Dazu gehört zum Beispiel die Neubildung von Blutgefäßen oder der Abbau von fehlgefalteten Proteinen.
Erweitere molekulare Diagnostik deckt Therapieoptionen auf
Immer häufiger wird bei Krebspatienten eine erweiterte molekulare Diagnostik durchgeführt: eine sehr ausführliche Erbgutuntersuchung des Tumormaterials. Hierdurch können manchmal Veränderungen von Krebszellen identifiziert werden, gegen die es zielgerichtete Medikamente gibt und die in der Standarddiagnostik unerkannt geblieben wären. Die individuelle Suche nach für den Patienten maßgeschneiderte Therapien nennt man auch Präzisionsonkologie. Sie kommt beispielsweise zum Einsatz, wenn keine Standardtherapieoptionen zur Verfügung stehen oder es sich um seltene Krebserkrankungen handelt. Ärzte in spezialisierten Zentren suchen dann in so genannten molekularen Tumorboards passende, zielgerichtete Medikamente für Patienten aus.
In der Onkologie werden Krebserkrankungen klassischerweise in Kategorien eingeteilt, je nachdem, wo im Körper, etwa im Darm oder in der Brust, der Krebs entstanden ist. Bei der Behandlung werden Patienten und Patientinnen mit einer bestimmten Art von Krebs in der Regel in einen Topf geworfen, obwohl sich die einzelnen Krebszellen in ihren Eigenschaften durchaus unterscheiden können. Die »tumoragnostische Krebstherapie«, bei der die spezifischen Eigenschaften der Krebszellen bei der Therapieauswahl mehr in den Fokus rücken, wird in der Zukunft eine immer größere Rolle spielen.
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