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Philosophie: Ist Gott die Wahrheit?

Lässt sich die Frage nach Gott mit der Wissenschaft vereinbaren? Und: Was bedeutet eigentlich Wahrheit? Ein Klassiker aus unserem Archiv.
Religionen

Der Wissenschaftsphilosoph Bernulf Kanitscheider von der Universität Gießen empfahl, die Grenzen zwischen Naturwissenschaft und Religion nicht »agnostisch« zu verwischen. Im »Spektrum«-Streitgespräch diskutierte er mit dem Philosophen Ulrich Lüke von der Theologischen Fakultät Paderborn.

Prof. Dr. Bernulf Kanitschneider studierte in Innsbruck, wo er auch habilitierte, Philosophie, Mathematik, Physik und Musik. Von 1974 bis 2007 lehrte er an der Universität Gießen. Er verstarb im Juni 2017 im Alter von 77 Jahren. Prof. Dr. Ulrich Lüke studierte Biologie, Theologie und Philosophie. Er lehrte Geschichte und Philosophie an der Theologischen Fakultät Paderborn, bevor er 2001 als Professor für Systematische Theologie an die RWTH Aachen berufen wurde. Seit 2017 befindet er sich im Ruhestand.

Spektrum der Wissenschaft: Herr Professor Lüke, zu Professor Kanitscheiders »Spektrum«-Interview über »Naturwissenschaft und Religion« haben Sie sich recht polemisch geäußert. Es sei »durchsetzt von Halbwahrheiten und Halbwissen«. Es sei wie bei einem Stabhochspringer: »Die Latte liegt bei sechs Metern, der Sportsmann springt berührungsfrei bei vier Metern darunter her und meint, er habe nicht gerissen.« Das sind harte Worte. Stehen Sie noch zu Ihrer Kritik?

Professor Ulrich Lüke: Inhaltlich ja, wenngleich die Form, die von meinem ersten Ärger bestimmt war, keinen Höflichkeitspreis beanspruchen könnte.

Herr Professor Kanitscheider, haben Sie sich provoziert gefühlt?

Professor Bernulf Kanitscheider: Ich habe viel Erfahrung mit Gesprächen zwischen Theologie und Wissenschaftstheorie und weiß, dass man die Thematik auch sehr sachlich führen kann. Polemik muss nicht unbedingt sein.

Herr Professor Lüke, was halten Sie von Kanitscheiders Unterscheidung von »Natur« und »Übernatur«? Ist das nicht die zentrale Trennlinie, an der Religion und Wissenschaft aufeinandertreffen?

Lüke: Diese Gegenüberstellung, auch wenn sie in alten kirchlichen Dokumenten zu finden ist, hilft uns nicht. Wir wissen nicht, was Übernatur ist, ja, wir wissen nicht einmal, was eigentlich Natur genau ist. Folglich wird hier eine Scheingrenze gezogen, und der Bereich der »Übernatur« verkommt zu einem Reich der Skurrilitäten, während der andere mit Qualitäten wie »Wissenschaftlichkeit« und »philosophische Genauigkeit« konnotiert wird. Ich glaube, mit dieser Welteinteilung kommen wir nicht weiter.

Ulrich Lüke | Aus Redlichkeit kein Atheist.

Kanitscheider: In der Philosophie gibt es die Position des Naturalismus, wobei man zwischen einer starken und einer schwachen Spielart unterscheiden kann. Naturalismus besagt, wenn man das einmal so salopp formuliert: Es geht überall im Universum mit rechten Dingen zu. Es gibt also nicht so etwas wie unkörperliche spirituelle Wesen; es gibt keine Engel, keine Kobolde und keine Feen; die Welt ist materiell und kausal strukturiert. Sie ist auch komplex – man denke etwa an das Auftreten von Emergenzen –, aber es gibt keine geistigen, vom materiellen Träger abgehobenen Entitäten, und wir sind gehalten, die Welt nur unter Zugrundelegung der theoretisierbaren und beobachtbaren Phänomene zu verstehen. Das ist das, was man die Position des schwachen Naturalismus nennen könnte. Darüber hinaus gibt es aber auch den starken Naturalismus, der zusätzlich davon ausgeht, dass diese Welt, so wie wir sie eben feststellen, alles ist, was es gibt.

