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Lexikon der Geographie: Fluviale Systeme

Fluviale Systeme: Steuerungsfaktoren, Reaktionszeiten, Schwellenwerte, Rückkopplungen
Olaf Bubenzer, Köln
Ein natürlicher Fluss ist als ein "offenes System" mit Zu- und Abflüssen von Energie und Materie zu verstehen. Über diese physikalische Betrachtungsweise hinaus hat jeder Fluss bzw. jedes Flusssystem eine Geschichte, d.h. die auftretenden Prozesse und Formen werden neben den aktuellen Gegebenheiten auch von vorzeitlich entstandenen Formen, den Vorzeitformen, beeinflusst. Gesteuert wird das fluviale Geschehen von den unabhängigen Parametern Klima, Geologie und Tektonik sowie dem Relief. Dazu kommen Vegetation, Böden, direkte und indirekte menschliche Beeinflussung und, bei näherer Betrachtung der Gerinne, die Zusammensetzung und Festigkeit des Ufermaterials sowie Rückkopplungsmechanismen. Man kann sechs wichtige externe Faktorenkomplexe unterscheiden, die seit dem letzten Hochglazial in Flussauen zu Veränderungen geführt haben: a) große Klimaschwankungen zwischen glazialen und interglazialen Bedingungen: Aus periglazialen Bedingungen resultierte eine hohe Sedimentproduktion, die Verfüllung kleiner und die Aufschotterung großer Täler. Der abgesenkte Meeresspiegel führte in Meeresnähe zur Einschneidung der Flüsse. b) Wiederbewaldung und Bodenentwicklung: Die postglazialen natürlichen Bedingungen reduzierten die Sedimentbereitstellung. c) holozäne sekundäre, untergeordnete Klimafluktuationen: Aride und humide Perioden lassen sich auch in Europa feststellen. Die "Kleine Eiszeit" (ca. 1600-1850 n.Chr.) führte z.B. zu außergewöhnlichen Überflutungen mit Erosion auf den Hängen und vorrückenden Gletschern, sodass sich auch Veränderungen im Gerinnebettmuster ergeben konnten. d) Hebungen und Senkungen in tektonisch instabilen Regionen: Sie bewirkten Einschneidung und Aufschüttung. e) anthropogene Entwaldung, Landnutzung und Besiedlung: Sie führten, je nach Nutzungsbeginn und -intensität, in einigen Regionen seit dem Neolithikum, großflächig jedoch erst seit dem Mittelalter und verstärkt in den letzten Dekaden, zu vielfältigen Veränderungen in den Sedimentationssystemen. In den "lössbeeinflussten", besiedelten Mittelgebirgslandschaften ist die Bildung von Auenlehm nach Urbarmachung und nachfolgend beschleunigter Bodenerosion ein typisches Merkmal. f) bewusste Einflüsse durch menschliche Aktivitäten: Zu ihnen gehören Dränage, Wiederaufforstung, alle Arten der Verfüllung von Hohlformen, Flusskanalisation sowie Aufstau von Gewässern für Wasserbereitstellung, Wasserkraftnutzung, Hochwasserschutz, Schifffahrt und Bewässerung.
Es wird deutlich, dass fluviale Systeme als komplexe Landschaftssysteme verstanden und betrachtet werden müssen. Bei ihrer Untersuchung und bei der Rekonstruktion fluvialer Morphodynamik sind folgende Rahmenbedingungen zu beachten: a) die Dimensionen des Einzugsgebietes insgesamt, des jeweiligen Teileinzugsgebietes, des zu untersuchenden Talbodens und des Gerinnes einschließlich des Einflusses der umliegenden Hänge; b) der Zeitraum der Untersuchungen zur aktuellen Morphodynamik, die Andauer von Prozessen, die zu Veränderungen führen und die Dauer, bis Schwellenwerte über- oder unterschritten werden und c) die Korngrößenzusammensetzung der Sedimente, z.B. die Unterscheidung in grobklastische Hangschuttsedimente und Talbodenschotter oder feinklastische Hangkolluvien und Auenlehme.
Flusssysteme sind in Bezug auf Sensitivität, Reaktions- und Regenerationszeiten nach Störungen hierarchisch organisiert ( Abb. 1). Mikrohabitate und Habitate haben eine Dimension von ≤10 m und reagieren, in geologisch betrachtet kurzen Zeiträumen (≤10 Jahren) hochsensitiv auf Veränderungen bzw. Störungen. Dagegen benötigen Veränderungen eines gesamten Abflussnetzes Zeiträume von 105-106 Jahren. Bremer (1989) bemerkt, dass die Gestalt eines Flussbettes, z.B. dessen Gefälle, in der modernen Zeit (ca. 1000 Jahre) von den Taldimensionen der geologischen Zeit bestimmt wird, die heute (ein Jahr oder weniger) zu beobachtenden Abflussverhältnisse jedoch wiederum von der Gestalt des Flussbettes abhängen. Zu beachten sind auch die jeweiligen räumlichen Dimensionen. So lassen sich z.B. Methoden bzw. Ergebnisse aus der Bodenerosionsforschung, die meist auf relativ kleinen "Testparzellen" angewandt bzw. gewonnen wurden, nur schwer auf mittlere oder große übertragen. Die Problematik ergibt sich somit aus der Variabilität der Parameter und der Komplexität der raum-zeitlichen Prozesszusammenhänge.
Ob es innerhalb eines fluvialen Systems zu Veränderungen kommt, hängt neben den oben genannten Faktoren von der internen (intrinsischen) Entwicklung eines Systems ab. So führen Veränderungen externer Faktoren nicht automatisch zu Reaktionen im fluvialen System, da möglicherweise Schwellenwerte des Abflusses in Hinblick auf Erosion und Transport nicht erreicht werden. Dies kann am Grundriss eines Auenlehm sedimentierenden Gerinnes verdeutlicht werden. Infolge der fortwährenden Akkumulation von Auenlehm nehmen Uferhöhe, Uferneigung und Gerinnekapazität bis zu einem kritischen Schwellenwert, der vom Ufersubstrat und der -festigkeit abhängt, zu. Danach kommt es zu Uferabbrüchen und -rutschungen. Damit kann sowohl vor Erreichen des Schwellenwertes als auch nach dessen Überschreitung kontinuierlich mehr und mehr Material aus dem System heraus transportiert werden, d.h. seine Sedimentfracht kann sich ohne Schwankungen von Materialzufuhr und Abfluss verändern. Zusätzlich kommt es zu einer horizontalen Ausweitung des Gerinnes. Grundsätzlich können Schwellenwerte, nach deren Überschreiten sich morphologische Effekte einstellen, in drei Gruppen untergliedert werden: a) externe und interne, b) prozess- und formabhängige und c) durch menschliche Aktivität bedingte.
Schwellenwerte können die internen Reaktionen eines Systems auf externe klimatische oder anthropogene Impulse verzögern oder gar vollständig unterdrücken. Theoretisch kann man dies durch das sog. Gleichgewichtskonzept verdeutlichen. Dabei ist ein wichtiges Charakteristikum "offener" fluvialer Systeme, dass sie die Fähigkeit zur Selbstregulation besitzen. Mechanismen negativer Rückkopplung können Wirkungen externer Faktoren so verändern, dass ein System ein Gleichgewichtsstadium mit einem gewissen Stabilitätsgrad beibehalten kann ( Abb. 2). Eine vollständige Stabilität existiert niemals in natürlichen Flüssen, da sie häufig ihre Lage ändern und stark unterschiedliche Sediment- und Wassermengen transportieren. Trotzdem können sie sich in einer Weise "quasi-stabil" verhalten, sodass sie Störungen unterdrücken, d.h. abdämpfen und zum Ausgangszustand zurückkehren können. Falls die steuernden Parameter relativ konstant bleiben, können natürliche Flüsse typische Gleichgewichtsformen entwickeln, die durch statistische Mittelwerte und Korrelationen erkennbar sind. Nach einer Störung kann das stabile Gleichgewicht einerseits durch eine negative Rückkopplung wieder hergestellt werden, andererseits kann es sich nach einer Schwellenwertüberschreitung neu einstellen, d.h. es unterscheidet sich vom vorherigen. Dabei kann das kritische Niveau, bei dem sich eine (vorübergehende) Instabilität in Form von Fluvialerosion oder Fluvialakkumulation einstellt, hoch oder niedrig sein. Ein instabiles Gleichgewicht liegt vor, wenn bereits ein geringer Anstoß ausreicht, eine Veränderung herbeizuführen. Verläuft diese Veränderung in der gleichen Richtung wie der Anstoß, spricht man von positiver Rückkopplung, die intensitätsverstärkend wirkt. Sie tritt seltener auf als intensitätsdämpfende negative Rückkopplungen, da sie nach Erreichung eines Schwellenwertes entweder in der Selbstvernichtung des Systems endet oder in negative Rückkopplungen umschlägt. Das Diagramm kann man sich als potenzielle Energiefläche vorstellen. Es ist zwar für die grundsätzliche Darstellung und Verdeutlichung eines Systemzustandes nützlich, begründet aber weder die Art und Weise wie ein Gleichgewichtszustand erreicht noch wie ein Schwellenwert überschritten wird. Systemtheoretisch betrachtet handelt es sich um ein sog. Kaskadensystem, mit dem der Weg des Energie- oder Materialflusses untersucht werden kann. Es lässt sich ableiten, das kurzfristige Veränderungen in einem System nur für einen begrenzten Zeitraum von hundert bis zu wenigen tausend Jahren extrapolierbar sind. Wie sie sich in der Summe auswirken, d.h. welche langfristigen Veränderungen (104-105 Jahre) sie bewirken, ist nur aus der Reliefanalyse zu klären. Man kommt demnach nicht umhin, beim Vergleich von aktueller und ehemaliger fluvialer Morphodynamik, unterschiedliche Ansätze und Datengrundlagen heranzuziehen. Während aktuelle Prozesse teilweise messbar und direkt beobachtbar sind, kann eine Datierung und Quantifizierung älterer Prozessabläufe nur über die jeweils erhaltenen Formen und Sedimente erreicht werden.
Um die komplexen raum-zeitlichen Beziehungen in fluvialen Systemen besser verstehen und untersuchen zu können, bieten sich Prozess-Responz-Modelle (Prozess-Reaktions-Modelle) an. So stellt z.B. Vandenberghe (1995) auf der Basis von Ergebnissen, die an der Warthe und der Maas gewonnen wurden, ein alternierendes Kaltzeit-Warmzeit-Zyklen-Modell fluvialer Stabilität und Instabilität vor, in Bezug zu Klima und klimaabhängigen Parametern ( Abb. 3). In ihm beginnt jeder Zyklus mit einem Temperatursturz, z.B. am Übergang Eem-Warmzeit/Weichsel-Kaltzeit, aus dem sich eine Verringerung der Evapotranspiration (E-) und eine nachfolgende Erhöhung der Abflussmenge (A+) ergibt. Die Vegetationsbedeckung existiert noch für eine gewisse Zeit, sodass der Untergrund stabil bleibt (Verzögerung: Veg±, U±). Die zunehmende Abflussmenge erzeugt die Einschneidung des Flusses (I). Nachdem die Vegetation auf die anhaltenden periglazialen Verhältnisse mit einem Rückgang, d.h. Auflichtung reagiert hat (Veg-), wird der Untergrund instabil (U-), und es gelangt mehr Sedimentmaterial ins Gerinne (SG+). Die Folge ist eine Auffüllung der Gerinne bis etwa auf das vorherige Niveau (AG), wobei die Sedimentation durch ein verwildertes Gerinnebettmuster (verwilderter Flusslauf) erfolgt, da der Abfluss unregelmäßig ist und die Gerinne überladen sind. Im Gegensatz dazu zeigt der letzte Teil der kalten Periode ein relatives Gleichgewicht zwischen Erosion und Akkumulation bei abnehmender fluvialer und zunehmender äolischen Aktivität (E≈AG, fA-, äA+). Bei einer Klimaverbesserung, z.B. am Übergang vom Hochglazial zum Spätglazial, bleibt die Vegetationsentwicklung zunächst noch zurück (Veg±), sodass die Evapotranspiration noch gering (E±) und der Abfluss am Beginn der warmen Periode relativ groß ist (A+). Mit der Zeit wird der Untergrund durch die aufkommende Vegetation stabiler (Veg+, U+), sodass sich die Sedimentfracht der Gerinne reduziert (SG-) und es zur Einschneidung bei einem mäandrierenden Abflussmuster kommt (I). Die weitere Zunahme der Evapotranspiration (E+), resultierend aus der fortschreitenden Vegetationsverdichtung (Veg+), erzeugt geringere Abflussmengen (A-) und einen Wechsel in der Flussaktivität. Gerinne werden verfüllt (AG). Es erfolgt eine Rückkehr zum vorherigen Niveau. Die (relative) Talbodenstabilität während des folgenden Interglazials drückt sich in einer lateralen Verlagerung des einfadigen Flusses über seine Aue und Bodenbildung aus. Vandenberghe leitet ab, dass sowohl die Einschneidungs- als auch die Auffüllungsphasen von relativ kurzer Dauer sind und schnell aufeinander folgen. Auf die kurzen Instabilitätsphasen folgen lange Stabilitätsphasen, in den ein relatives Gleichgewicht zwischen lateraler Sedimenterosion und -akkumulation herrscht.
