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Leseprobe »Vernetzte Verführungen«: Dark Arts – der gehackte Mensch

Die Zukunft der Konsumindustrie und ihrer Verführungsanstrengungen, allen voran die Werbung, liegt im Dunkeln. Diese Unsicherheit verdankt sich der Situation, dass sich die Konsumindustrie, wie die gesamte Gesellschaft schlechthin, in einem tiefgreifenden Transformationsprozess befindet. Dafür werden heute in aller Regel die Digitalisierung und ihre disruptiven Kräfte verantwortlich gemacht. Gemeint ist damit, dass die Digitalisierung die Konsumindustrie, wie wir sie aus dem letzten Jahrtausend kennen, kräftig ins Wanken bringt.
Ein Kopf, aus dem ganz viele Drähte und Metallstücke kommen

Der gehackte Mensch: düsterer geht es nicht mehr

Werfen wir einen Blick in die Zukunft. Wohin könnten sich die vernetzten Verführungen der Konsumindustrie und ihr assoziierter Dark-Arts-Mythos weiterentwickeln? Ein äußerst düsteres Szenario tut sich auf: Menschen können gehackt werden. In diesem Szenario werden die Methoden der Motivforschung und Tiefenmanipulation, wie sie Vance Packard beschrieben hat, ausgetauscht gegen die der Biometrik. Die zusammenfassende Konsequenz mit der Packard (1958) vor über 60 Jahren sein Buch beendet hat, bleibt dabei im Wesentlichen dieselbe:

»Das schwerste Verbrechen, das viele Tiefenmanipulatoren begehen, scheint mir ihr Versuch, in unsere geheimsten Gedanken einzudringen. Gerade dieses Recht auf Geheimhaltung – sei sie rational oder irrational – müssen wir schützen.«

Uns zu hacken soll bedeuten, uns besser zu verstehen und zu durchschauen, als wir das selber können. Führen würde dies zu einer vollkommen neuen Art des Verbraucher-Targetings. Der Schlüssel dazu ist die biometrische Vermessung des Menschen. So ließen sich beispielsweise aus der Aufzeichnung der Augenbewegungen bestimmte sexuelle Vorlieben ableiten, die unsere persönliche Ansprache durch die Verführer in eine komplett neue Dimension katapultieren würde – nämlich in Form der Manipulation unseres Innersten. Denn allgemein ließen sich aus biometrischen Daten anhand von Algorithmen unsere verborgenen Gefühle, Wünsche, Ängste und Gedanken ermitteln. Unsere daraus resultierenden Handlungen könnten antizipiert und auch gesteuert werden, da auf unsere inneren Abläufe immer besser biometrisch geschlossen werden kann. Wer meint, das sei doch Stoff aus einem Science-Fiction, der irrt. Das Digital Media Institute berichtet in seinem Blog von digitalen Plakatstellen mit integriertem Facetracking-System, mit dem, angeblich völlig datenschutzkonform, Metriken wie Alter, Geschlecht, Emotionen, Blickrichtung, Blick- und Verweildauer von Personen erfasst werden können. Das Ziel: »Wir arbeiten derzeit vor allem daran, weitere Metriken erfassen zu können: Je mehr wir über den Betrachter ableiten können, desto gezielter kann er mit einer auf ihn angepassten Werbung adressiert werden.«

Diese mechanistische Sicht auf den Menschen ist nicht neu. Neu ist aber, dass dank dem dieser Sicht nun zugrundeliegenden Paradigma des Computers alles, bis hin zum sexuellen Begehren, als verarbeitete Information aufgefasst wird.

»Das Auge oder die Nase nimmt etwas wahr, das Hirn erkennt die Muster der eingespeisten Daten und gibt daraufhin seine Befehle aus. Ob wir uns zu jemandem hingezogen fühlen oder nicht, ist also eine reine Frage der Mustererkennung.«

Interessant ist, wie wir uns in diesem Szenario wehren könnten. Es ist deswegen interessant, weil die Lösung nahtlos an die beschriebene Methode anknüpft, wie wir unseren inneren Dämonen bezwingen können. Wollen wir nicht gehackt werden und unsere Willensfreiheit erhalten, bedarf es der Reflexion. Vergleichbar zum oben beschriebenen Libetschen Veto in Form des Bewusstseins, das den inneren Dämon ausbremsen kann, kommt in diesem Szenario des hackbaren Menschen dem Bewusstsein die Funktion zu, uns zu ermöglichen, dass wir begreifen können. Zu begreifen, dass unser Denken und unsere Handlungen maßgeblich von biologischen, kulturellen und sozialen Faktoren geprägt werden. Erst wenn uns dies bewusst ist, können wir uns überhaupt Freiheit und Souveränität erkämpfen, da wir überlegt auf unsere Welt einwirken können. Unsere konsumindustrielle Verführungsimmunität und Entscheidungsfreiheit sind uns also nicht gegeben. Wir müssen sie uns immer intensiver erarbeiten.

