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Storks Spezialfutter: Taufliegen, die Karussell fahren

Studien legen nahe, dass selbst Insekten ähnliche Empfindungen haben wie wir. Höchste Zeit, unseren Umgang mit Tieren zu überdenken, findet unser Kolumnist.
Ein hoher Kettenkarussell-Turm erstreckt sich in den Himmel, umgeben von schwebenden Sitzen, die Menschen tragen. Der Turm ist mit bunten Lichtern geschmückt, die im Kontrast zum blauen, leicht bewölkten Himmel stehen. Die Menschen scheinen in der Luft zu schweben, während sie die Fahrt genießen.
Ob auch für Fliegen nur Fliegen schöner ist, als sich mit einem Karussell in die Luft zu schwingen, weiß keiner. Studien zeigen jedenfalls: Tiere sind uns ähnlicher, als wir glauben.

Vor kurzer Zeit bin ich auf eine Wissenschaftsmeldung gestoßen, die ich gleichermaßen bezaubernd wie verstörend finde: Taufliegen fahren gerne Karussell. Das ist – leicht zugespitzt – die Quintessenz einer aktuellen Studie, die unter dem Titel »Play-like behavior exhibited by the vinegar fly Drosophila melanogaster« im Fachjournal »Current Biology« erschien.

Für die Studie wurden 95 männliche Taufliegen einzeln für 48 Stunden unter ein Uhrenglas in eine kleine Arena von zehn Zentimeter Durchmesser gesetzt. In der Arena hatten die Fliegen Zugang zu Wasser und Nahrung und zu einer vier Zentimeter breiten, sich drehenden Scheibe – einem Karussell. Mit Kameras haben die Experimentatoren dann die Bewegungsmuster der Fliegen aufgenommen. »Drei Viertel – so genannte Avoider – haben das Karussell gemieden, aber ein Viertel der Fliegen – so genannte Seeker – haben die rotierende Scheibe immer wieder aktiv aufgesucht«, berichtet Wolf Hütteroth, der die Untersuchung am Institut für Biologie der Universität Leipzig zusammen mit Tilman Triphan durchgeführt hat und vor Kurzem an die Northumbria University in Newcastle in England wechselte, wo auch die dritte Autorin Clara Ferreira angestellt ist.

Die Versuche zeigten unter anderem, dass die »Seeker« sogar Zeit für die Nahrungsaufnahme abzwackten, um auf der Scheibe zu sitzen, und dass sie die sich drehenden Scheiben gezielt ansteuerten: Dafür wurden unter dem Uhrenglas zwei Karussells aufgebaut, die sich abwechselnd drehten. In der Auswertung zeigte sich, dass zumindest einzelne Taufliegen das zweite Karussell ansteuerten, sobald das erste aufhörte, sich zu drehen, und wieder zum ersten zurückkehrten, wenn das zweite Karussell die Fahrt eingestellt hatte.

Die Idee, dass Taufliegen in einem kleinen Vergnügungspark hin und her laufen und von einer Attraktion zur anderen wechseln und dabei richtig viel Spaß haben: einfach bezaubernd. Dass es zur Arbeit ernst zu nehmender Forscher und Forscherinnen gehören kann, solche Vergnügungsparks zu bauen: auch nicht schlecht.

Spielen erkennt man an fünf Kriterien

Was die Seeker dazu trieb, sich auf die Scheiben zu setzen, ist natürlich schwer zu sagen. Ist es eine Art von Spiel? Um das zu entscheiden, helfen die fünf Hauptkriterien, die die Wissenschaft an spielerisches Verhalten anlegt: Es hat keine unmittelbare Bedeutung für das Überleben; ist freiwillig, absichtlich und intrinsisch belohnend; unterscheidet sich von den essenziellen, gewohnheitsmäßig gezeigten Verhaltensweisen; tritt wiederholt, aber nicht stereotyp auf; findet ohne Anzeichen von Stress statt. Hütteroth sieht sie alle als erfüllt an: »Wenn diese Kriterien hinreichend sind, dann kann man Insekten wie unseren Fliegen oder auch ballspielenden Hummeln spielerisches Verhalten nicht absprechen.«