Lüke: Der Naturalismus hat metaphysische Voraussetzungen, die er selbst nicht reflektieren kann oder will. Sie wollen Ihren Naturalismus gern transzendenzresistent machen, aber die hinzugezogene Naturwissenschaft liefert schon infolge ihrer Ergebnisoffenheit nicht das dazu notwendige und hinreichende immanente Immunisierungsmaterial.

Kanitscheider: Ich akzeptiere nicht, dass der Naturalismus eine metaphysische Position ist. Er verwendet nur so viel Ontologie, wie unbedingt notwendig ist, zum Verstehen des Gesetzesnetzes der Natur. In der Physik benötigen Sie Felder, Quantenfelder, klassische Felder, eine bestimmte Menge von Elementarteilchen und eine bestimmte metrische Struktur der Raumzeit. Das ist ein Sparprogramm und keine Metaphysik.

Lüke: Von Ihrem Sparwillen bin ich überzeugt, gleichwohl kommen Sie an einer Ontologie, die sich Ihrem naturalistischen Positivismus entzieht, nicht vorbei. Auch in der Theologie kann man rationales Denken nicht weit genug treiben. Da teile ich eine Position, die Ihrer in gewisser Weise nahe kommt. Es ist ja keineswegs so, dass ich ab irgendeiner Grenze zu denken aufhören und Gott ins gerade noch nicht betretene Refugium der Unwissenheit transferieren müsste. Der sowjetische Kosmonaut Gagarin hatte nach dem ersten bemannten Raumflug gesagt: Ich bin einmal um die Erde geflogen, Gott habe ich nicht gesehen, also gibt es ihn nicht. Aber diese Bestreitung Gottes auf dem Weg des gagarinschen Trugschlusses liefern Sie hier gerade. Thomas von Aquin entgegnete schon solchem Denken, von Gott können wir nicht sagen, was er ist, sondern nur, was er nicht ist. Bei der Formulierung dessen, was er nicht ist, halte ich die Naturwissenschaften allerdings für hilfreich und notwendig.

Kanitscheider: Bei dieser thomistischen Bestimmung möchte ich sofort einhaken. Naturalisten monieren gerade das Fehlen positiver Begriffsbestimmungen in Bezug auf Gott.

Lüke: Noch einmal: Gott ist kein Objekt X, dem ich definitorisch mit positiven Bestimmungen zu Leibe rücken kann. In Bezug auf ihn hat die Sprache keinen Beweis-, sondern nur einen Hinweischarakter. Die Theologiegeschichte kennt drei Versuche, von Gott zu sprechen. Es wird irgendein Attribut gewählt, das man mit einem Qualifikator ausstattet (via eminentiae) – man macht also etwa aus »gütig« »allgütig«, aus »wissend« »allwissend« und so weiter –, oder man arbeitet mit negierenden Gegenüberstellungen zum Menschen (via negativa): Der Mensch ist endlich, Gott unendlich, der Mensch sterblich, Gott unsterblich. Schließlich gibt es noch die Möglichkeit, Analogien heranzuziehen. Wir sagen dann zum Beispiel: »Gott ist wie ein Vater« oder »Gott ist der Weg«. Mit all dem wird Gott aber nicht definiert. Wer das erwartet, missversteht, was die Theologie leisten kann und zu leisten behauptet. Ich halte diese Versuche für legitim, weil sie existenzielle Erfahrungen, die Menschen zu allen Zeiten und in allen Völkern gemacht haben, ahnungs- und andeutungsweise zur Sprache bringen. Das wird Sie gewiss nicht zufrieden stellen, erfüllt aber die Forderung des 4. Laterankonzils von 1215, dem zufolge alle Aussagen über Gott ihm unähnlicher sind als ähnlich.

Kanitscheider: Damit sind Sie aber – methodisch betrachtet – genau in der Situation, dass Sie die Existenz einer Entität behaupten, deren Begrifflichkeit Sie überhaupt nicht kennen. Und damit laufen Sie in sämtliche Gegenargumente, die vom logischen Empirismus und vom kritischen Rationalismus immer wieder gegenüber metaphysischen Termen vorgebracht wurden. Ihr Gottesbegriff ist ein Unbegriff, weil Sie die Anwendungsbedingungen nicht angeben können.

Vielleicht erklärt Gott, dass es überhaupt etwas gibt
Ulrich Lüke

Lüke: Sie versuchen ständig, Gott in einem ihn umgreifenden Funktionskontext anzusiedeln, ihn auf eine pure Nutzenfunktion zu reduzieren. Eine solche, die den Gottesbegriff erschöpfend beschriebe, ist jedoch nicht angebbar. In dem Sinne ist Gott, gottlob, unnütz.