Vernetze Verführung: Dunkel, weil wir eingewoben sind

Die Entwicklung des düster anmutenden Verführungshandwerks der Konsumindustrie können wir nun folgendermaßen zusammenfassen. Es hat sich von

  • der Manipulation des Gehirns der Masse über
  • die suggestive Beeinflussung des Verbrauchers durch Reklame,
  • dem Angriff auf unser Unterbewusstsein mit den tiefenpsychologischen Techniken der »Meinungskneter«,
  • der Vorstellung eines programmierbaren Gehirns durch Neuromarketing
  • zu einem komplexen, undurchsichtigen Datenmanagement in einer technologisch hochgerüsteten und vernetzten Konsumindustrie gewandelt. Und dass obwohl bereits seit längerem die Kommunikations- und Marketingwissenschaft und mittlerweile auch die Praxis gewichtige Argumente liefern, warum die Erklärungs- und Prognosekraft, die sich die Verführer von der Datenvernetzung, von Big Data, erhoffen kritisch zu sehen sind – was aber keinen Nachrichtenwert für die Medien hat und daher in der Öffentlichkeit so gut wie nicht bekannt ist.
  • Vernetzung, als das heutige zentrale Kennzeichen smarter kommerzieller Verführung, ist aber nicht nur die datenbasierte Methode heutiger Verführung. Diese Methode mag trotz ihrer anscheinend geringen Wirksamkeit aus Sicht der Verbraucher in der Tat zuweilen eine Dark-Art-Anmutung haben. Die Algorithmen gestützten Produktionen von Verführungsangeboten könnten dann aufgrund ihrer Intransparenz und Komplexität metaphorisch als die Dark Arts des digitalen Zeitalters der Verführung aufgefasst werden.

    Vernetzung ist aber gleichzeitig auch das Ziel der Verführungsbemühungen und deswegen das eigentlich Gefährliche, das Dunkle. Egal, ob wir als vehemente Verfechter des Dark-Arts-Mythos die heutigen Verführungsmethoden der Konsumindustrie analysieren oder wir uns aus einer eher nüchternen sozialwissenschaftlichen Perspektive mit dem Vernetzungsphänomen der Konsumindustrie befassen. Bei beiden Zugänge werden wir feststellen, was das eigentlich Dunkle der heutigen Verführungsbemühungen ist. Dass nämlich die Verführungsangebote der Konsumindustrie integraler Bestandteil unseres Lebens, unseres Alltags, unserer Persönlichkeit werden. Dass sie sich in uns einweben, mit uns vernetzen, mit uns eins werden, unser Alltag also gewissermaßen, um eine sprachliche Figur von Jürgen Habermas zu bemühen, von der Konsumindustrie kolonialisiert wird.

    Vernetzte Verführungen der Konsumindustrie können somit ganz allgemein als Methode zur Vernetzung von unternehmerischen Zielen und Interessen mit Medien, individuellen Lebenswelten sowie gesellschaftlichen Werten und Normen aufgefasst werden.

    Die Kraft unseres Bewusstseins, dass wir verstehen und begreifen können, schützt uns dabei davor, dass wir nicht unserem inneren Dämon erliegen und uns unbewusst und willenlos im Verführungsnetz der Konsumindustrie verfangen. Unsere Autonomie und Souveränität müssen wir uns aber erarbeiten.

    Der zentrale Grund, dass sich Vernetzung als neues Leitmerkmal der Verführung herausbilden konnte, ist die Entwicklung der Vernetzungslogik zum neuen Sinngeber in der Konsumindustrie. Heute gibt die Logik der Vernetzung dem Denken und Handeln der Verführer aber auch der Verbraucher und Mediennutzer ihren Sinn. Sie steuert maßgeblich, was wir für sinnvoll und sinnlos halten. Begleitet und unterstützt wird diese Entwicklung von einem allgemeinen Wandel des Menschenbildes. Demnach wird die Auffassung, Menschen als selbstzentrierte Individuen zu verstehen, zunehmend als Anachronismus betrachtet. Abgelöst wird dieses Menschenbild von einer Vorstellung, dass wir eine proteische Persönlichkeit haben, die sich durch eine extreme Anpassungsfähigkeit und Flexibilität auszeichnet.