Eine Arbeitshypothese Hütteroths lautet, dass die Karussellfahrten auf neuronaler Ebene eine besonders effiziente Methode seien, die Körperwahrnehmung zu verbessern. Auf der drehenden Scheibe mit ihren Fliehkräften können die Taufliegen möglicherweise ein besseres Gefühl für ihre eigene Größe und ihre Proportionen entwickeln – analog etwa zum Nachwuchs von Säugetieren, der in der Wachstumsphase durch Spielen seinen sich verändernden Körper besser zu koordinieren lernt. Die Taufliegen waren zwar schon ausgewachsen, allerdings mussten auch sie nach ihrer Metamorphose aus der Larvenform erst den möglichst guten Umgang mit ihrem Körper erlernen. Dieser biologische Vorteil der besseren Körperwahrnehmungsentwicklung, so Hütteroth, werde möglicherweise individuell abgewogen gegen die Risiken, die mit Spielverhalten verbunden sind (Verletzungsgefahr, Ablenkung von etwaigen Fressfeinden), so dass in einer Population beides vertreten ist – Seeker und Avoider.

Auch wenn wir nicht mit Sicherheit sagen können, ob oder wie sehr die Wahrnehmung der Taufliegen beim Karussellfahren unseren Empfindungen von Spaß und Freude ähnelt, so ist es doch bemerkenswert, wie sehr die Verhaltensweisen unseren eigenen gleichen. Da zeigt sich wieder einmal, dass es die behauptete Trennung zwischen uns und allen anderen Tieren gar nicht gibt, dass unsere Heimat in der viel größeren Natur mit ihren Millionen Arten liegt.

Immer wieder überrascht

Oben habe ich bereits geschrieben, dass ich etwas an dieser Sache verstörend finde. Und das ist nicht die Erkenntnis als solche, sondern die Tatsache, dass dies noch immer eine so große Überraschung hervorzurufen scheint.

Wir Menschen halten uns für ziemlich einzigartig. Und indem wir anderen Arten den unseren ähnliche Verhaltensweisen absprechen, versuchen wir, diese Sonderstellung zu behaupten. Hinzu kommen ganz praktische Gründe. Wenn wir nicht anerkennen, dass auch Tiere Schmerz, Angst, Freude, Zufriedenheit, Trauer und Ohnmacht empfinden – und auch leiden – können, ist es viel leichter, sie so skrupellos zu behandeln, wie wir es tun.

Im 17. Jahrhundert hat der französische Naturphilosoph René Descartes weithin unwidersprochen alle Tiere zu fühllosen Automaten degradiert. Da sind wir heute immerhin ein bisschen weiter. Aber: Nicht nur unter Anglerinnen und Anglern ist der Glaube bis heute weit verbreitet, dass Fische keine Schmerzen empfinden können, auch wenn Studien das widerlegen. Ähnliche Debatten gibt es um das Schmerzempfinden von Schalentieren wie Hummern, die in den meisten Ländern immer noch bei lebendigem Leib ins kochende Wasser geworfen werden, von Muscheln, die zum Teil noch lebend verspeist werden, oder von Tintenfischen. Auch in diesen Fällen belegenStudien, dass die Tiere Schmerzen empfinden können.

Der Mensch ist wirklich ein ganz besonderes Tier. Als eine von wenigen Arten – gemeinsam zum Beispiel mit Elefanten, anderen Menschenaffen, Hunden, Schweinen, Rabenvögeln und Delfinen – sind wir in der Lage, Empathie zu empfinden. Besonders menschlich ist allerdings auch die Fähigkeit, die Empathie ganz nach Bedarf an- und abzuschalten. Ohne dieses Spezialtalent wären viele Haltungsbedingungen unserer Nutztiere kaum möglich.

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