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Sex matters: Sexualisierte Gewalt hat nichts mit Sexualität zu tun

Es ist wichtig, zwischen Sex und sexueller Gewalt zu unterscheiden, sagt der Sexualtherapeut Carsten Müller. Denn für die Betroffenen habe es Folgen, wenn beides verknüpft wird. Eine Kolumne
Symbole vor rotem Plüsch: Gewalt, Fesseln, Pfefferspray, Exit
Bei sexualisierter Gewalt geht es in den meisten Fällen auch und vor allem um Macht und Unterwerfung.

»Ich habe im Alter von 17 Jahren eine Vergewaltigung erlebt. Der Mann war ein Fremder, es war schlimm, aber ich hatte danach bald wieder Sex, den ich tatsächlich genießen konnte. Ich konnte das von der Tat trennen – warum auch immer mir das gelungen ist. Aus meiner damaligen Sicht fühlte es sich total stimmig an: Das eine war ein Übergriff, das andere mein Liebesleben. Ich hatte Sex mit wechselnden Partnern, damit habe ich mich wohlgefühlt, alles war gut. Bis meine Mutter meinte, ich würde mir damit doch selbst weh tun und hätte ja gar keine Grenzen mehr im Kopf, weil es so viele Männer wären. Ab dem Moment habe ich mich gefragt, ob vielleicht etwas mit mir nicht stimmt.« (Natalie*, 22)

Die meisten Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, kennen das: Nach der Tat wird ihnen von Familie, Freundinnen und Freunden, aber auch von Fachkräften mitgegeben, dass sie mit ihrer Sexualität ein Problem haben werden. Lebenslang. Du kannst nie wieder Sex haben! Dabei ist das überhaupt kein Automatismus. Es ist etwas, was die Gesellschaft Betroffenen zuschreibt – was ich als ziemlich übergriffig empfinde. Denn jeder Mensch, der sexualisierte Gewalt erfahren hat, darf selbst bestimmen, ob und wie er Sexualität leben möchte.

In Deutschland wurden im Jahr 2021 insgesamt 25 410 Fälle von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst. Die Taten an Kindern bis zum Alter von 14 Jahren machen mit 15 507 die Mehrzahl aus. Die Dunkelziffer liegt bei Erwachsenen wie Kindern vermutlich deutlich darüber. Und auch der Konsum von Kinderpornografie ist in den Zahlen noch nicht enthalten. Demnach sind zehntausende Menschen von sexualisierter Gewalt betroffen. Sie müssen nicht nur mit der Tat leben, sondern auch damit, dass sie fortan als Opfer angesehen werden, verbunden mit der Prognose, dass sie den Rest ihres Lebens leiden und nie wieder ein erfülltes Sexualleben führen werden.

Meiner Klientin Natalie ging es zum Glück zunächst anders. Es war schlimm, aber es war vorbei. Sie konnte die Tat von sich weg definieren. Das gelang auch deswegen relativ schnell, weil der Täter ein Fremder war, zu dem sie keinerlei soziale oder emotionale Beziehung hatte. Sie hatte also bereits zu einem beglückenden Sexleben zurückgefunden – bis sie von außen in die Opferrolle gedrängt wurde.

Sexualisierte Gewalt ist kein Sex, sondern Gewalt

Doch um zu verstehen, wie Betroffene selbst ihre Situation erleben, braucht es einen anderen Blick auf die Tat. Sexualisierte Gewalt ist eine Form von Gewalt. Sie hat nichts mit Sexualität zu tun. Gewalt ist Gewalt. Ob sie nun körperlich, psychisch oder sexualisiert ausgeübt wird: Es bleibt Gewalt. Das sexualisierte Verhalten der Gewalttäter und Gewalttäterinnen ist übrigens nicht in erster Linie auf die Befriedigung sexueller Bedürfnisse ausgerichtet. Es geht in den meisten Fällen auch und vor allem um die Ausübung von Macht, um die Unterwerfung des Gegenübers. Sexualität ist lediglich das Medium, durch das Gewalt ausgeübt wird.

Sexualität – ohne Gewalt – ist frei. Sie ist Teil einer gelebten persönlichen Identität, sie gibt Lebensfreude, ein positives Körperempfinden, sie gestaltet Beziehungen. Und jeder Mensch hat ein Recht darauf, egal, was er oder sie erlebt hat.

Am Anfang von Beratungen mache ich oft diese Unterscheidung. Weil ich weiß, dass die neue Perspektive Türen öffnet. Und damit den Blick in einen Raum ermöglicht, in dem ich Sexualität neu entwickeln kann. Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich kann sexualisierte Gewalt die gelebte Sexualität verändern. Es gibt Menschen, die so stark traumatisiert sind, dass sie keinen Weg finden, wieder Sexualität zu leben. Das kann und darf für sie die passende Entscheidung sein – Punkt.

Gefangen in der scheinbar unauflösbaren Verknüpfung von Sexualität und Gewalt

Eine andere Klientin, die zu mir in die Beratung kam, war als Teenager über viele Jahre von einem Onkel missbraucht worden. Als erwachsene Frau hat sie einen Mann kennen gelernt, sich verliebt und geheiratet. Sie hat eine gute Bindung aufgebaut und ihrem Ehemann alles anvertraut, was ihr passiert ist. Den Onkel hat sie angezeigt, er wurde zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt.

