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Lexikon der Geographie: Ländlicher Raum

Ländlicher Raum, komplexer Begriff, der stark dem Wandel unterliegt und kaum durch eine allgemeingültige Definition fassbar ist. In der Raumordnung wird der ländliche Raum meist als "Restgröße" angesehen, als Gebiet, das weder Verdichtungsraum noch Randzone eines Verdichtungsraumes ist und in diesem Sinne im Ggs. zum städtischen bzw. urbanen Raum steht. Ländliche Räume sind Standorte der Erzeugung von Nahrungsgütern und Rohstoffen sowie des auf dem Land ansässigen Gewerbes, Wohngebiete der (kleineren) landwirtschaftlich tätigen und der (größeren) nicht landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung, Flächenreserven für Siedlungsausbau, Gewerbe und Verkehrsanlagen, Erholungsräume der städtischen Bevölkerung sowie ökologische Ausgleichsräume. Als Abgrenzungskriterien zum städtischen Raum werden u.a. verwendet: Agrarquote, Bevölkerungsdichte, Freiflächenanteile, Bruttoinlandsprodukt, aber aufgrund der tief greifenden Veränderungen der Erwerbsstruktur und der hochtourigen Mobilität der letzten Jahrzehnte ist eine Abgrenzung des zunehmenden Stadt-Land-Kontinuums kaum mehr möglich.
Der Übergang von der Agrar- zur Industrie- und Städtegesellschaft seit der Industriellen Revolution hat auch den ländlichen Raum nachhaltig verändert. Das Dorf ist stärker als je zuvor in den Sog des Urbanen geraten, es hat sein Gesicht, seine überkommenen Funktionen, seine traditionellen Lebensinhalte gewandelt und ist zum Wohnstandort nicht landwirtschaflicher Erwerbspersonen ebenso geworden wie zum Migrationsraum städtischer Bewohner. Trotz dieser "Umstellungskrise" existieren neben den Städten und Verdichtungsräumen im Bewusstsein und Lebensgefühl der Bewohner immer noch ländliche Räume und Dörfer.
Die Unterschiede innerhalb der Gebietskategorie "ländlicher Raum" sind enorm, der ländliche Raum im bevölkerungsarmen Mecklenburg-Vorpommern ist ein ganz anderer als im zuzugsstarken Bodenseegebiet. Selbst kleinräumige Vergleiche zwischen benachbarten Dörfern lassen oft große Kontraste bezüglich des Siedlungsbildes, des Wirtschafts- und Sozialgefüges sowie der Entwicklungsdynamik erkennen. Neue Wohngebiete und eine starke Zuwanderung von Pendlern, die ihr Auskommen außerhalb des Dorfes finden, neue, oft auch baulich vom alten Ortskern abgesetzte Wohngebiete nicht selten regionsfremden Baustils, Dorfverschönerungsmaßnahmen nach städtischen Geschmacksmustern und ein reges kulturelles Leben prägen landschaftlich attraktive, verkehrsgünstig gelegene und in den Sog von Verdichtungsräumen geratene Dörfer, während oft nur einige Zehner von Kilometern entfernt verkehrsungünstig gelegene, stagnierende Dörfer zu finden sind, in denen der Rückgang an land- und forstwirtschaftlichen sowie handwerklichen Arbeitsplätzen nicht aufgefangen werden konnte, Infrastruktureinrichtungen aufgegeben werden und ein Großteil der jungen Bevölkerung abwandert . Hier ist die Zahl der Altbauten deutlich größer als die der Neubauten; ungenutzte Bausubstanz findet keinen Käufer, die lokalen Politiker machen sich große Sorgen um die Zukunft ihres Dorfes.
Dass der ländliche Raum in der Sicht der Raumordnung letztlich eine "Restgröße" bildet, spiegelt sich auch in der Sicht von Wissenschaftlern, Planern und Politikern, welche ihn häufig durch die "urbane Brille" betrachten und dabei entweder Defizite oder aber exotische Reize sehen und zentrale, von oben "oktroyierte" Steuerungsprogramme entwickeln, um in allen Teilräumen des Staatsgebiets gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen. Der ländliche Raum ist für die Raumordnungspolitik ein ständiges Sorgenkind der Städtegesellschaft. Tatsächlich belasten hohe Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Infrastrukturverfall viele ländliche Gebiete und Dörfer. Nicht selten entwickelt sich ein regionaler Teufelskreis wirtschaftlicher Stagnation oder gar Depression. Auf der anderen Seite stehen reiche Agrarlandschaften mit baulich und infrastrukturell attraktiven und intakten Dörfern, welche durch die moderne Verkehrserschließung (meist Autobahn) einen Aufschwung erfahren haben. In den Hochkonjunkturphasen der 1960er- und 70er-Jahre sind viele Industriebetriebe aufs Land gegangen, um die in der Land- und Forstwirtschaft freigewordenen Arbeitskräfte aufzunehmen. In anderen Regionen wurde der Tourismus zum Motor eines wirtschaftlichen Aufschwungs.
Die Bewertung solcher struktureller wie funktionaler Veränderungen des ländlichen Raumes ist durchaus ambivalent. Viele sehen in seiner zunehmenden Urbanisierung einen Fortschritt, während andere die Verluste an traditionellen, meist kulturellen Werten beklagen.
Sieht man den ländlichen Raum nicht durch die städtische Brille, so ist er – knapp und positiv formuliert – ein naturnaher, von einer immer noch vorhandenen Land- und Forstwirtschaft geprägter Siedlungs- und Landschaftsraum mit geringer Bevölkerungs- und Bebauungsdichte sowie niedriger Zentralität der Orte, aber höherer Dichte der zwischenmenschlichen Beziehungen. Charakteristisch für ländliche Räume ist ihre naturräumliche und kulturhistorische Vielfalt. Auch ihre Faszination besteht gerade darin, dass sie sich wie ein Bild aus abertausend (regionalen und lokalen) Mosaiksteinchen zusammensetzen, die alle nur denkbaren Farben und Kontraste enthalten. Alle Teilchen ändern sich und ihre Beziehungen untereinander, sodass ständig neue Gesamtbilder unserer vielfältigen ländlichen Räume entstehen.

GH

Lit: [1] HENKEL, G. (1995): Der ländliche Raum. Gegenwart und Wandlungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert. – Stuttgart. [2] LIENAU, C. (1995): Die Siedlungen des ländlichen Raumes. – Braunschweig.

  • Die Autoren

Redaktion:
Dipl.-Geogr. Christiane Martin (Leitung)
Dipl.-Geogr. Dorothee Bürkle
Dipl.-Geol. Manfred Eiblmaier

Fachkoordinatoren und Herausgeber:
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Grafik:
Mathias Niemeyer (Leitung)
Ulrike Lohoff-Erlenbach
Stephan Meyer

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