Warkus' Welt: Wenn Wahrheiten sich ändern
Wie man in diesen Tagen lesen und hören kann, gibt es wieder einmal Diskussionen zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik vor dem Hintergrund der nach wie vor tobenden Pandemie. Der Anlass dafür ist, dass die rechtliche Dauer des Genesenenstatus nach einer Covid-Erkrankung Mitte Januar recht umstandslos und ohne große Diskussion verkürzt wurde, was das Robert Koch-Institut nach geltendem Recht problemlos tun kann.
Während der gesamten Pandemie hat es immer wieder Situationen gegeben, in denen wissenschaftliche oder politische Institutionen zugegeben haben, dass bestimmte, bisher handlungsleitende Annahmen falsch waren. Dies kann explizit erfolgt sein (»wir haben uns geirrt«) oder bloß implizit, indem schlicht nach neuen, anderen Annahmen gehandelt wurde. Teilweise wird dies dadurch verschleiert, dass bestimmte Elemente des Pandemiemanagements nach wie vor in unserer Lebenswelt verblieben sind: Desinfektionsmittel, Trennwände und Laufrichtungspfeile in Supermärkten oder Museen künden von einer »Frühzeit«, in der noch nicht klar war, dass das Virus durch Aerosole auch über weite Strecken übertragen werden kann und Schmierinfektionen zum Beispiel aller Wahrscheinlichkeit nach eher eine untergeordnete Rolle bei der Ansteckung spielen.
Viren mutieren, Therapien und Impfungen entwickeln sich, die Forschung produziert ständig neue Studien und es erscheint völlig klar, dass dann manchmal kommuniziert werden muss, dass das, was noch vor wenigen Monaten als richtig erschien, heute als falsch gelten darf. Wenn man sich in den sozialen Medien ein bisschen umschaut, findet man aber Indizien dafür, dass diese scheinbare Selbstverständlichkeit mit der Intuition kollidiert, dass eben nicht heute falsch sein kann, was bis gestern richtig war.
Man kann sich nicht auf alles verpflichten
Dieses Unbehagen mag damit zu tun haben, dass oft verschiedene Aspekte dessen, was umgangssprachlich Wahrheit heißt, miteinander vermengt werden. Was wahr ist, ist nach landläufiger Vorstellung zugleich gut, und zudem hat Wahrheit irgendwie die Eigenschaft, dauernd oder gar »ewig« zu sein – was wahr ist, kann sich nicht einfach ändern, wie sich ja auch nicht einfach ändern kann, was gut und böse ist.
Doch ist eine Aussage wie »Nach einer Covid-19-Erkrankung ist man etwa drei Monate lang gegen eine Neuinfektion geschützt« nicht auf andere Weise wahr als Sätze wie »Wasser ist nass« oder »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«? Ganz sicher. Politische und wissenschaftliche Institutionen sollten diesen Unterschied entsprechend berücksichtigen. Dabei macht es uns jedoch eine Vermengung verschiedener Aspekte von »Dauerhaftigkeit« schwer: Man kann zwar neutral bewerten, dass bestimmte Sätze ihren Wahrheitswert in nächster Zeit mit mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit wechseln werden. Aber zugleich ist es eine charakterliche Wertung, über jemanden zu sagen, er oder sie »stehe zu seinem Wort«, und in vielen praktischen Belangen ist es schließlich sehr gut, wenn jemand sich dem einmal Gesagten verpflichtet fühlt. Das ist aber eigentlich nur dort sinnvoll möglich, wo das Gesagte ein »performativer Sprechakt« war, für den der Sprecher kompetent war – wenn es sich also um Aussagen handelt, die, wie etwa ein Versprechen oder eine Terminzusage, eine neue Realität schaffen. Auf einen Satz wie »Morgen wird die Sonne scheinen« kann man sich nicht verpflichten, anders als etwa auf »Morgen um acht komme ich in Ihre Sprechstunde«.
Es ist sozusagen durch Unschärfen unserer geläufigen Annahmen über das Verhältnis von Wahrheit, Zeit, Moral, Charakter und menschliches Handeln (um nicht zu sagen: durch unsere Ideologie) vorgeprägt, dass wir uns damit schwertun, wenn Entscheidungen auf Grund einer nach wissenschaftlich-technischem Ermessen veränderten Sachlage revidiert werden. Zahlreiche Vertreter der Sprachphilosophie des mittleren 20. Jahrhunderts hatten die Hoffnung, durch Aufdecken solcher Unschärfen die Kommunikation, die Institutionen und letztlich das ganze Zusammenleben in der Gesellschaft verbessern zu können. Diese Hoffnung scheint weitgehend utopisch geblieben zu sein, aber eine bessere Idee, als solche Verbesserungen anzustreben, immer wieder zu versuchen, zu differenzieren und Klarheit zu schaffen, habe ich auch nicht.
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