Warkus' Welt: Weisheiten aus dem Netz
Vor 30 Jahren begann mit einer Denkschrift des Physikers und Informatikers Tim Berners-Lee die Geschichte des World Wide Web, das (zusammen mit E-Mail) in den vergangenen Jahrzehnten das Gesicht des Internets geprägt hat. Seine anfängliche Entwicklung geschah am Kernforschungszentrum CERN – also an einer naturwissenschaftlichen Forschungseinrichtung. Geisteswissenschaften hingegen assoziiert man selten mit digitalen Medien, Philosophie als eine der sprichwörtlich ältesten Wissenschaften wohl am allerwenigsten. Wer an Philosophie denkt, der denkt an Antike, vielleicht an Klosterbibliotheken, Federkiele und Bücherstapel – nicht an riesige Datenmengen, die elektronisch verwaltet werden müssen.
Ich habe in den vergangenen Monaten und Jahren häufiger für Studienführer oder Ähnliches erklärt, was in der Philosophie so getan wird. Dabei bin ich mehrfach gefragt worden: Welche Auswirkung hat die Digitalisierung auf Ihr Fach?
Nun: Vor 15 Jahren haben wir viel Zeit damit verbracht, am Kopierer Schlange zu stehen, um Texte, die im Philosophiestudium gelesen wurden, von Papiervorlagen oder direkt aus Büchern heraus zu vervielfältigen. Heute wird erwartet, dass ich die Literatur für meine Studierenden einscanne und in einer Lernplattform im World Wide Web hochlade. Viele drucken sich die Texte nicht einmal mehr aus, sondern sitzen mit dem Tablet im Seminar. Wenn ich einen Forschungsaufsatz schreibe und die genaue Belegstelle eines häufig zitierten Satzes brauche, komme ich heute meist per Internetsuche zum Ziel und muss nicht in die Bibliothek. Das war früher anders.
All dies hat aber daran, was wir im Studium tun, wenig geändert: Wir lesen, schreiben, hören zu und reden. Die meisten Fachbücher und -zeitschriften erscheinen noch gedruckt. Wenn man uns alle Computer und Handys abnähme, wir könnten trotzdem einigermaßen auf dem aktuellen Stand weiterarbeiten – das ist in den Naturwissenschaften ganz anders.
Interessanterweise hat jedoch ausgerechnet die Philosophie eine Onlineressource hervorgebracht, die als exzellent gilt, nämlich die »Stanford Encyclopedia of Philosophy« (SEP), das nach Meinung einiger »zuverlässigste und schönste Onlinelexikon«. Die 1995 begründete SEP ist frei im World Wide Web verfügbar und baut auf einem ausgeklügelten Redaktionssystem auf: Redakteure schreiben Artikel zu bestimmten Schlagwörtern und aktualisieren sie bei Bedarf, Fachredaktionen prüfen die Artikel, und ein Leitungsstab verteilt die Kompetenzen. Alle Beteiligten sind Experten für ihre jeweiligen Themen aus dem wissenschaftlichen Philosophiebetrieb. Vierteljährlich wird eine zitierfähige Archivkopie des ganzen Lexikons erzeugt. Auch wenn der Schwerpunkt auf Philosophie in der analytischen Tradition liegt, ist die SEP mittlerweile ziemlich umfassend und vor allem allgemein respektiert – das ist umso bemerkenswerter in einem konservativen Fach, in dem dicke gedruckte Nachschlagewerke nach wie vor einen guten Ruf genießen. (Mit der ähnlich organisierten »Internet Encyclopedia of Philosophy«, die als etwas weniger renommiert und dafür anfängerfreundlicher gilt, gibt es übrigens eine zweite Ressource, die hilft, Qualität durch Konkurrenz zu sichern.)
Vielleicht ist es Zufall, dass ausgerechnet die Philosophie ein Onlinelexikon hervorgebracht hat, das zeigt, dass es möglich ist, »ein weniger schrottiges Internet« zu schaffen. Aber es ist gut möglich, dass ein Fach, in dem über fast nichts abschließende Einigkeit besteht und viele große Skepsis gegenüber moderner Technik hegen, eben ein besonders gutes Onlinelexikon hervorbringen musste, damit es Anerkennung finden konnte. Man muss nicht gleich so weit gehen wie Peli Grietzer jüngst auf Twitter und argumentieren, dass die SEP als »Ressource zur Klärung der eigenen Gedanken über so gut wie alles« in sich die beste Rechtfertigung für die (analytische) Philosophie überhaupt darstellt. Mir reicht es schon, dass es vielleicht nicht nur zufällig die Philosophie ist, die zeigt, wie das Internet besser werden kann: Darauf bin ich als Philosoph schon ein bisschen stolz.
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