Aber irgendwann stand ihre Ehe kurz vor dem Aus, weil es ihr und ihrem Mann nicht gelang, Sexualität miteinander zu erleben. Die beiden waren regelrecht gefangen in der scheinbar unauflösbaren Verknüpfung von Sexualität und Gewalt. Jegliche Form von Sexualität schien unsicheres Terrain, das beide am liebsten gar nicht betreten wollten – aus gegenseitigem Respekt, aber auch aus Angst vor Verletzungen. Keiner wagte den ersten Schritt. Es gab für dieses Paar überhaupt keinen Umgang mit Sexualität. Es fehlte der Glaube daran, dass es möglich sein könnte. Das war der Status quo, als die Frau zu mir in die Beratung kam.

In meiner Praxis erlebe ich oftmals Menschen, die mir erzählen, dass in vorangegangenen Beratungen das Thema Sexualität komplett ausgeklammert worden ist. Zu groß die Sorge des psychologischen oder pädagogischen Fachpersonals, Dinge zu triggern oder Flashbacks auszulösen. Dabei ist das Thema Sexualität so allgegenwärtig, dass es nicht praktikabel ist, es beiseitezuschieben. Es begegnet uns in Liedern, Filmen, auf der Straße, es kann überall auftauchen. Es spielt eine Rolle in Beziehungen, und spätestens dann ist es sinnvoll, sich damit zu beschäftigen.

Meine Klientin, die Gewalt durch ihren Onkel erlebt hatte, hat das getan. In unseren ersten Gesprächen haben wir über die Unterschiede zwischen Gewalt, Macht, Zwang und freier, selbstbestimmter Sexualität gesprochen. Aus diesem Verständnis heraus konnten wir kleine Schritte machen. Was bedeutete Sexualität für sie? Was brauchte sie, um sich dem Thema anzunähern? Wie konnte sie mit dem eigenen Körper anders umgehen?

Der Weg zurück ist oft lang

Betroffene sexualisierter Gewalt bevorzugen mitunter, sich selbst nicht anzufassen. Sie benutzen zum Beispiel Körperspray statt Bodylotion oder Waschlappen statt Hände. Meiner Klientin habe ich mitgegeben: Probieren Sie es mal mit der direkten Berührung. Denn es sind Ihre Hände, nicht die Ihres Onkels. Diese Übung war ein Schritt von sehr vielen in einem langen Beratungsprozess. Sie hat den Schritt gewagt – und viele weitere.

Ein solcher Weg ist wirklich lang, und natürlich gibt es immer wieder Rückschritte. Deswegen üben wir in der Beratung Exit-Strategien, die Betroffene anwenden können, wenn alte Erfahrungen hochkommen. Zum Beispiel, sich bewusst ins Hier und Jetzt zurückzudenken: Welcher Tag ist heute, wo bin ich, wer ist bei mir? Auch gute Rahmenbedingungen helfen, wie Licht oder eine offene Schlafzimmertür.

Hier gibt es Hilfe und Beratung

Für alle Betroffenen und Angehörigen

Weißer Ring

Polizeiliche Kriminalprävention

kostenloses Hilfetelefon sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530

Für Frauen

kostenloses Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen«: 08000 116016

Frauenhaussuche

Für Männer

kostenloses Hilfetelefon »Gewalt an Männern«: 0800 1239900

Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz

Für Kinder und Jugendliche

Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche: 0800 111 0 333

Online-Beratung für Jugendliche: Nina Info

Und was kann die Außenwelt tun? Wir machen es den Betroffenen unnötig schwer, wenn wir sie in einer Sackgasse sehen. Es ist einfacher, den Weg zu einer positiv erlebten Sexualität zurückzufinden, wenn die Umwelt das für möglich hält.

Die Gesellschaft sollte Betroffenen zugestehen, Sexualität wieder zu leben. Egal, ob sie mit wechselnden Partnern stattfindet wie bei Natalie oder für eine Weile gar nicht wie bei der anderen Klientin: Allein die betroffene Person entscheidet – nicht ihre Familie, Freunde oder ein Therapeut. Aber sie alle können Gespräche anbieten und fragen, wie sie helfen können.

Und nun sind Sie dran: Das »Opfer«-Bild überdenken

Der Anfang dieser Übung ist ein Worttausch. Ersetzen Sie in Ihrem Vokabular »Opfer« durch »Betroffene«. Überlegen Sie nun, was Ihr persönliches Bild von Betroffenen sexualisierter Gewalt ist. Schreiben Sie fünf Dinge auf, die Ihnen einfallen. Es dürfen auch Vorurteile sein – dann können Sie sie reflektieren und neu bewerten. Schauen Sie nun auf Ihre Liste und überlegen Sie, was davon das Leben der Betroffenen beschränkt und ob Ihnen stattdessen etwas einfällt, das Möglichkeiten eröffnet.

* Name von der Redaktion geändert

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