Warkus' Welt: Nichts »ist einfach so«
Ich komme aus Rheinland-Pfalz, und dort – aber nicht nur dort – gibt es bekanntlich Landstriche, in denen man Schwierigkeiten hat, die Wörter »Kirche« und »Kirsche« unterschiedlich auszusprechen. Dem Ankämpfen gegen diese regionale Sprachfärbung verdanken wir Helmut Kohls legendäre Rede von der »Gechichte«.
Dass wir überhaupt darüber reden können, dass Menschen etwas so oder so schreiben, aber so oder so sprechen (oder eben nicht), setzt voraus, dass dieses Etwas irgendetwas ist. Und zwar nicht dasselbe wie die schriftliche Notation und auch nicht dasselbe wie das Geräusch beim Aussprechen. Aber was dann?
Um diese »Etwasse«, die bedeutungstragenden Einheiten, sprachwissenschaftlich Phoneme genannt, zu identifizieren, stellt man so genannte Minimalpaare einander gegenüber. Das sind Wörter, die Unterschiedliches bedeuten und sich nur durch einen einzelnen Laut unterscheiden. »Kirche« und »Kirsche« bilden ein solches Minimalpaar, während zum Beispiel zwei verschiedene Aussprachen von »Kirche« mit unterschiedlich gerolltem R keines bilden. Man kann (vereinfacht) sagen, dass ein Phonem gewissermaßen vollständig aus Unterschieden besteht: Wenn etwas nirgendwo einen Bedeutungsunterschied in einem Minimalpaar machen kann, ist es auch kein Phonem.
Dieser Ansatz, ganz davon abzusehen, was etwas »ist«, sondern es völlig dadurch zu bestimmen, dass man es in Beziehungen von Unterschieden einordnet, lässt sich auch auf andere Felder übertragen. So könnte man annehmen, dass die Begriffe, unter die wir Alltagsgegenstände bringen, sich ebenfalls durch Unterschiede bestimmen lassen. Eine Truhe unterscheidet sich beispielsweise von einem Sideboard dadurch, dass sie sich nach oben öffnet, ein Sessel von einem Hocker dadurch, dass er eine Rückenlehne hat, und so weiter. Letztlich lassen sich alle Eigenschaften, die Gegenstände überhaupt haben können, als Unterschiede hinsichtlich ihrer Beziehungen zu anderen Gegenständen beschreiben.
Ein Denken, das Phänomene anhand von bedeutungstragenden Unterschieden in einem Beziehungsgeflecht, also einer Struktur, zu erfassen versucht, nennt man in der Philosophie und in vielen anderen Disziplinen strukturalistisch. Der Strukturalismus ist eines der wichtigsten wissenschaftlichen Phänomene des 20. Jahrhunderts und hat nicht nur die Sprach-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften, sondern auch die Philosophie und Mathematik beeinflusst.
Wie Bedeutung durch Struktur entsteht
Die Struktur im Denken in den Vordergrund zu stellen, hat unter anderem die Auswirkung, dass die Abgrenzung verschiedener Arten von Phänomenen zueinander in Frage gestellt wird. Beliebiges kann im Prinzip beliebige Bedeutung annehmen; die Beziehungen, die darüber entscheiden, müssen weder dauerhaft noch offensichtlich sein. Beispielsweise werden Mythen, Gebote und Verbote, zwischenmenschliche Gepflogenheiten aller Art, in der strukturalistischen Kulturwissenschaft nicht nach ihrer Entstehung oder ihrer Bedeutung für Einzelpersonen bewertet, sondern hinsichtlich ihrer Rolle für die Aufrechterhaltung bestimmter Strukturen.
Die Aufgabe der Wissenschaft ist in ganz unterschiedlichen Gebieten dieselbe: nämlich eine Art mehr oder minder verborgenen, sprachähnlichen »Code« freizulegen, in dem die Phänomene einen Sinn erhalten, so wie Wörter ihre Bedeutung durch die Beziehung zu anderen Wörtern erhalten.
Relativ bald nach der Popularisierung strukturalistischen Denkens in den Geisteswissenschaften im Frankreich der 1950er Jahre entwickelt sich dort ein »Poststrukturalismus«, der neue Fragen danach stellt, wo die »Strukturen«, mit denen man sich beschäftigt hat, eigentlich herkommen und wie sie zu rechtfertigen sind. Die poststrukturalistische Philosophie gilt für viele Kritiker inner- und außerhalb der Philosophie heute als Paradigma für komplexes, unverständliches und schwer überprüfbares Denken. Das ist aber auch fast unvermeidlich, da dort die Voraussetzungen dafür hinterfragt wurden, was es überhaupt heißt, dass es irgendwo Bedeutungen, Unterschiede oder Beziehungen gibt.
Wir leben aktuell in einer Zeit, in der viel davon die Rede ist, dass Komplexität und Beliebigkeit sich reduzieren, dass auf einmal wieder alles einfach und radikal ist – Gut gegen Böse, Vernunft gegen Dunkelheit. Die große philosophische Frage danach, wo Bedeutungen eigentlich herkommen und was die möglicherweise komplexen Grundlagen dessen sind, was uns einfach erscheint, verschwindet dadurch aber nicht. Nichts »ist einfach so«, von den kleinsten Teilen der Sprache an.
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