Tierwohllabel: Eine Frage der Haltung
Ist das Rind jemals über eine Weide gelaufen, bevor man es zum Schlachthof führte? War der Schweinestall ausreichend groß und bot sogar Stroh zum Wühlen? Durfte das Huhn zu seinen Lebzeiten im Freien scharren und Sandbäder nehmen? Umfragen zufolge spielen die Bedingungen, unter denen Tiere gehalten werden, für immer mehr Verbraucher und Verbraucherinnen eine Rolle. Zwar sind Preis und Geschmack für viele Menschen nach wie vor entscheidende Kriterien beim Kauf von Fleisch und Wurst. Aber eben nicht die einzigen.
Die Gesundheit und das Wohlbefinden von Nutztieren rücken immer stärker in den Fokus der Gesellschaft. Das belegt der »Ernährungsreport 2022« des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Für diesen Bericht haben Mitarbeitende des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Frühjahr 2022 rund 1000 Deutsche nach ihren Ess- und Einkaufsgewohnheiten gefragt. 80 Prozent davon gaben an, bei tierischen Produkten auf die Haltungsbedingungen zu achten. Viele erklärten sich auch durchaus bereit, fürs Tierwohl tiefer in die Tasche zu greifen. Statt 10 Euro pro Kilogramm Fleisch würden 36 Prozent der Befragten das Doppelte oder sogar noch mehr bezahlen, wenn die Tiere besser gehalten werden als vom Gesetz vorgeschrieben. 45 Prozent wollten dafür immerhin bis zu 15 Euro und 13 Prozent bis zu 12 Euro ausgeben.
Eine solche Investition lohnt sich möglicherweise nicht nur aus Gewissensgründen. Einige Studien zeigen nämlich, dass der Griff zu Produkten aus artgerechter Tierhaltung auch das Geschmacksempfinden von Menschen beeinflussen kann. Sabine Gross, Megan Waldrop und Jutta Roosen von der Technischen Universität München baten für eine Studie mehr als 150 Männer und Frauen, vier Sorten von Schinken zu beurteilen. Wussten die Testesser nichts über die Haltung der jeweiligen Schweine, schnitten alle Probierhäppchen gleich gut ab. Sobald die Forscherinnen jedoch die Herkunft thematisierten, änderte sich das: Den meisten Leuten schmeckte das Bioprodukt plötzlich am besten, gefolgt von einer Variante mit einem speziellen Tierwohllabel. Entsprechend war auch die Zahlungsbereitschaft höher. Der konventionelle Schinken dagegen schnitt nun sowohl in Sachen Geschmack als auch beim erzielbaren Kaufpreis am schlechtesten ab.
Das gleiche Rindfleisch schmeckte den Leuten besser, wenn sie es für ein Bio- oder Weidefleischprodukt hielten
Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kam auch ein Team der Universität Göttingen in einer Studie, bei der es um den Geschmack von Hamburgern ging: Das gleiche Rindfleisch schmeckte den Leuten besser, wenn sie es für ein Bio- oder Weidefleischprodukt hielten, und schlechter, wenn es angeblich aus konventioneller Produktion stammte.
Verbindlichkeit auf der Packung
Angaben über die Art der Tierhaltung können also tatsächlich Kaufentscheidungen beeinflussen. Die dazu nötigen Informationen liefern spezielle Tierwohlsiegel, die von den verschiedensten Organisationen herausgegeben werden. Auf freiwilliger Basis können Betriebe ihre Produkte damit kennzeichnen lassen, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen. Und die Kundschaft im Laden honoriert das: Laut Ernährungsreport finden es 89 Prozent der Befragten wichtig oder sehr wichtig, auf Lebensmittelpackungen Hinweise zum Tierwohl zu sehen. Fast ebenso viele wünschen sich allerdings nicht nur freiwillige, sondern gesetzlich vorgeschriebene Angaben dazu.
Über ein solches Pflichtlabel gab es in den vergangenen Jahren immer wieder heftige Diskussionen. Nun aber wird es Realität: Neben den schon bestehenden Siegeln wird es künftig für Produkte aus allen Haltungsformen ein verbindliches staatliches Etikett geben. Am 16. Juni 2023 beschloss der Bundestag einen entsprechenden Gesetzentwurf von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir.
