Lexikon der Geographie: Booth, Charles
Booth, Charles, engl. Reeder und Sozialwissenschaftler, 1840-1916. Sein Hauptwerk "Life and Labour of the People in London" (17 Bände, 1889-91, 1892-97, 1902) war der Höhepunkt des social survey movement und der Beginn einer empirischen Sozialgeographie. Booth hat sich viele Jahre lang mit den Ursachen und der innerstädtischen Verbreitung von Armut in London befasst. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen haben das öffentliche Bewusstsein für soziale Probleme geweckt und auch zu sozialen Reformen geführt. In den Jahren 1905 bis 1909 war er ein Mitglied der Royal Commission of the Poor Law. Booth und seine Mitarbeiter sind zwar nicht immer systematisch vorgegangen, haben jedoch viel zur Entwicklung der Methoden der empirischen Sozialforschung beigetragen. Sie haben nicht nur Tausende von Personen befragt, sondern auch die Methode der teilnehmenden Beobachtung angewandt, indem sie sich z.B. bei Arbeiterfamilien einquartierten und über deren Alltagsleben Buch führten. Darüber hinaus hat Booth die Volkszählung von 1891 herangezogen, Schulregister ausgewertet (Dokumentenanalyse) sowie Priester, Lehrer, Polizisten und Wohltätigkeitsorganisationen über das Ausmaß und die Ursachen der Armut in ihren Bezirken befragt (Experteninterviews). Booth hat wohl als Erster versucht, eine Armutslinie zu bestimmen und Indikatoren für unterschiedliche Stufen der Armut zu finden. Die Bevölkerung der von ihm untersuchten Londoner Stadtteile hat er in acht soziale Klassen unterteilt, wobei er vor allem die Unter- und Mittelschicht genau differenzierte. Die unterste Klasse (A) bezeichnete er als "Gelegenheitsarbeiter, Faulenzer und Halbkriminelle", in der Klasse B waren "sehr Arme mit gelegentlichem Einkommen und chronischem Mangel". Die oberste Klasse H umfasste die "true middle class", die sich Dienstboten leisten konnte. Für die Sozialgeographie und Sozialökologie von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass Booth die Wohnorte der sozialen Klassen nach Straßen kartographisch dargestellt und diese Karten mit anderen Indikatoren verglichen hat. Mit dieser Vorgehensweise konnte er überraschend große innerstädtische Disparitäten der sozialen Schichtung und Zusammenhänge zwischen verschiedenen Merkmalen nachweisen (z.B. zwischen Armut und Bevölkerungsdichte). Da manche Erhebungen nach einigen Jahren wiederholt wurden, konnte er auch die zeitliche Veränderung der Sozialstruktur erfassen und auf die ökologischen Kräfte verweisen, welche die Bevölkerung aus dem Zentrum in den inneren Ring hinausdrängen. Damit hat er schon Erkenntnisse vorweggenommen, die später von der Chicagoer Schule der Soziologie am Beispiel des Kreismodells erläutert wurden. Im Rahmen seiner Studien über die Armut war Booth vor allem an den Einkommensverhältnisse, der beruflichen Tätigkeit, dem Schulbesuch, der Qualität der Schulen (diese hat er in sechs Stufen eingeteilt), den hygienischen Verhältnissen, der Überbelegung von Wohnungen, dem kulturellen Milieu (Anzahl und Art der im Haushalt vorhandenen Bücher) und am Einfluss der Religion interessiert. Er gehörte zu den Ersten, die Armut nicht als selbstverschuldet ansahen und auf den Zusammenhang zwischen Armut und Sittenlosigkeit bzw. einem regulären Einkommen und einer "anständigen Lebensweise" hingewiesen haben. Insgesamt hat er zusammen mit seinen Mitarbeitern in London 4076 Fälle von Armut untersucht und die Ursachen für Armut erforscht. Es gibt wohl kaum eine bessere quantitative und qualitative Untersuchung über die Lebensbedingungen und Sozialstrukturen einer Großstadt im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Was die von Booth untersuchten Fragestellungen und die angewandten Methoden betrifft, war er seiner Zeit weit voraus. Ähnliche Forschungsfragen wurden von der Soziologie und Sozialgeographie erst Jahrzehnte später wieder aufgegriffen. Die akademische Soziologie und Humangeographie haben von Booth zu seinen Lebzeiten nur wenig Notiz genommen.
PM
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