Statistik: Viele Ärzte müssen glauben
"Einem Menschen ein 'hohes Risiko' zu attestieren, ist mittlerweile zu einer eigenen Krankheit geworden", so Teppo Järvinen von der Universität Helsinki. Der finnische Forscher hat kürzlich untersucht, wie Ärzte die Risikoeinschätzung in Bezug auf die Krankheiten ihrer Patienten betreiben. Dabei kam zu Tage, dass zu oft der potenzielle Nutzen eines Tests oder einer Behandlung überzeichnet und die Gefahr bei unterlassener Therapie drastisch übertrieben werde, so der Arzt. "Auf diese Weise werden Gesunde krank gemacht und krank geredet." Laut Järvinen sind die meisten Ärzte statistische Analphabeten und würden so wenig wie ihre Patienten verstehen, was Risikoangaben eigentlich bedeuten.
Es gibt keine gute Medizin ohne Statistik. Das ist vielen Medizinstudenten nicht wirklich bewusst. Warum sollte sich ein angehender Arzt mit Statistik befassen? Das Wissen, auf dem ärztliches Handeln basiert, stammt aus langjähriger Forschung und Studien, deren Schlussfolgerungen auf Statistik basieren. Es ist wichtig zu verstehen, wo dieses Wissen herkommt und wie es entstanden ist.
Und dennoch sind die Statistikkurse an der Uni bei den Studenten nicht gerade beliebt. Vor allem bei denen, die schon in der Schule heilfroh waren, als das Fach Mathematik überstanden war. Statistik ist für viele ein komplizierter Zahlenwust mit diffusen Formeln und Regeln, die doch auch ein Computer erledigen kann. Oder eben richtige Statistiker. Warum sich viele Medizinstudenten und auch Ärzte mit dem Thema Statistik befassen sollten, erschließt sich erst, wenn man erkannt hat, wie man ohne dieses Wissen manipuliert werden kann – und mit ihm seinen Patienten durch richtige Einschätzung von Studien und Forschungsergebnissen besser helfen kann.
Relativ oder absolut?
Sollten sie nicht in ihrem Studium darauf vorbereitet worden sein? Gerade Ärzte sollten doch wissen, wie sie Risiken interpretieren; schließlich sind sie es ja, die ihren Patienten auf Grund solcher Angaben Medikamente und Therapien verschreiben. "Ärzte verschreiben enthusiastisch ein neues Osteoporose-Mittel, weil es die Wahrscheinlichkeit, eine Hüftfraktur zu vermeiden, von 97,9 auf 98,9 Prozent erhöht", sagt Järvinen. "Wahrscheinlich wurde das als 50-prozentige Risikominderung angepriesen, um den Nutzen eindrucksvoller aussehen zu lassen." Das ist ein beliebter Trick. Doch den Unterschied zwischen absoluter und relativer Risikoreduktion kennen viele Ärzte nicht.
Die absolute Risikoreduktion in diesem Beispiel ist, dass die Gefahr für eine spätere Fraktur von mickrigen 2,1 gerade einmal auf 1,1 Prozent verringert wird. Relativ gesehen jedoch verringert sie sich um stolze 50 Prozent, was sich als Werbung für ein neues Produkt natürlich viel besser macht. Eigentlich ganz einfach.
"Es gibt zwar lobenswerte Ansätze, die Kommunikation über Vor- und Nachteile in der Medizin zu verbessern, […] doch der Analphabetismus in Sachen Risikoabschätzung ist bei Ärzten wie Patienten immer noch riesengroß", sagt Järvinen. Nur auf Grund dieser Blindheit für die eigentlichen Gefahren sei es den Fachverbänden der Kardiologen möglich gewesen, vor zehn Jahren die Grenzwerte für Blutdruck und Cholesterin so weit zu senken, dass den meisten Erwachsenen ein hohes Risiko angedichtet wurde. "Hätte man sich danach gerichtet, wäre zur Behandlung von Hochdruck und Cholesterin das gesamte Budget im Gesundheitswesen draufgegangen."
Was für den Geldbeutel der Pharmaindustrie gut ist, ist nicht immer für den Patienten gut. So bemerkt Järvinen auch, dass Patienten oft ein ganz anderes Verständnis davon hätten, ab welchem Risiko sie überhaupt sinnvollerweise eine Therapie benötigen. Während die Produkthersteller am liebsten schon ab geringen Risikoreduktionswerten ihre Medikamente an den Patienten bringen würden, wären die Konsumenten eigentlich erst ab über 20 Prozent absoluter Risikoreduktion dazu bereit, diese für sie bitteren Pillen zu schlucken.
Doch wer legt fest, ab wann der Patient eigentlich ein Patient ist und damit behandlungsbedürftig? Im Prinzip liegt die Entscheidung hier wieder beim behandelnden Arzt, und deswegen muss der sich mit der Interpretation von klinischen Studien und daraus gewonnenen Daten beschäftigen. Er ist sogar laut Bundesgerichtshof rechtlich dazu verpflichtet, "sich bis an die Grenze des Zumutbaren über die Erkenntnisse und Erfahrungen der Wissenschaft unterrichtet zu halten". Und dazu gehört auch die "Lektüre führender Fachzeitschriften. Denn wenn der Arzt diese Pflicht versäumt, kann dies zu einem groben Behandlungsfehler führen", schrieb das Oberlandesgericht Koblenz in einem Urteil von 2011.