    Treiber dieses Wandels sind Vernetzungen, auf denen beispielsweise auch der Erfolg des Internet beruht. Wir verbringen heute in Netzwerken sehr viel Zeit. Dabei nehmen wir in unseren vielfältigen Interaktionen unterschiedliche Rollen ein, die mit vollkommen unterschiedlichen Erwartungen verknüpft sind. Interrollenkonflikte, wie sie typisch für das frühere Menschenbild waren, treten in den Hintergrund. Ein Leben mit Vieldeutigkeit und komplexen sich häufig widersprechenden Prioritäten entwickelt sich zu unserer neuen Lebensnorm. Es resultiert ein Selbstverständnis des Menschen als Knoten unterschiedlichster Beziehungen, das Jean Baudrillard zusammenfasst mit:

    »Wir existieren nicht mehr länger als Subjekte, sondern eher als Terminal, in dem zahlreiche Netze zusammenlaufen.«

    Um detaillierter zu erfahren und verstehen, womit wir im Verführungsnetz der Konsumindustrie verwoben sind, was also alles auf uns direkt und indirekt einwirkt, werfen wir nun einen näheren Blick auf die Entwicklungen in diesem Netz. So werden wir uns bewusst über die Zusammenhänge. Wie wir gesehen haben, ist dies die Voraussetzung dafür, dass wir unsere Verbraucherautonomie sichern und souverän, gemäß unserem Willen mit den auf uns unentwegt einprasselnden Verführungsbemühungen der Konsumindustrie umgehen können.

    Das Netz der großen Vier der Verführung

    Machen wir uns also die Zusammenhänge im Netz der Verführung bewusst. Was liegt näher als dafür eine vernetzte Perspektive einzunehmen? Erst damit wird die Komplexität der Zusammenhänge überschaubar. Vernetzung ist nämlich nicht nur Methode und Ziel konsumindustrieller Verführungen, sondern auch die geeignete Methode zur Beobachtung des Phänomens selbst. Denn so können wir erkennen, dass nicht einzelne der im folgenden genannten Ereignisse und Entwicklungen für die Herausbildung vernetzter Verführungen der Konsumindustrie alleinverantwortlich sind. Vielmehr hat erst das Netzwerk aus Kommunikationen, Handlungen und Entwicklungen den neuen Verführungstyp der vernetzten Verführung geschaffen.

    Wie lässt sich das erklären? Die Konsumindustrie können wir auf der Makroebene als ein gesellschaftliches Teilsystem des Wirtschaftssystems auffassen. Dieses System wird heute im Kontext der Digitalisierung des Marketings als kommunikatives Ökosystem bezeichnet. Es ist das Netzwerk der großen Vier, die durch Kommunikationen und Handlungen einen gemeinsamen spezifischen konsumindustriellen Sinnzusammenhang schaffen. Dieser Sinnzusammenhang bildet die Logik der Konsumindustrie. Er ist dynamisch. Er resultiert aus dem multilateralen, vernetzten Interaktionsprozess, den die großen Vier mit ihren Handlungen und Kommunikationen jeden Tag aufs Neue realisieren: Verführungsangebote werden von

  • 1. Verführern produziert, von
  • 2. Vermittlern verteilt, von
  • 3. uns, den Verbrauchern, wahrgenommen und passiv oder aktiv genutzt und von

  • 4. Kommentatoren schließlich weiterverarbeitet.
  • Im Laufe der Zeit bildet dieser Prozess ein gemeinsames, vernetztes Wissen inklusive seiner eigenen Logik heraus. Dieses Wissen dient den großen Vier dazu, dass sie im kommunikativen Ökosystem konsumindustriell sinnvoll und aufeinander abgestimmt handeln und kommunizieren können. Es umfasst Normen, Werte, Beeinflussungstaktiken, Produkt-, Marken- und Unternehmenskenntnisse, Moralvorstellungen, Rollenerwartungen oder Symbolgebrauch – kurzum alles, was für die Sinngebung konsumindustrieller Handlungen und Kommunikationen benötigt wird.

