Vince Ebert extrapoliert: Was wäre, wenn Amorbach New York wäre?
Ich persönlich bin ein großer Städte-Fan – obwohl (oder gerade weil) ich auf dem Land aufgewachsen bin. In Amorbach, einem kleinen Kaff im bayerischen Odenwald. 4000 Einwohner und drei Nachnamen. Eine der wenigen Städte, deren Stadtplan im Maßstab 1 : 1 herauskommt.
Doch ich wollte schon immer raus in die große Welt. Die tollsten Erlebnisse meiner Kindheit waren die regelmäßigen Shopping-Touren mit meinen Eltern nach Aschaffenburg. The City that never sleeps! Zumindest waren die Geschäfte über Mittag offen. Das absolute Highlight war mein erster Trip nach Frankfurt. Ich war 17 und fuhr heimlich mit meinen Kumpels dorthin. In einem ganz normalen Park fielen uns dann diese vielen gebrauchten Spritzen auf. Und ich habe mir damals gedacht: Mensch, diese armen Diabetiker.
Im Bahnhofsviertel sind wir dann alle zum ersten Mal in einen Stripklub gegangen. Mit 17! Ich saß mit großen Augen in der ersten Reihe, starrte fasziniert auf die Bühne und fragte mich: Drehen sich eigentlich auf der Südhalbkugel die Stripperinnen an der Stange andersherum als hier? Genau deswegen habe ich übrigens Physik studiert.
Darüber hinaus habe ich die Anziehungskraft von Großstädten entdeckt. Damit liege ich im Trend. Im Jahr 1800 lebten nur zwei Prozent der Weltbevölkerung in Städten. Heute sind es 50 Prozent, und bald schon wird der Anteil auf 70 Prozent steigen.
So problematisch die Urbanisierung in Bezug auf ökologische Herausforderungen ist – so positiv wirken sich Städte auf Kreativität aus. Ein biologischer Organismus läuft umso träger und langsamer ab, je größer er wird. Ein Phänomen, das als "Kleibers Gesetz" in der Biologie bekannt ist. Aus diesem Grund ist eine Gazelle deutlich hektischer als ein Blauwal, insbesondere, wenn sich der Blauwal an Land befindet. Zum Beispiel irgendwo im Odenwald.
Geht es aber um Ideenreichtum und Innovationsfähigkeit, dann verhält sich die Sache genau umgekehrt. Der Physiker Geoffrey West fand heraus, dass eine 10-mal größere Stadt 17-mal innovativer ist als die kleine. Dabei maß er Dinge wie die Anzahl von Patenten, die Größe von Forschungsetats oder die Verbreitung schöpferischer Berufe.
Eine 50-mal größere Stadt ist schon 130-mal innovativer. In der Physik nennt man ein solches Verteilungsgesetz "superlineare Skalierung". In einer größeren Stadt steigt also nicht nur die Gesamtzahl der Ideen, sondern auch der Ideenreichtum pro Person. Der Durchschnittsbürger einer Fünf-Millionen-Stadt ist dreimal kreativer als einer, der in einer Stadt mit 100 000 Einwohnern lebt. Von Amorbach will ich gar nicht erst anfangen.
Ballungszentren sind Umgebungen, in denen die wichtigste aller Ressourcen weitergegeben, neu verknüpft und kombiniert wird: Informationen! Oder wie es ein amerikanischer Freund von mir ausdrückte: "The Internet is for people who don't live in New York." Die Dynamik von Städten beruht also vor allem auf freiem Informationsaustausch. Dort treffen Menschen mit exotischen Beziehungsmodellen, verschrobenen Geschäftsideen und grotesken Lebensentwürfen zusammen. In Berlin, New York oder Tokio kann jeder seinen Geschäften und Ideen nachgehen, aber die Stadt gehört allen. Sie ist vielfältig, bunt und mannigfaltig. Je größer die Stadt, desto wahrscheinlicher trifft man dort Künstler, Lesben, Krebsforscher, Playboys, Leihmütter, Erfinder, Liberale oder Start-up-Unternehmer. Manchmal sogar heterosexuelle Friseure.
Deshalb mein Tipp: Besuchen Sie größere Städte. Und wenn Sie schon in einer größeren Stadt leben, gehen Sie in ihr spazieren. Jedes Mal in einem anderen Viertel. Sprechen Sie mit fremden Menschen, tummeln Sie sich in Bars und Kaffeehäusern. Seien Sie offen, vernetzen Sie sich, verändern, recyceln und erfinden Sie sich neu. Werfen Sie jede Woche ein Weltbild über den Haufen. Erweitern Sie Ihren Horizont! Und, ja: Selbstverständlich kann es auch im Odenwald richtig super sein. Wenn man auf Forstwirtschaft abfährt.
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