In einem ersten Schritt gilt die Kennzeichnungspflicht für frisches, unverarbeitetes Schweinefleisch, das in Geschäften und im Onlinehandel angeboten wird. Nach und nach will das Landwirtschaftsministerium die Vorschriften dann auch auf Produkte wie Wurst und auf andere Vermarktungswege wie Gastronomie und Außer-Haus-Verpflegung ausweiten. Weitere Tierarten wie Rinder und Geflügel sollen bis 2025 folgen. Vorgeschrieben ist die Kennzeichnung aus juristischen Gründen allerdings nur für Tiere, die in Deutschland gemästet wurden. Für Lebensmittel aus anderen Staaten ist die Kennzeichnung mit dem staatlichen Siegel lediglich freiwillig.
Wie das Siegel aussehen wird, steht auch schon fest: Das schwarz-weiße Logo wird jedes Produkt in eine von fünf Kategorien einordnen. Die schlechteste Einstufung »Stall« bedeutet, dass lediglich die gesetzlichen Mindestanforderungen eingehalten wurden. Einem 50 bis 110 Kilogramm schweren Mastschwein stehen demnach gerade einmal 0,75 Quadratmeter Platz zu. In eine 75-Quadratmeter-Wohnung müssten sich theoretisch also rund 100 Schweine quetschen.
Ist auf dem Produkt die zweite Kategorie »Stall+Platz« angegeben, muss das Tier mindestens 12,5 Prozent mehr Fläche in einem etwas abwechslungsreicher gestalteten Stall sowie Raufutter in Form von Heu oder Stroh zur Verfügung gehabt haben. Damit lebt ein solches Schwein allerdings immer noch auf einer Fläche, die mit etwas mehr als 0,84 Quadratmetern kleiner ist als eine herkömmliche Gymnastikmatte.
Die nächstbessere Stufe nennt sich »Frischluftstall« und bedeutet, dass die Tiere Kontakt zu Sonne, Wind und Regen sowie zu unterschiedlichen Klimabereichen bekommen. Das geht beispielsweise in Ställen, die offene Seiten haben. Zudem bekommt jedes Tier mindestens 45 Prozent mehr Fläche als beim gesetzlichen Mindeststandard, also etwas mehr als einen Quadratmeter.
Schweine, die im Vergleich zu den gesetzlichen Vorschriften mindestens 100 Prozent mehr Platz haben und Auslauf bekommen oder dauerhaft im Freien leben, fallen in die Kategorie »Auslauf/Weide«. Und für die Königsklasse der Tierhaltung, die als »Bio« gekennzeichnet wird, sind die Ansprüche noch höher: Hier werden Tiere eingeordnet, die nach den Vorgaben der EU-Ökoverordnung gehalten werden. Diese müssen bei einem Gewicht von 50 bis 110 Kilogramm mindestens 1,3 Quadratmeter Platz im Stall und zusätzlich einen Quadratmeter Auslauf im Freien bekommen.
Ob die Vorgaben eingehalten werden, kontrollieren die zuständigen Behörden der einzelnen Bundesländer. Verstöße können mit Bußgeldern bestraft werden.
Tierschützer äußern Bedenken
Dem Deutschen Tierschutzbund gehen diese Regelungen allerdings nicht weit genug. Das neue Gesetz helfe keinem einzigen Tier, sondern zementiere die vielfach katastrophalen Bedingungen in der landwirtschaftlichen Tierhaltung, kommentierte dessen Präsident Thomas Schröder den Bundestagsbeschluss. Die beiden Stufen »Stall« und »Stall+Platz« seien eindeutig tierschutzwidrig, bekämen durch das neue Etikett aber eine Art staatliche Legitimation.
Bedenklich finden Tierschützerinnen und Tierschützer auch die Tatsache, dass sich das Pflichtlabel bloß auf die Verhältnisse während der Mast bezieht, nicht aber auf Transport und Schlachtung. Eine transparente Kennzeichnung müsse das ganze Leben eines Tieres von der Zucht bis zur Schlachtung beurteilen, lautet die Kritik.
»Eine transparente Kennzeichnung muss das gesamte Leben des Tieres, von der Zucht bis zur Schlachtung, abbilden«Deutscher Tierschutzbund
Tatsächlich haben etliche Organisationen ihre schon seit Jahren bestehenden Tierwohllabels an deutlich strengere Bedingungen geknüpft. Der Deutsche Tierschutzbund zum Beispiel unterscheidet bei seiner eigenen Auszeichnung »Für mehr Tierschutz« zwei Kategorien: In der so genannten »Einstiegsstufe« sind für Mastschweine nur Ställe mit Kontakt zum Außenklima erlaubt, in denen pro Betrieb nicht mehr als 3000 Tiere gehalten werden dürfen. In solchen Ställen haben Schweine mit einem Gewicht zwischen 50 und 110 Kilogramm mindestens 1,3 Quadratmeter Platz und sind nicht gezwungen, in ihrem eigenen Kot zu liegen. Damit sie sich beschäftigen können, bekommen sie zusätzlich zu Behältern mit Heu und Stroh auch andere geeignete Materialien zur Verfügung gestellt wie von der Decke hängende Hanfseile oder Holzbalken. Und auch eine Möglichkeit zum Scheuern steht ihnen zu. Die Schwänze zu kupieren, ist ebenso verboten, wie gentechnisch verändertes Futter zu verabreichen.