    Dieses konsumindustrielle Wissen ist nicht statisch. Mit ihren eigenen Kommunikationen und Handlungen sorgen die großen Vier für eine fortlaufende Modifikation ihres kollektiven Wissens – und damit für einen sich ständig wandelnden Orientierungsrahmen für ihre Kommunikationen und Handlungen. Was gestern noch sinnvoll war, z.B. Bannerwerbung, mag daher heute für alle oder einige der großen Vier nicht mehr sinnvoll sein.

    Wir fühlen uns ausgeliefert

    Schauen wir uns nun in der Gesamtschau die Entwicklungen in den vier Bereichen des Netzes konsumindustrieller Verführungen an, sehen wir, dass technologische Aspekte bei den aufgezeigten Entwicklungen eine zentrale Rolle spielen. Sei es bei den Verführern das (Re)Targeting- und Künstliche Intelligenzthema, bei den Vermittlern der Daten-Hype und die Macht der Walled Gardens, bei den Verbrauchern eine nicht gewünschte, zu persönliche Verführung und die gleichzeitige Sehnsucht nach Vernetzung mittels sozialer Medien oder seitens der Kommentatoren das Bemühen um ein qualitativ besseres Werbeerlebnis im Netz und die propagierte Integration der Technologie in ein zeitgemäßes Kreativitätsverständnis. Vernetzte Verführungen und die Feststellung, dass ihre Methoden die neuen Dark Arts der Konsumindustrie repräsentieren, sind, so scheint es, vor allem das Resultat der Interaktionen von Entwicklungen, die technologischer Art und Thematik sind. Dies hat ja auch ganz ähnlich bereits die Diskussion des Cambridge Analytica Case ergeben.

    Kein Leben ohne Technik

    Es wäre aber zu kurz gegriffen, die heutigen Verführungsaktivitäten der Konsumindustrie einzig und allein mit dem Wandel der technologischen Verhältnisse zu erklären. Die heutigen Techniksoziologien lehren uns, dass es nicht mehr angebracht ist, von einer Gegenüberstellung von Mensch und Technik, von einem Diesseits und einem Jenseits der Technik auszugehen, sondern einem Verständnis zu folgen, nach dem Mensch und Technik miteinander verschmolzen sind. Ein Denken in Gegensätzen von Mensch und Technik ist hinfällig geworden. Der Grund dafür ist offensichtlich.

    Wir leben in Technik, sind im digitalen Zeitalter ohne Technologie nicht gesellschafts- und damit auch nicht mehr überlebensfähig. Gutgemeinte Empfehlungen zum Digital Detoxing für die Generationen der Baby Boomer und Traditionals muten selbst für die Angehörigen dieser Generationen wie ein netter Postgartengruß aus der guten alten analogen Zeit an. Für die Generation Z ist die Empfehlung, sich doch einmal digital zu entgiften, gar ein Aufruf zum kommunikativen und damit sozialen Selbstmord. Die Unterscheidung von Technologie und Mensch fällt mithin in sich zusammen. Damit ist aber auch das Auseinanderdividieren von technologischen und menschlichen Entwicklungen sinnlos geworden. Die schon erwähnte Entwicklung des Menschenbilds zu einer proteischen Persönlichkeit vervollständigt die Kritik an der Annahme, Technologie und Menschen heute noch voneinander abstrahieren zu können.

    Die Entstehung vernetzter Verführung kann also nicht isoliert mit technologischen Entwicklungen erklärt werden. Und genau das verhindert ja die hier gewählte vernetzte Perspektive auf die Konsumindustrie. Die technologische Vernetzung von Geräten und Daten kann nur vernetzt mit nicht-technologischen menschlichen Entwicklungen gedacht werden. So ist beispielsweise die indifferente aber doch eher ablehnende Haltung vieler Verbraucher gegenüber den Verführungen der Konsumindustrie gleichzeitig ein technologisches wie menschliches Phänomen. Diese Betrachtung fördert eine spannende Paradoxie zutage, die die ursprünglich zutiefst menschlich, ja übermenschlich gedachten Konzepte der Magie, Mystik und damit auch der Dark Arts heute in einem anderen, technischen Licht erscheinen lassen. Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Vernetzte Verführungen« bietet den Rest des Kapitels und mehr.

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