Kanitscheider: Er hat doch eine Erklärungsfunktion. Er muss irgendetwas in dieser Welt erklären, was man sonst nicht erklären kann.

Lüke: Vielleicht erklärt er ja, dass es etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Dann wären wir in dem Bereich, dem die Kosmologen sich annähern. Genauso gut könnte man aber in der Biologie ansetzen. Wenn wir den Prozess der Hominisation rekapitulieren, stoßen wir schon bald nach dem Auftauchen der ersten Artefakte auf solche, die nicht anders als in einem religiösen Kontext verstehbar sind. Schon sehr frühe Hominiden haben ihr Dasein in einen bestimmten Sinnkontext eingeordnet, indem sie, zum Beispiel Homo sapiens neanderthalensis/em>, bestimmte Bestattungsrituale pflegten.

Kanitscheider: Im Buch des Verhaltensforschers Edward O. Wilson »Die Einheit des Wissens« stehen wunderschöne Erklärungen für die Entstehung der »religio«, der Bindung an ein höheres Wesen. Das alles hatte einen klar aufweisbaren, adaptiven Wert: nämlich die Gruppe zusammenzubinden, ihr größere Schlagfertigkeit nach außen hin zu verleihen. Es ging einfach um eine Stärkung der sozialen Bindung zur Sicherung des Überlebens. Nur aus diesem Grund ist die Entstehung von Religionen ein so universelles Phänomen. Die Erklärung liefern damit Biologen und Sozialpsychologen: Die Entstehung der Religionen ging mit dem Überleben einher. Sie muss nicht auf eine wie auch immer geartete externe Wirkung zurückgeführt werden.

Lüke: Dass die Entstehung der Religionen mit einem Überlebensvorteil einhergehen kann, bezweifle ich nicht; dass sie nur daraus zu erklären sei, bestreite ich allerdings. Bei der Argumentation können Sie den Schrei einer Martinsgans nicht mehr von der h-Moll-Messe unterscheiden, da beides einmal für die Gänsepopulation, einmal für Familie Bach einen Überlebensvorteil hatte.

Kanitscheider: Derjenige, der einen höheren ontologischen Behauptungsanspruch vertritt, trägt immer auch die Last der Begründung oder die Stützungslast, um mit Karl Popper zu sprechen.

Lüke: Ich kann die Beweislast ebenso gut auf Ihre Schultern hieven; denn ich halte nur etwas für möglich, Sie hingegen bestreiten es kategorisch. Aus Erfahrungen, die sich mit endlichen Objekten beschäftigen, und aus der Tatsache, dass alle Objekte, die Sie wahrnehmen, endlich sind, schließen Sie, dass es das, was eine andere Tradition »unendlich« genannt hat, nicht geben könne.

Kanitscheider: Ich schließe keineswegs aus, dass es Unendliches nicht geben kann. Zum Beispiel ist der Kosmos nach heutigem Wissen wahrscheinlich räumlich unendlich. Der Knackpunkt ist vielmehr methodischer Natur: Derjenige, der die Existenz von etwas propagiert, hat immer die Begründungslast und nicht der andere die Widerlegungslast.

Ein Vorschlag zur Klärung der Fronten. Herr Lüke unterlegt Herrn Kanitscheider offenbar den Standpunkt des starken Naturalismus, wie er eingangs definiert wurde: Die Ereigniswelt sei alles. Daraus folgert er eine Beweislast auf der Gegenseite. Herr Kanitscheider aber nimmt wohl eher die Position des schwachen Naturalismus für sich in Anspruch. Herr Kanitscheider, Sie schließen dabei aber nicht prinzipiell aus, dass es metaphysische Entitäten geben könnte, oder?

Kanitscheider: So ist es. Ich müsste ein Argument erhalten, das nicht nur auf eine illusionäre Funktionalität Gottes abzielt, sondern tatsächlich auf eine Ursache, ein Fundament in den Tatsachen. Wie schafft Herr Lüke den Sprung von der Existenz eines Transzendenzbewusstseins zur Existenz der Transzendenz?