Die Anforderungen in der »Premiumstufe« gehen noch mal weit darüber hinaus. Hier dürfen höchstens 2000 Mastschweine pro Betrieb gehalten werden. Außerdem bekommen die Tiere 1,5 Quadratmeter Platz, also doppelt so viel wie gesetzlich vorgeschrieben. Und sie müssen ständig Zugang zu Frischluft und einem Auslauf haben sowie mehr Beschäftigungsmöglichkeiten als in der Einstiegsstufe.
Verliehen wird das Tierschutzsiegel aber nicht nur für die Schweinehaltung, sondern auch an Rinder- und Geflügelbetriebe. Milchkühe zum Beispiel müssen im Stall mindestens sechs Quadratmeter Fläche mit getrennten Bereichen zum Liegen, Laufen und Fressen zur Verfügung haben. Unter ihren Hufen muss Stroh liegen, sie dürfen nicht angebunden werden und können sich zum Beispiel durch Scheuerbürsten mehr Komfort verschaffen. In der Premiumstufe haben sie zudem das ganze Jahr über Auslauf und dürfen zwischen Frühjahr und Herbst auf die Weide.
Die Vielfalt der Siegel
Es gibt aber noch eine ganze Reihe weiterer Labels, die hohe Ansprüche an die Qualität der Tierhaltung stellen. Das gilt zum Beispiel für das EU-Biosiegel in Form eines grünen Blattes. Dieses Logo ist für die meisten in der EU gehandelten Bioprodukte vorgeschrieben, darunter auch Fleisch, Wurst und Milch. Es bescheinigt den jeweiligen Betrieben, dass sie strenge Vorschriften zum Tierschutz eingehalten haben. Betrachtet wird dabei eine ganze Palette von Kriterien: von der Herkunft der Tiere über Futtermittel, Krankheitsvorsorge und tierärztliche Behandlung bis hin zur Reinigung der Ställe. In Deutschland können Bioprodukte zusätzlich auch mit dem sechseckigen nationalen Biosiegel gekennzeichnet werden, das an ähnliche Voraussetzungen geknüpft ist. Noch strenger sind in den meisten Fällen die Tierwohlkriterien von Bioverbänden wie Naturland, Bioland oder Demeter.
Und auch der 1988 gegründete Verein Neuland, der vom Deutschen Tierschutzbund, vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft getragen wird, sieht sich in dieser Hinsicht als Vorreiter. Fleisch mit seinem Siegel stammt zwar nicht von zertifizierten Biohöfen, sehr wohl aber von solchen, auf denen eine artgerechte Tierhaltung großgeschrieben wird.
Rinder und Schweine haben dort zum Beispiel mindestens doppelt so viel Platz wie bei konventioneller Tierhaltung, stehen im Stall auf Stroh und haben Auslauf ins Freie. Jedes Rind darf mindestens 120 Tage im Jahr auf die Weide. Kälber wachsen die ersten sechs bis acht Monate bei ihren Müttern in der Herde auf, und auch Ferkel können das Familienleben länger genießen als üblich. Für Geflügel ist ganzjähriger Auslauf vorgeschrieben, Hühner und Puten müssen Gelegenheit zum Sandbaden haben, Gänse Zugang zu Badewasser. Zudem werden Rinder nicht enthornt, Schweine behalten ihre Ringelschwänze und bei Hühnern ist das Kupieren der Schnäbel verboten. Und wenn es schließlich zum Schlachthof geht, darf der Transport nicht länger als vier Stunden dauern und muss von der Bäuerin oder dem Bauern selbst begleitet werden.
Neben dieser Premiumklasse der Tierwohllabels gibt es aber auch solche mit weniger strengen Anforderungen. Dazu gehört zum Beispiel das gelb umrahmte Logo der 2015 gegründeten »Initiative Tierwohl«, in der Land- und Fleischwirtschaft mit Supermarktketten und weiteren Unternehmen aus Handel und Gastronomie zusammenarbeiten. Bei dieser Organisation zahlen die Abnehmer von Fleischprodukten einen bestimmten Aufpreis. Das so eingenommene Geld kommt dann den Landwirten zugute, die ihre Tiere besser halten als vom Gesetz vorgeschrieben.