Als Fazit kann abgeleitet werden, dass Klimaschwankungen wichtige Faktoren bei der Beeinflussung von Gerinnebettmustern im Verlaufe der Zeit sind. Die Reaktion der fluvial gebildeten Formen und Sedimente auf Klimaänderungen ist jedoch komplexer als bisher angenommen, da fluviale Prozesse nicht allein vom Klima abhängen, sondern das Produkt einer Anzahl physischer Parameter wie der Untergrundfestigkeit und der Evapotranspiration sind. Diese ihrerseits werden stark von der Vegetation beeinflusst, deren Zusammensetzung und Dichte wiederum eine (verzögerte) Reaktion auf die Klimaentwicklung ist. Flüsse benötigen demnach Zeit, um ihr Muster und ihr Gefälle an die neuen Verhältnisse anzupassen; die Entwicklung eines Flusssystems wird von der Zeitskala beeinflusst und abgewandelt. Vandenberghe (1995) gliedert vier Zeitskalen aus: a) In der Größenordnung von Hunderttausenden von Jahren (Glazial-/Interglazial-Zyklus) hängt die fluviale Entwicklung im Großen und Ganzen, innerhalb der tektonischen Rahmenbedingungen, vom Klima ab. b) In der Größenordnung von Zehntausenden von Jahren (ein Kalt-/Warm-Zyklus) werden die fluvialen Reaktionen von den klimaabhängigen Größen Vegetation, Untergrundfestigkeit und Abfluss bestimmt. Kurze Phasen mit Instabilität alternieren mit langen Perioden der Stabilität. Die Instabilitätsphasen kommen während der klimatischen Übergänge vor. c) In der Größenordnung von Tausenden von Jahren (eine Instabilitätsphase) wird die Reaktion von der intrinsischen Entwicklung im System bestimmt. d) In der Größenordnung von Hunderten von Jahren (Klimaschwankungen geringerer Ordnung) sind Effekte lokaler klimatischer sowie landschaftlicher und sedimentologischer Schwellenwerte die wirksamsten. Zu ihnen zählen Talgefälle, Korngröße und -menge der zu transportierenden Sedimente.
Mit diesem Ansatz lässt sich z.B. gut erklären, warum sich der Wechsel vom glazialen verwilderten Gerinnebettmuster zum einfadigen spätglazialen bis holozänen Gerinne an vergleichbaren Lokalitäten Mitteleuropas zu verschiedenen Zeiten vollzogen hat. Die verzögerte Reaktion des Gerinnemusters, der Landformungs- und Sedimentationsprozesse auf den schnellen Klimawechsel um 13.000a v.h. wird durch eine intrinsische Entwicklung über einen Zeitraum von ca. 1300a repräsentiert.

Lit: [1] AHNERT, F. (1996): Einführung in die Geomorphologie. – Stuttgart.
[2] BREMER, H. (1989): Allgemeine Geomorphologie. Methodik – Grundvorstellungen – Ausblick auf den Landschaftshaushalt. – Berlin, Stuttgart.
[3] CHORLEY, R.J. & KENNEDY, B.A. (1971): Physical geography: a systems approach. – London.
[4] KNIGHTON, D. (1998): Fluvial forms and processes. A new perspective. – London.
[5] SCHUMM, S.A. (1977): The fluvial system. – New York.
[6] VANDENBERGHE, J. (1995): Timescales, climate and river development. Quaternary Sciences Reviews, Vol. 14, 631-638.


fluviale Systeme 1: fluviale Systeme 1: Hierarchische Organisation eines Flusssystems in Bezug auf Sensitivität, Reaktions- und Regenerationszeiten nach Störungen.

fluviale Systeme 2: fluviale Systeme 2: Schematische Darstellung stabiler und instabiler Gleichgewichtszustände.

fluviale Systeme 3: fluviale Systeme 3: Geomorphologische Auswirkungen fluvialer Aktivität während der Kaltzeit-Warmzeit-Zyklen.
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Redaktion:
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Grafik:
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