Lüke: So, wie sich im Lauf der Evolution der kognitive Apparat des Menschen herausgebildet hat in der Auseinandersetzung mit der Realität, auf die er sich bezieht, so entstand auch das Transzendenzbewusstsein des Menschen in Auseinandersetzung mit der Realität, die wir Transzendenz nennen. Auch eine Taube brauchte in ihrer Evolution keine aerodynamischen Kenntnisse, und doch sind sie, ohne dass die Taube darum wüsste, aus ihrem Körperbau zu gewinnen. Das Transzendenzbewusstsein wäre dann der in der Hominisation mehr und mehr aufdämmernde Reflex jener Wirklichkeit, die wir zugegebenermaßen mehr erahnen als verstehen und die uns gleichwohl zutiefst prägen kann.

Kanitscheider: Aber ein gutes Gegenargument ist doch bereits den Inhalten der Religion zu entnehmen. Wenn Sie über die Funktionalität der Religionen hinausgehen, in den metaphysischen Bereich hinein, und die Annahme machen, alle Funktionalität werde verursacht durch ein dahinterstehendes höheres Wesen, dann kommen Sie doch schon in Konflikt mit all jenen Religionen, die gar keinen Gottesbegriff kennen, mit dem Buddhismus zum Beispiel. Die Inhalte der Religionen sind so verschieden, vom extremen Polytheismus über die christliche Trinität bis hin zu ganz abstrakten Formen. Denken Sie an den Konfuzianismus und den Taoismus! In vielen Religionen finden Sie eine höchste Idee vor, die sich kaum personalisieren lässt, und dennoch tut zum Beispiel der Buddhismus in puncto Funktionalität genauso seine Pflicht wie der Theismus.

Lüke: Er erfüllt diese Pflicht völlig anders und geht ebenso wenig in einer rückstandslos erklärbaren Funktionalität auf wie die jüdisch-christlich-muslimische Religion.

Kanitscheider: Er lässt sich über die Adaptationsrolle genauso erklären wie die monotheistischen Religionen. Der Buddhismus ist aber eine atheistische Religion! Er kennt keine Transzendenz.

Bernulf Kanitscheider | Atheist aus Redlichkeit.

Lüke: Natürlich können Sie (viel Vergnügen!) für jede Religion eine zugehörige Adaptationsstory erfinden, um das, was Sie daran ärgert, naturalistisch wegzuerklären. Der Buddhismus kennt ein Nirwana, ein Nichts, das sich – streng gefasst – der Naturwissenschaft und dem Naturalismus entzieht.

Kanitscheider: Das ist keine Transzendenz. Das ist das Erlöschen der Personalität.

Lüke: Nicht nur Ende, sondern Vollendung – in einem Nichts, das als etwas Erstrebenswertes angesehen wird. Mit Transzendenz braucht man kein bestimmtes Gottesbild zu verbinden. Selbstverständlich hat der Buddhist eine Kategorie von Transzendenz. Ohne sie wären Wiedergeburts- und Nirwana-Lehre nicht verständlich.

Kanitscheider: Das Nirwana ist kein ontologisches Reich. Es hat keine Ähnlichkeit mit dem christlichen Paradies, mit dem Jenseits. Es ist das Erlöschen des Karma-Weges, das Auslöschen der Individualität, einfach das Nichts.

Gibt es für Theologie und Naturwissenschaften überhaupt eine gemeinsame methodische Grundlage, vor allem einen gemeinsamen Begriff von Wissenschaft? Herr Kanitscheider hatte ja bereits geäußert, die Theologie gehe von einer Unveränderbarkeit der Schrift aus, während in den Naturwissenschaften jede Aussage im Prinzip immer wieder zur Disposition stehe.

Kanitscheider: Ich sehe dort einen Gegensatz auf metatheoretischer Ebene, weil ja zumindest von der katholischen Theologie bestimmten Bereichen das Prinzip der Unfehlbarkeit zugesprochen wird, das heißt, es existieren bestimmte Basiselemente beziehungsweise -texte, die sich vom methodologischen Standpunkt aus grundsätzlich unterscheiden gegenüber anderen. Die Theologie arbeitet zum Teil also mit einer Basis, die im Grunde nicht angegriffen werden kann. In den Wissenschaften sind auch die Basissätze dagegen prinzipiell revidierbar. Sogar in der Mathematik ist man nie absolut sicher, dass ein Beweis keinen Deduktionsfehler enthält.

Einen gemeinsamen Wissenschaftsbegriff kann es also nicht geben?

Kanitscheider: Das Prinzip der Unfehlbarkeit verhindert es. Von den Kirchenvätern ist ganz klar festgehalten worden, dass die Schrift einen anderen Wissensstatus hat als jegliche Erkenntnis über die Beschaffenheit der Welt.