Mittlerweile machen in Deutschland mehr als 12 000 Höfe bei dieser Initiative mit. Sie müssen zum Beispiel an einem Antibiotika-Monitoring teilnehmen und ihren Tieren etwas mehr Platz zur Verfügung stellen als in der konventionellen Tierhaltung üblich. Darüber hinaus gibt es je nach Tierart weitere Anforderungen. Schweine zum Beispiel haben das Recht auf eine Mindestmenge an Tageslicht und bekommen zusätzlich zu ihren normalen Mahlzeiten Raufutter wie Stroh, Heu oder Kleie. Zudem müssen einmal im Jahr die Qualität ihres Trinkwassers und das Klima in ihrem Stall überprüft werden. Nach Angaben der Initiative Tierwohl werden in Deutschland inzwischen rund 90 Prozent aller Hühner und Puten sowie die Hälfte aller Mastschweine nach diesen Vorgaben gehalten.
Ein Zeichen für mehr Überblick
Neben ihrem eigenen Logo gibt die Organisation noch ein zweites Siegel heraus, das sich auf vielen Supermarktprodukten findet. Seit 2019 wird Schweine-, Rind- und Hühnerfleisch damit ausgezeichnet, 2022 ist auch Milch dazugekommen. Dieses »Haltungsform«-Etikett soll der Kundschaft im Laden helfen, sich im Dschungel der vielen unterschiedlichen Tierwohlkennzeichnungen besser zurechtzufinden. Auf der Packung wird es zusätzlich zu den bestehenden Labels angebracht und ordnet diese in vier Stufen mit unterschiedlich strengen Vorgaben ein.
Die rot markierte Kategorie 1 »Haltungsform: Stall« steht dabei für Fleisch aus Betrieben, die in Sachen Platz und Haltung, Fütterung und Beschäftigung der Tiere nicht über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinausgehen. Die hellblaue Stufe 2 »StallhaltungPlus« gewährt den Tieren mindestens 10 Prozent mehr Fläche, die orangefarbene Stufe 3 »Außenklima« 40 Prozent mehr Platz und Kontakt zu Sonne, Wind und Regen. Und schließlich gibt es noch die grün gekennzeichnete Haltungsform 4 »Premium«, die zum einen doppelt so viel Platz im Stall bietet wie gesetzlich vorgeschrieben. Zum anderen haben die Schweine dort auch ständig Zugang zu einem Auslauf oder werden das ganze Jahr im Freien gehalten.
In diesen Goldstandard des Haltungsform-Labels fallen Produkte mit dem Tierschutz- oder Neuland-Siegel sowie sämtliche Bioprodukte. Die eigenen Betriebe der Initiative Tierwohl müssen dagegen deutlich weniger strenge Kriterien einhalten und kommen in der Regel über die zweitschlechteste Stufe »StallhaltungPlus« nicht hinaus. Ob dieses Tierhaltungsmodell noch lange Bestand hat, ist allerdings fraglich. Denn der Einzelhandel stellt sein Frischfleischangebot langsam, aber durchaus merklich auf höhere Tierwohlanforderungen um.
So hat die Umweltschutzorganisation Greenpeace im Mai 2023 acht große Supermarktketten nach dem Fleisch- und Milchsortiment ihrer Eigenmarken befragt. Demnach dominiert mit 87,3 Prozent zwar immer noch Fleisch aus den beiden untersten Kategorien 1 und 2 die Regale und Kühltheken. Doch vor allem bei Rind- und Schweinefleisch gibt es bereits deutliche Verschiebungen von »Stall« zu »StallhaltungPlus«: Stammten 2021 noch 33,8 Prozent des gesamten Frischfleischs aus der schlechtesten Haltungsform, waren es zwei Jahre später nur noch 13,5 Prozent. Und dieser Trend dürfte sich fortsetzen. Aldi hat beispielsweise angekündigt, Ware aus »Stallhaltung« bis 2025 und solche aus »StallhaltungPlus« bis 2030 vollständig aus dem Sortiment zu nehmen. Edeka, Netto, Kaufland, Rewe und Penny wollen laut Selbstauskunft gegenüber Greenpeace ab 2030 ebenfalls nur noch Frischfleisch der Kategorien 3 und 4 verkaufen, auch Lidl plant Ähnliches. Vielen Tierschützerinnen und Tierschützern mag das nicht schnell genug gehen. Doch der Fortschritt, so sagt man, ist eben eine Schnecke. Kein Schwein.
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