Freistetters Formelwelt: MOND-süchtig
»Auf welche offene Frage der Wissenschaft würden Sie am liebsten eine Antwort haben?« – Diese Frage wird mir in Interviews erstaunlich oft gestellt. Ich überlege dann immer wieder aufs Neue, welche Antwort ich darauf geben soll. Einerseits hätte ich natürlich sehr gerne alle offenen Fragen beantwortet; möglichst viel über die Welt zu wissen ist ja immerhin genau das, was alle Forscherinnen und Forscher antreibt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.
Andererseits gibt es natürlich Fragen, die relevanter sind als andere. Ich wüsste zum Beispiel gerne, ob irgendwo anders im Universum noch intelligente Lebewesen existieren. Ich wüsste gerne, wie das menschliche Gehirn wirklich funktioniert. Ich wüsste gerne, ob die Riemann-Hypothese richtig ist. Und wie das mit dem Urknall genau abgelaufen ist. Aber auch wenn es Antworten auf all diese Fragen geben mag, lässt sich doch absolut nicht abschätzen, wann wir sie finden, und vor allem, ob ich dann noch am Leben sein werde.
Also wähle ich dann doch immer wieder die eine Frage bei der ich optimistisch bin, selbst noch eine Antwort zu bekommen: »Was steckt hinter der dunklen Materie?«
Die Antwort ist vielleicht diese Formel:
Die dunkle Materie beschäftigt uns seit 1933. Damals stellte der Astronom Fritz Zwicky fest, dass sich Galaxien so bewegen, als würden sie durch die Gravitationskraft von wesentlich mehr Masse beeinflusst als im Kosmos zu sehen ist. Seitdem wurde dieser Befund immer wieder bei allen möglichen astronomischen Beobachtungen bestätigt: Im Universum muss mehr Materie vorhanden sein als nur die »normale«, die wir auch sehen können. Unabhängige Befunde aus der Kosmologie und der Teilchenphysik weisen ebenfalls auf die Existenz einer ganz anderen Art von Materie hin, die nicht mit Licht oder anderer elektromagnetischer Strahlung wechselwirkt.
Eine Formel mit kleinen Extras
Wir können die Auswirkungen dieser dunklen Materie beobachten. Aber ihre wahre Natur ist trotz jahrzehntelanger Forschung immer noch völlig ungeklärt. Aber, und hier kommt nun die Formel ins Spiel, vielleicht ist sie genau deswegen ungeklärt, weil es sie gar nicht gibt. Das war zumindest die Idee des israelischen Physikers Mordehai Milgrom, der die Formel im Jahr 1983 veröffentlichte.
Sie basiert auf dem, was wir im Schulunterricht in der Form von F = m·a lernen: Kraft ist Masse mal Beschleunigung, so wie es Isaac Newton schon im 17. Jahrhundert erklärt hat. Aber vielleicht, so Milgrom, gilt das nicht wenn man es mit sehr kleinen Beschleunigungen zu tun hat. Vielleicht verhalten sich Kräfte anders, wenn die Beschleunigung a unter einen bestimmten Grenzwert a0 sinkt. Die dann relevante Modifikation wird durch die Funktion μ beschrieben, die prinzipiell unterschiedliche Formen annehmen kann.
Mit seiner modifizierten newtonschen Dynamik – oder kurz MOND – ließe sich die Bewegung der Himmelskörper ebenfalls erklären, ganz ohne neue dunkle Materie. Seitdem ist die Wissenschaft gespalten. Die Mehrheit ist der dunklen Materie weiter treu geblieben, und durchaus nicht ohne Grund. Die Beobachtungsdaten sind tatsächlich sehr überzeugend. Aber eine Minderheit hat Milgroms MOND aufgegriffen und weiterentwickelt, zum Beispiel um auch relativistische Effekte miteinzubeziehen.
Die dunkle Materie leidet unter dem immer noch fehlenden direkten Nachweis ihrer Existenz. Doch bei MOND gibt es ebenfalls Probleme; mit der modifizierten Gravitation kann man zwar vieles an der Bewegung der Himmelskörper korrekt beschreiben, aber nicht alles. Und auch hier muss man sich am Ende dem Problem einer fehlenden Masse stellen.
Ich persönlich bin kein Experte auf diesem Gebiet und verfolge die Forschung nur als Zuseher. Anfangs war ich auch überzeugt von der dunklen Materie. Mittlerweile bin ich aber eher zu einem »Agnostiker« geworden. Vielleicht müssen wir wirklich ein wenig an den Formeln rütteln, um eine vernünftige Antwort zu bekommen. Ich wäre auch mit MOND zufrieden. Hauptsache es gibt endlich eine Antwort.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben