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Kolumnen: Von der Bürzeldrüse

Sie denken, Sie wüssten, woraus Sie bestehen? Sie denken, Sie kennen Ihre Organe? Sie denken, Sie seien komplett? Halbwegs komplett wenigstens? (Denn hin und wieder bringt einem das Schicksal um das ein oder andere Organ ...). Ha! Sie haben keine Ahnung! Sie sind nicht komplett, Sie sind überkomplett, übermöbliert, überausgestattet, mit nutzlosen Gimmicks und Gizmos überladen wie ein Programm von Microsoft (gerade glotzt mich wieder diese unsägliche Büroklammer an).

Sie haben nämlich eine Bürzeldrüse, jawohl, und vermutlich sitzen Sie gerade darauf, ohne es je gewusst oder bemerkt zu haben. Und ich und mein Doktorand, wir sind die einzigen Menschen auf der ganzen weiten Welt, die die Bürzeldrüse des Menschen beforschen. Und mein Doktorand ist der einzige Mensch auf der Welt, der die Bürzeldrüse des Menschen heraus präparieren kann (siehe Fußnote 1). Das ist nämlich ziemlich schwierig, denn das Ding ist winzig und sitzt an einer delikaten Stelle. An der Spitze des Steißbeins nämlich, vulgo also zwischen A... und Schwanz (Fußnote 2), weil das Steißbein der verkümmerte Rest eines Affenschwanzes ist, den wir sozusagen verinnerlicht haben. Anatomisch gesprochen: Es handelt sich um ein kleines Organ auf der Innenfläche und an der Spitze des Os coccygis (3), das den Endästen der Arteria sacralis mediana anliegt.

Steißbein | Das Steißbein des Menschen, von vorne (innen) her gesehen: Auf der Vorderfläche liegt die die verzweigte Arteria sacralis mediana, die Knötchen, die man an ihr sieht, sind die Glomera coccygea. Das größte dieser Glomera liegt ganz unten, an der Spitze des Steißbeins – das ist die "Steißdrüse" von Herrn Luschka (siehe Text). Die Blutgefäße und die Glomera, die man hier sieht, liegen nicht "nackt" auf dem Steißbein. Man muss sie vielmehr mühselig aus Fett und Bindegewebe heraus präparieren.
Die Abbildung stammt von J. Staubesand (1953): Der Feinbau des Glomus coccygicum und der Glomera caudalia. Acta anatomica, 19: 105-131.
Es sind sogar viele Organe, lauter kleine Knötchen, die diesen Arterien anhängen (siehe Bild oben). Das an der Spitze des Steißbeins ist das größte unter ihnen, das ist die "Bürzeldrüse". Alle zusammen nennt man auch "Glomera (4) coccygea", was man mit "Kuckucksknäuel" übersetzen kann, was Sie wiederum verstehen würden, hätten Sie nur die Fußnoten 3 und 4 gelesen (5). Entdeckt haben mein Doktorand und ich diese Organe freilich nicht, das war der Herr Luschka (6) im 19. Jahrhundert. Und – auch das muss ich zugeben – er nannte das Knötchen an der Spitze des Os coccygis auch nicht "Bürzeldrüse", sondern "Steißdrüse". Das Wort "Bürzeldrüse" hab' ich verwendet, um Sie in diesen Text zu locken, weil Sie natürlich die Bürzeldrüse der Vögel kennen, mit der die "Steißdrüse" und die Glomera coccygea aber rein gar nichts zu tun haben. "Bürzel-" und "Steißdrüse" liegen nur am selben Ort, in der Nähe des Steißbeins eben, das bei Vögeln halt "Bürzel" heißt, denn auch die die Gefiederten haben, ganz wie wir, ihren verkümmerten knöchernen Schwanz verinnerlicht.

Die Bürzeldrüse der Vögel liegt aber auf der Rückseite des Steißbeins, es ist eine sogenannte exokrine Drüse, das heißt sie gibt ihr (fettiges) Sekret nach außen ab. Die Vögel pflegen damit ihr Gefieder. Die Steißdrüse, die Glomera coccygea liegen an der Vorderseite des Steißbeins, innen also, und sind ergo endokrine Drüsen, die ihr Sekret ins Körperinnere, ins Blut entlassen.

Aber sind es wirklich Drüsen? Oder nur ein nutzloses Gimmick, so überflüssig und rudimentär wie unsere ganze Schwanzwirbelsäule? Denn bei Tieren, die einen richtigen Schwanz haben, liegen diese Glomera in großer Zahl an den Blutgefäßen, die an der Unterseite der Schwanzwirbelknochen entlanglaufen. Dort, so glaubt man, haben diese Glomera mit der Durchblutungsregulation des Schwanzes zu tun. Damit er, wenn's kalt wird, nicht abfriert oder so ... aber dann wären's ja auch gar keine Drüsen, sondern eher Ventile. Und es kommt noch dazu, dass auch wir Menschen solche "Glomera", solche Knötchen, noch an anderen Stellen im Körper haben. In den Fingerspitzen zum Beispiel, massenweise, wo sie tatsächlich der Regulation des Blutflusses dienen. Aber auch anderswo im Körper: Auf der Halsschlagader liegt so ein "Glomus", ein sehr großes sogar. Das ist ein Sinnesorgan, das den Blutdruck und die Sauerstoffsättigung misst. Und auf der Aorta, im Bauch, liegt noch so ein Knöllchen, das den drolligen Namen "Zuckerkandelsches Organ" trägt (7) und dieses Ding ist nun definitiv eine endokrine Drüse.

Was für ein Chaos, was für ein Gedankenknäuel, was allerdings hervorragend zu den Glomera passt: denn Glomus heißt "Knoten". Dennoch: Was nun? Was hat es mit den Glomera coccygea auf sich, wie sehen sie aus, was machen sie, wofür sind sie gut?

An dieser Stelle beginnt der Weg des Leidens und der Lust meines Doktoranden Alex Merkel, Denn er ist ein lustiger Mann, ein leidensfähiger Mann, und ebenso wie ich an allen Abseitigkeiten des Lebens im Allgemeinen und der Anatomie im Besonderen fast mehr interessiert als am faden Mainstream der Wesentlichkeit (8) – weswegen wir uns fanden und ich ihn heuerte. Und er kann etwas, was ich zum Beispiel nicht kann: Er kann diese winzigen, kaum mehr als stecknadelkopfgroßen Glomera heraus präparieren. Dann schneidet er sie mit einem Mikrotom in hauchdünne Scheibchen (so dass man sie im Mikroskop beschauen kann) und färbt diese Schnitte mit allen möglichen Methoden an. Und mitunter merkt er dann, dass das, was er beim Präparieren für ein Glomus hielt, gar keines war, sondern nur ein leicht geschwollenes Blutgefäß. Dann war die ganze Arbeit für die Katz', und er leidet.

Oft aber klappt es doch, dann hat er ein Glomus erwischt, und bekommt im Mikroskop Bilder wie dieses zu sehen:

Blutgefäße | Mikroskopische Aufnahme von Blutgefäßen: Das intensiv rote Material im Zentrum beider Bilder ist Blut, sind rote Blutkörperchen (Erythrozyten), um genau zu sein. Links ein Gefäß aus einem Glomus coccygeum. Der Pfeil weist auf die Wand des Blutgefäßes, die zum Teil (Pfeilspitze) aus "chromaffinen" Zellen besteht, deren Plasma sich leuchtend rot anfärbt. So ähnliche Zellen findet man in der Nebenniere. Rechts zum Vergleich ein normales Blutgefäß aus der Umgebung des Glomus. Der Pfeil weist auf eine ringförmige Muskelschicht in der Wand, wie sie für normale Gefäße typisch ist. Eben diese Muskelschicht fehlt den Gefäßen in den Glomera.
Ihnen mag das fade dünken, der Anatom aber staunt. So ein Glomus coccygeum besteht aus vielen kleinen Blutgefäßen und die Wand der Blutgefäße sieht ganz seltsam aus. Da, wo eigentlich eine Muskelschicht hingehört, liegt ein dickes Polster, ein kräftige Manschette aus Zellen, die – tja, hm – irgendwie "drüsig" aussehen. Man kommt als Anatom im Körper ja rum, man kennt seine Pappenheimer. Und diese Zellmanschette erinnert ans Nebennierenmark. Und das ist eine endokrine Drüse. Eine aufregende endokrine Drüse. Wenn Sie sich nämlich aufregen, Stress haben, sich erschrecken – dann schüttet das Nebennierenmark jede Menge Adrenalin ("Stresshormon") ins Blut, der Blutdruck steigt, der Kamm schwillt, Angst und Zorn steigen Ihnen zu Gemüt.