Lüke: Ich sehe die Dinge hier nicht ganz so einfach. In der jüdisch-christlichen Religion gab es einen jahrhundertelangen Prozess der Schriftensammlung. Sie können zwischen bestimmten Gottesvorstellungen, im Alten wie im Neuen Testament, auch Widersprüche finden. Kein Exeget sieht das als einen in sich geschlossenen Block an. Eine ganz andere Frage ist, wie ich mit den Schriften umgehe.

Kanitscheider: Das stimmt. Die Rekonstruktion dessen, was in einer sehr alten Schrift tatsächlich authentisch ist, die Einbeziehung des historischen Kontextes, die Findung der Bedeutung auf der semantischen Ebene, das alles ist ein Problem – auch bei der Auseinandersetzung mit Texten wie der Metaphysik des Aristoteles oder den Epen von Homer: Was war wirklich damit gemeint? Dieses Problem ist allen alten Texten gemein. Aber nehmen wir einmal das als authentisch Akzeptierte und untersuchen es auf die Geltung! Hier liegt ein fundamentaler Unterschied vor: In der Philosophie haben wir immer die Möglichkeit, einen Satz, etwa von Platon, als falsch zu erkennen und ihn daher einfach zu verwerfen. In der Theologie aber gilt das für die »offenbarten« Schriften nicht.

Lüke: Die Wissenschaftlichkeit liegt in der Frage des methodischen Umgangs mit den verschiedenen Texten. Der Gegenstand ist in beiden Fällen vorgegeben, in der Theologie wie anderswo.

Kanitscheider: Sie weichen der Geltungsfrage aus. Es dreht sich schlicht um wahr oder falsch. Bei einer Aussage kann ich immer die Frage stellen, ob sie korrekt oder inkorrekt ist, ob sie in Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit dem Gegenstand etwas behauptet. Und da ist einfach meine Frage, ob Sie die Satzklasse der religiösen Basisaussagen – zum Beispiel über die Auferstehung, die Erbsünde, die Doppelnatur Christi, die Trinität, alle diese grundlegenden Behauptungen, die ja sprachlich formuliert werden – ob Sie die in einem revidierbaren Sinne verstehen. Derart, dass man etwa auch sagen könnte: Nein, Auferstehung, da haben wir uns geirrt; oder: Dreifaltigkeit – nein, Irrtum, es ist in Wahrheit eine Fünffaltigkeit. So etwas ist in der Philosophie immer möglich. Wie schon Aristoteles gesagt hat: »Ich liebe zwar Platon, meinen Lehrer, aber noch mehr die Wahrheit.«

Zu behaupten, Gott sei die Wahrheit, ist eine logische Konfusion
Bernulf Kanitschneider

Lüke: Darüber mögen Sie mit einem Dogmatiker oder Exegeten räsonieren. Ich bin für Philosophie zuständig. Aber die Wahrheitsfrage lässt sich mit der Gottesfrage verbinden. Ihr Naturalismus oder der von Ihnen erwähnte kritische Rationalismus müssen den Wahrheitsbegriff voraussetzen, um auch nur den kleinsten Denkschritt leisten zu können. Ob der Satz, es gebe die Wahrheit, wahr ist, können Sie nur unter Voraussetzung der Wahrheit entscheiden. Auf dieser Ebene würden Theologen den Gottesbegriff ansetzen, wenn sie sagen, Gott ist die Wahrheit. Er ist dann das, was ich nicht mehr mit den Alternativen »wahr« und »falsch« untersuchen kann, weil es diese Kriterien erst generiert.

Kanitscheider: Dieser Satz ist nicht verstehbar. Gott kann nicht die Wahrheit sein, weil die Wahrheit die Übereinstimmung eines Satzes mit einer Faktizität ist.

Lüke: Das ist eine Definition von »Wahrheit«, und Sie können diese Definition auch nur aus dem Grund aufstellen, weil Ihnen »Wahrheit« schon von vornherein als regulative Idee zur Verfügung steht.

Kanitscheider: Zu behaupten, Gott sei die Wahrheit, ist eine logische Konfusion. »Wahr« kann nur ein Satz über Gott sein. Dies ist eine Sache der Logik. Würden Sie die Anwendbarkeit der normalen zweiwertigen aristotelischen Logik für theologische Schlüsselaussagen aufrechterhalten? Die Auferstehung – fand sie statt, oder fand sie nicht statt?

