Freistetters Formelwelt: Rational oder irrational?
Am 11. März 1734 präsentierte der Mathematiker Leonhard Euler ein Werk mit dem Titel »De progressionibus harmonicis observationes«. Darin finden sich unter anderem Berechnungen zur so genannten »harmonischen Reihe«. Und eine Zahl, die Euler in seinem Text als »C = 0,577218« angibt. Diese Zahl nennen wir heute die Euler-Mascheroni-Konstante, und noch kennen wir längst nicht alle ihrer Geheimnisse. In moderner Form lässt sie sich so definieren:
Die Formel sieht kompliziert aus, ist aber gar nicht so schwer zu verstehen. Mit dem großen Summenzeichen wird die harmonische Reihe definiert. Man bildet also der Reihe nach die Terme 1/1, ½, ⅓, ¼ und so weiter und addiert alles zusammen. Die Glieder der Folge werden zwar immer kleiner, trotzdem ist die Reihe selbst divergent.
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Das heißt, dass die Summe keinem fixen Wert zustrebt, sondern im Grenzfall von unendlichen vielen Termen selbst unendlich wird. Diese Divergenz erfolgt jedoch sehr langsam. Addiert man etwa die ersten 100 Glieder der Folge, beträgt die Summe nur zirka 5,19; die ersten 1000 Terme ergeben ungefähr 7,49. Die Geschwindigkeit, mit der die Reihe für immer mehr Glieder divergiert, lässt sich mit dem natürlichen Logarithmus abschätzen – das ist der zweite Ausdruck in der großen Klammer.
Bleiben wir noch kurz bei den beiden Rechenbeispielen von vorhin. Betrachtet man nur 100 Terme in der harmonischen Reihe, beträgt ihre Summe rund 5,19. Der natürliche Logarithmus von 100 liegt bei etwa 4,6. Die Differenz beider Zahlen ergibt 0,5848 … Rechnet man mit 1000 Termen und dem Logarithmus von 1000, ergibt sich eine Differenz von 0,5777 … Bei 10 000 Termen berechnet sich der Unterschied zu 0,57726 …
Wie viele Stellen hat γ wirklich?
Da zeichnet sich ein Muster ab. Tatsächlich kann man zeigen, dass sich der Unterschied zwischen der n-ten so genannten »harmonischen Zahl« (also der Summe der ersten n Terme in der harmonischen Reihe) und dem natürlichen Logarithmus von n immer weiter der Euler-Mascheroni-Konstante annähert, je größer n wird.
Euler selbst konnte in seiner Arbeit aus dem Jahr 1734 fünf Nachkommastellen dieser Konstante richtig berechnen; im Jahr darauf erweiterte er die Zahl der bekannten gültigen Stellen auf 15. Nach seinem Tod setzte der italienische Mathematiker Lorenzo Mascheroni das Rechenwerk fort. 1790 publizierte er immerhin 19 korrekte Nachkommastellen. Mittlerweile sind mehr als 477 Milliarden Stellen der Konstanten bekannt (sie beginnt mit 0,57721566490153286060…). Trotz dieser enormen Menge an Ziffern ist vieles über diese Zahl weiterhin unbekannt.
Eine überraschend fundamentale Frage ist zum Beispiel immer noch unbeantwortet: Ist die Euler-Mascheroni-Konstante eine rationale oder eine irrationale Zahl? Kann sie also als Bruch zweier ganzer Zahlen dargestellt werden oder nicht? Bis heute ist es niemanden gelungen, entweder das eine oder das andere zu beweisen. Man vermutet zwar, dass es sich um eine irrationale Zahl handeln muss, doch ein definitiver Nachweis steht immer noch aus.
Im Gegensatz zu prominenten irrationalen Zahlen wie der Kreiszahl π oder der Wurzel aus 2 trifft man die Euler-Mascheroni-Konstante nirgendwo in simplen und anschaulichen geometrischen Fragestellungen. Dafür aber in diversen anderen Disziplinen der Mathematik (etwa der Analysis oder der Funktionentheorie). Es wäre also durchaus gut zu wissen, in welche Schublade man sie einsortieren soll. Und selbst wenn man von ihrer mathematischen Anwendung absieht, ist es irgendwie unbefriedigend, nicht zu wissen, mit was für einer Zahl man es hier zu tun hat. Die Zahlen sind das Fundament der Mathematik. Hier kann man sich keine Wissenslücken erlauben.
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