Warkus' Welt: Wo geht's lang?
Philosophie soll, so wird oft behauptet und gefordert, Orientierung bieten. Das Wort kommt von »Orient« und bezeichnete ursprünglich die östliche Ausrichtung von Kirchengebäuden, später allgemein die Ausrichtung nach den Himmelsrichtungen. Wer einen Orientierungslauf macht, muss wissen, wo Norden ist.
Welche Art von Orientierung liefert uns die Philosophie? Wenn eines sicher ist, dann, dass die heutige wissenschaftliche Philosophie auf kaum eine Frage eine einfache Antwort gibt. Orientierung im Sinne von »Hier geht's lang« ist nicht zu erwarten.
Im Gegenteil: Man könnte meinen, dass die Beschäftigung mit Philosophie das Leben eher kompliziert macht. Nehmen wir einmal den Bereich, in dem man am direktesten fragt, wo es langgehen soll, die Ethik. Ethik ist die Lehre davon, welche Handlungen wünschenswert sind und welche nicht. Es gibt zwei bekannte Ansätze, um Handeln zu bewerten: nach seiner Motivation und nach seinen Auswirkungen.
Beides hat Pferdefüße. Beurteilt man Handlungen nach einer Art umfassendem Kosten-Nutzen-Prinzip anhand der Auswirkungen, stellt sich unweigerlich die Frage, ob dann ein hinreichend großer Zweck nicht jedes Mittel heiligt. Wenn man beispielsweise einen blutigen Volksaufstand mit vielen Toten dadurch verhindern kann, einen einzelnen Unschuldigen öffentlich hinrichten zu lassen – warum nicht? Macht man hingegen die Motivation zur Richtschnur, mag man zum Beispiel bei der Schlussfolgerung landen, dass es absolut immer falsch ist zu lügen. Selbst dann, wenn es großes Leid verursacht und man etwa gegenüber den Behörden eines diktatorischen Staats wahrheitsgemäß Auskunft über die verdächtigen Aktivitäten der Arbeitskollegen gibt.
Tugenden und Laster
Frei von solchen Problemen scheint unter den großen Ansätzen, die wir heute in der Ethik unterscheiden, der dritte, unbekanntere: die Tugendethik. Sie stellt weniger das Handeln als den handelnden Menschen in den Mittelpunkt. Er soll Tugenden – also bestimmte, in höchstem Maße lobenswerte Charaktereigenschaften – erwerben, pflegen und ausbauen. Und er soll ohne Laster sein, das heißt, sich verachtenswerte Eigenschaften ab- oder gar nicht erst angewöhnen. Handlungen kann man dann danach beurteilen, ob sie tugendhaft sind, und das Schöne an der Tugend ist, dass sie aus sich selbst mitbringt, dass man, wenn man sie hat, eben tugendhaft handeln und Handlungen beurteilen kann.
Nun ist aber – um den Informatiker Andrew Tanenbaum zu zitieren – das Großartige an Normen, dass es so viele davon gibt. Auch Tugenden gibt es eine ganze Menge, und es ist klar, dass man nicht immer alle zugleich verwirklichen kann. So ist Mut ebenso eine Tugend wie Vorsicht, Sparsamkeit ebenso wie Großzügigkeit, Beredsamkeit ebenso wie Zurückhaltung. Seit der griechischen Antike herrscht deshalb weit gehende Einigkeit darüber, dass man so etwas wie Weisheit oder Lebensklugheit – eine an der Lebenserfahrung geschulte Kompetenz des Abwägens in Zweifelsfällen – quasi als Obertugend braucht. Ohne sie bringen die anderen wenig. Diese Art von Kompetenz benötigt jede Person, die reflektiert moralisch handeln will, also nach Regeln, über deren Geltung sie selbst zumindest einmal nachgedacht hat. Ganz gleich, ob sie dabei versucht, die Tugendhaftigkeit, die Motivation oder die Auswirkung ihres Handelns zu optimieren.
Am Ende hilft das Vokabular für Tugend und Laster aber vermutlich schon durch die bloße Möglichkeit, das eine oder das andere überhaupt in Worte zu fassen. So formulierte die Moralphilosophin Rosalind Hursthouse etwa: »Eine Menge unschätzbar wertvoller Orientierung im Handeln ergibt sich daraus, Handlungsweisen zu vermeiden, die verantwortungslos, inkompetent, faul, rücksichtslos, unkooperativ, barsch, intolerant, egoistisch, gewinnsüchtig, indiskret, taktlos, arrogant, unsympathisch, kaltherzig, unvorsichtig, mutlos, verzagt, kraftlos, anmaßend, rüde, heuchlerisch, ungezügelt, materialistisch, habsüchtig, kurzsichtig, rachsüchtig, berechnend, undankbar, widerwillig, brutal, verschwenderisch, illoyal wären und so weiter und so weiter.«
Natürlich kann man sich fragen, wo in einer Diskussion, in der ein solcher Satz fällt, die wissenschaftliche Philosophie aufhört und die praktische Lebensberatung anfängt. Diese Frage ist selbst auf jeden Fall eine philosophische. Und so trägt am Ende vielleicht doch die Philosophie ein bisschen zur Orientierung bei.
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