Lüke: Als Christ, Sie lechzen offenbar nach Bekenntnissen, sage ich, ich halte den Gedanken an Auferstehung für glaubwürdig, ohne Ihnen hier das Wie extemporieren zu können.

Kanitscheider: Also nehmen Sie tatsächlich den theologischen Kontext von der Logik aus? Theologie im Sinne des Sprechens von Gott, denn das heißt doch »Theologie«, unterliegt in Ihren Augen nicht der aristotelischen Logik? Die Verteilung von Wahrheitswerten auf bestimmte Sätze als wahr/falsch, gilt sie für theologische Sätze nicht? Wenn Sie das akzeptieren, dann frage ich mich, was behauptet die Theologie eigentlich? Sie verliert dann ja ihren Aussagebereich, nämlich Gott. Ich frage Sie also noch einmal: Ist es eine logische Unmöglichkeit, etwas über Gott zu wissen, oder ist es nur praktisch unmöglich?

Lüke: Es ist mit der Reichweite unserer Logik, die immer eine endliche und sprachlich vermittelte ist, unmöglich, ein umfassendes Wissen über Gott zu erreichen. Auf Ihrem Denkweg kann man vielleicht gottlos werden, aber nicht Gott loswerden.

Kanitscheider: Dann haben wir aber doch wenigstens ein Teilwissen. Worin besteht es?

Die Flucht ins Mysterium löst nicht das Problem der Logik
Bernulf Kanitschneider

Lüke: Es äußert sich in einer Form existenzieller Erfahrung. Wittgenstein meinte: »Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.« Und: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.«

Kanitscheider: Die Flucht ins Mysterium löst nicht das Problem der Logik.

Eine letzte Frage: Herr Kanitscheider vertrat in unserem ersten Interview den Standpunkt, dass es »ehrlicher« für Naturwissenschaftler sei, wenn sie eine atheistische Position beziehen und keine agnostische, die ja heute sozusagen zum korrekten Ton unter Wissenschaftlern gehört. Wie denken Sie darüber, Herr Lüke?

Lüke: Ich denke, man kann mit intellektueller Redlichkeit Theist, Agnostiker oder Atheist sein, weil jede dieser Positionen mit Grundentscheidungen zu tun hat, die mehr als nur ein intellektuelles Resümee sind. Nur die atheistische Position für intellektuell redlich zu erklären, ist eine besondere Form von Missionstätigkeit, die den andern nicht hinreichend ernst nimmt und ihrerseits mehr behauptet, als sie auf Grund ihrer eigenen Voraussetzungen darf.

Kanitscheider: Zur Erläuterung. Die Existenzhypothese Gottes ist eine Behauptung, für die zunächst einmal gar nichts spricht. Und in dieser Situation verhalte ich mich wie in allen vergleichbaren Fällen von Existenzbehauptungen. Solange nichts positiv für die Existenz spricht, bleibe ich negativ entschieden, und das bedeutet in Bezug auf die Gottesfrage, ich bin besser atheistisch eingestellt als agnostisch.

Lüke: Ich möchte das Verhältnis von Wissenschaft und Religion mit einem Bild beschreiben, und zwar im Vergleich des Wissenschaftlers und seiner Methodologie mit einem Fischer, der im Meer fischt. Der Fischer kann die Größe seiner Netze und deren Maschengröße variieren, er kann die Auswurfweite, die Eintauchtiefe, die Zugfestigkeit und so weiter verändern und auf diese Weise immer wieder neue Fänge machen. Er findet Fische, die er zuvor nie zu Gesicht bekommen hat. Und doch ist alles, was er herausfischt, nicht das Meer. Was er herausfischt, sind Lebewesen, die indirekt auf das Meer als Bedingung ihrer Existenzmöglichkeit verweisen. Und vielleicht geht ihm dabei auf, dass das auch für ihn selbst gilt.

Kanitscheider: Dieser poetischen Metapher liegt die supernaturalistische Annahme zu Grunde, dass alle konkreten Systeme des Universums (»Fische«) in einen umgreifenden Rahmen (»Meer«) eingebettet sind. Genau diese transzendente Einbettung ist aber das Fragliche der metaphysischen Diskussion. Aus der Sicht des wohlwollenden, aber kritischen Skeptikers spricht nichts für eine solche Vermutung.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 6 / 2000, Seite 82

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