Also sag' ich zu meinem Doktoranden, er möge doch mit den geeigneten Methoden mal nachsehen, ob in den Glomera coccygea jene Enzyme (9) zu finden sind, die Adrenalin machen. Er knechtet wochenlang im Labor – und ja. In der Zellmanschette und anderswo im Glomus finden sich diese Enzyme. Das Ding könnte Adrenalin produzieren, könnte eine "adrenerge endokrine Drüse" sein.

"Mach mal ein paar nette Fotos", sag ich zu meinem Doktoranden, "ich will 'ne Glosse über die Bürzeldrüse schreiben." Macht er. Danke, Alex!

Und jetzt? Jetzt muss er irgendwann mal eine Doktorarbeit und eine Veröffentlichung über die Glomera coccygea schreiben. Da muss er dann darlegen, dass das alles ganz furchtbar wichtig ist, am besten noch auf klinisch-epidemiologische Studien verweisen, die zeigen, dass hypoplastische Alterationen (10) der Glomera coccygea eine unerkannte Volksseuche sind, womöglich die verborgene Ursache der grassierenden Obstipationsleiden oder des kalten Hinterns, dass dringender Forschungsbedarf besteht, dass Millionen an Forschungsgeldern fließen müssen, und so sie fließen, wird seine Karriere und die seiner zukünftigen Mitarbeiter am seidenen Fädchen der Glomera coccygea hängen, so wie jene an den Ästen der Arteria sacralis mediana.

Ich gönn's ihm ja, aus meinen Doktoranden soll doch mal was werden! Dann also los, mit voller Kraft jetzt auf zum Widerruf des im ersten Absatz Gesagten! Die Glomera – ein funktionsloses Rudiment? Ha, von wegen! Ursache allen Übels! Verstopfung, kalter Hintern, Steißbeinkühle, Enddarmstress, Hämorrhoiden, Dysfunktion der Sphinkteren und anale Parästhesien (11) – alles von den Glomera coccygea!

Schließlich hat die ganze Hirnforschung ja auch mal damit angefangen, dass einer frech behauptet hat, dass (a) das Hirn etwas mit dem Denken zu tun habe, und dass (b) Denken irgendwie wichtig für die Volksgesundheit sei. Kühne Hypothese (12).


Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.


Fußnoten:

(1) Aus Körperspendern der Anatomie, versteht sich.
(2) "Schwanz" ist hier ganz und gar nicht vulgär: gemeint ist "Cauda", nicht "Membrum virile"
(3) Os coccygis: das Steißbein. Verbatim: das "Kuckucksbein", weil es dem Schnabel dieses Vogels ähnlich sehen soll. Tut es aber nicht wirklich, jeder andere leicht gebogene Vogelschnabel hätte auch zur Benennung herhalten können.
(4) Glomus (Plural: Glomera): das (Faden)knäuel, das Knötchen
(5) Subtil, nicht wahr? Wie lockt man den Leser in das Fußnotendickicht ...
(6) Herbert von Luschka, 1820-1875
(7) Das wird eine eigene Glosse ...
(8) Die Beschränkung aufs Wesentliche ist nämlich auch eine Form der Beschränktheit.
(9) Denn es ist – bei so altem "totem" Material, mit dem wir arbeiten (müssen) – einfacher, die Enzyme, die das Hormon machen, als das Hormon selbst nachzuweisen.
(10) Unterentwicklung
(11) Fehlfunktion der Verschlussmuskeln und Juckreiz
(12) Eigentlich, so merke ich gerade, habe ich diese ganze Glosse auf diese zwölfte Fußnote, auf diese Pointe hin geschrieben, die allerdings die Form einer Buchempfehlung hat:
Georg Steiner: Warum Denken traurig macht. Suhrkamp, Frankfurt 2006.

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