Statistik im Studium
Doch natürlich muss der Arzt die Sachen, die er liest, auch verstehen. Eine vor knapp 40 Jahren durchgeführte Umfrage des "New England Journal of Medicine" unter Medizinstudenten und Ärzten aus Harvard untersuchte das Verständnis von Ergebnissen diagnostischer Tests. Sie wurden gefragt:
"Wenn ein Test, der eine Krankheit mit einer Prävalenz von 1/1000 detektiert, eine Falsch-positiv-Rate von 5 % hat, wie hoch ist dann das Risiko, dass eine Person, die ein positives Testergebnis hat, wirklich die Krankheit hat? (angenommen, Sie wissen sonst nichts weiter über ihre Symptome)."
Schockierendes Ergebnis: Weniger als fünf Prozent der Befragten konnten die richtige Antwort geben. Die meisten dachten fälschlicherweise, dass der hypothetische Patient zu 95 Prozent die Krankheit hat.
Natürlich kann man jetzt sagen, die Umfrage liegt lange Zeit zurück, und inzwischen müsste sich ja das statistische Verständnis der Medizinstudenten verbessert haben, wo man es schon in ihren Stundenplan integriert hat. Doch traurigerweise ist dem nicht so. Vor zwei Jahren wurde der Test mit Medizinstudenten und Ärzten wiederholt.
Das Ergebnis: 75 Prozent der Befragten lagen wieder falsch, fast die Hälfte schätzte das Risiko mit 95 Prozent ein. "Das große Problem heutzutage ist, dass in der medizinischen Ausbildung zu wenig Wert auf Unterricht in evidenzbasierter Medizin gelegt wird, wie beispielsweise Biostatistik und Epidemiologie", schreibt der amerikanische Medizinstudent Walter Wiggins in seinem Blog. Zwar gibt es Angebote an der Universität und teilweise auch Pflichtkurse in den Fächern, den Studenten wird das nötige Wissen aber dennoch nur spärlich vermittelt.
"Einerseits dachten meine Kommilitonen und ich einfach nicht, dass Statistik wichtig genug war, um sie ernst zu nehmen und darauf richtig zu lernen. Andererseits wurde die Relevanz für unsere späteren medizinischen Entscheidungen auch nicht wirklich betont, und der Kurs selbst war ein langweiliges Absitzen", so Wiggins. "Natürlich mussten wir für das Examen grundlegende Prinzipien und Rechnungen lernen, aber danach hat sich keiner mehr darum gekümmert, und es wurde schnell wieder vergessen."
Viele Ärzte müssen glauben
"Wir gehen davon aus, dass Ärzte ausgewogen und kenntnisreich Empfehlungen über das Leben der Patienten abgeben, die vor ihnen sitzen", sagt Järvinen. Leider sei das trotz Medizinstudiums und klinischer Ausbildung oft nicht der Fall. "Führen etwa die Blinden die Blinden?" Auch in Deutschland ist die Situation ähnlich. Statistikkurse sind zwar fester Bestandteil des Curriculums, ernst genommen werden sie von den meisten Medizinstudenten jedoch nicht.
Studienstatistiken zu interpretieren, ist aber nicht einfach. Oft ist undurchsichtig, wer sie finanziert und was mit den gewonnenen Daten wie angestellt wurde. Es gibt natürlich immer wieder gefälschte Statistiken, es gibt aber auch solche, die einfach falsch oder naiv interpretiert werden. Skepsis und Hinterfragen sind immer angebracht. Wer dies nicht tut, ist aufgeschmissen. "Das Unwissen wird von der Industrie und anderen Interessenvertretern beinhart ausgenutzt. Statistik wird so präsentiert, wie sie ins Konzept passt. Viele Ärzte müssen Ergebnisse glauben, weil sie sie nicht selbst interpretieren können", so der Direktor der österreichischen Cochrane-Zweigstelle Gerald Gartlehner.
Welche Auswirkungen das für den Patienten haben kann, erläutert Gartlehner auch gleich an einem Beispiel: "Bei einer Konferenz in Deutschland wurden Gynäkologen befragt, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Frau mit einem positiven Brustkrebs-Screening tatsächlich Brustkrebs hat. 90 Prozent konnten das nicht interpretieren, die meisten haben es überschätzt. Tatsächlich liegt die Wahrscheinlichkeit bei nur zirka zehn Prozent, alles andere sind falsch positive Befunde. Wenn eine Frau nun fragt: 'Was bedeutet das für mich, habe ich wirklich Krebs?' und der eigene Gynäkologe das nicht interpretieren kann, dann ist das natürlich dramatisch für die Frau. Das ist statistischer Analphabetismus mit Konsequenzen im täglichen Leben."
Laut Gartlehner seien jüngere Mediziner zwar oft wesentlich kritischer eingestellt, die Statistik wäre aber nach wie vor etwas, was man offenbar im Studium nicht ausreichend lernt. "Pharmavertreter kommen mit gut gemachten Broschüren, schön aufbereiteten Statistiken und einfachen Antworten und haben dann zehn Minuten, um den Arzt zu überzeugen". Und die meisten schaffen es auch. Ohne Grundkompetenzen in Statistik ist kritisches Hinterfragen in der Medizin nicht möglich. Deswegen lohnt es sich, beim nächsten Statistikkurs doch etwas genauer aufzupassen. Man sollte hier wirklich einmal nicht nur für die Klausur, sondern fürs Leben lernen.
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