Lexikon der Geographie: Leitbild
Leitbild, 1)Bildungsgeographie: Leitbild der Schulentwicklungsplanung. Hinsichtlich der Standortverteilung und Größe von Grundschulen im ländlichen Raum konkurrieren seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zwei verschiedene Leitbilder miteinander, das der wohnortnahen Kleinschule (Landschule) und das der zentral gelegenen Großschule (Stadtschule). Befürworter der wohnortnahen Kleinschule argumentieren, dass zumindest den 6-10jährigen Schülern keine großen Schulwegdistanzen zugemutet werden sollten, dass Grundschulen zu den elementaren Infrastruktureinrichtungen einer Ortschaft gehören und wesentliche Grundbedürfnisse der Bevölkerung abdecken. Das Fehlen einer Grundschule würde die lokale Identität, die lokalen kulturellen Aktivitäten und damit die Attraktivität und Lebensqualität einer Ortschaft negativ beeinflussen. Sie weisen darauf hin, wie wichtig in dieser Altersgruppe gleichbleibende vertraute Kleingruppen und Lernen im eigenen sozialen Umfeld sind. Für die zentral gelegene Großschule werden vorwiegend ökonomische und gesellschaftspolitische Argumente vorgebracht. An großen Schulen sei ein kostengünstigerer und flexiblerer Einsatz von Lehrpersonen und Lehrmitteln möglich, große Schulen seien für Lehrkräfte attraktiver, seien besser mit Sonderräumen ausgestattet und würden deshalb bessere Leistungen erbringen. An Kleinschulen hätten die Lehrkräfte selten Gelegenheit zu Fachgesprächen, deshalb seien sie oft überfordert und isoliert. Die einklassigen Grundschulen seien ein altmodisches Relikt vergangener Zeiten, ein Symbol für geistige Enge, Rückständigkeit und Konservativismus, sie würden den Anforderungen der Gesellschaft nicht mehr genügen und den notwendigen gesellschaftlichen Wandel verzögern. Zentral gelegene, große Schulen wurden von einigen Bildungspolitikern gleichsam als Mittel der Gesellschaftsveränderung angesehen. Die Schließung von möglichst vielen niedrigorganisierten Kleinschulen wurde als Zeichen einer fortschrittlichen Schulpolitik angesehen. Die Vertreter beider Leitbilder haben den Fehler gemacht, Schwächen des Schulsystems, die auf gesellschaftlichen oder ökonomischen Ursachen beruhten, einseitig auf die Organisationsform und Größe der Schulen zu reduzieren. Ähnlich wie die Bestimmung der Begabtenreserven basierte auch die negative Bewertung der schulischen Leistung von Kleinschulen auf gravierenden methodischen Fehlern, indem unterschiedliche Übertrittsraten vorwiegend auf die unterschiedliche Organisationsform und Größe zurückgeführt wurden und wesentlich wichtigere Einflussfaktoren wie soziale Herkunft oder Qualifikation des Lehrkörpers vernachlässigt wurden. Inzwischen wurde mehrfach nachgewiesen, dass bei vergleichbarer Lehrerqualifikation und bei vergleichbarer sozialer Herkunft der Schüler Kleinschulen mindestens gleich gute, wenn nicht bessere Leistungen erzielen als Großschulen. Das Leitbild der "überlegenen Stadtschule" wurde in den 1960er-Jahren zuerst in den USA, in den 1980er-Jahren auch in Europa infrage gestellt. Während die ökonomischen Argumente gegen die Kleinschulen noch weitgehend akzeptiert werden, sind die pädagogischen Argumente gegen Kleinschulen inzwischen entkräftet worden. Schulentwicklungsplan. 2)Geomorphologie: Fließgewässerleitbild, heutiger potenziell natürlicher Gewässerzustand (hpnG), der sich nach Auflassung sämtlicher anthropogener Nutzungen sowie nach Herausnahme jeglicher Verbauungen im und am Fluss und seiner Aue und im gesamten Einzugsgebiet unter den gegenwärtigen klimatischen Verhältnissen einstellen würde. Das Leitbild orientiert sich an dem gegenwärtigen Wissensstand über die natürlichen Funktionen eines Gewässerökosystems entsprechend des heutigen Naturpotenzials. Es repräsentiert ein dynamisches Klimaxstadium, in dem sich der Naturhaushalt weitgehend von menschlichen Eingriffen regenerieren konnte. Es existieren jedoch auch irreversible Faktoren, die die Ausprägung des Leitbildzustandes bestimmen können (z.B. die Auenlehmsedimentation oder Mineralisierung organischer Böden). Um die Eigenschaften zu kennzeichnen, die einem Gewässertyp in unbelastetem Stadium eigen sind, wird der hpnG mithilfe eines Parametersystems beschrieben, das sich aus abiotischen und biotischen Strukturelementen (Gewässerstruktur) zusammensetzt. Die Parameter werden als Indikatoren für die naturgemäße Intaktheit des Gewässerökosystems bzw. eines Laufabschnittes herangezogen. Je nach Größenkategorie und Fließgewässertyp sind gegebenenfalls Modifizierungen des Untersuchungsumfanges oder der Parameterdefinitionen vorzunehmen. Das Leitbild skizziert einen Idealzustand, dessen Ausprägung eine Variabilität der Parameter innerhalb gewisser Spannweiten besitzt. Zur Formulierung eines Leitbildes eignen sich untersuchte natürliche oder naturnahe Referenzgewässer bzw. -abschnitte. Da diese heute kaum mehr existieren, müssen die typspezifischen Referenzbedingungen häufig auch theoretisch hergeleitet werden. Dies erfolgt z.B. durch die Erfassung und Auswertung historischer und geologischer Karten, Bodenkarten, naturräumlich-heimatkundlicher Beschreibungen, morphologisch-sedimentologischer Untersuchungen und flussmorphologischer Grundlagen. Ziel einer Leitbildentwicklung ist die Aufstellung laufabschnittsbezogener Flusslauf- und Auetypen und die Beschreibung des hpnG für diese Typen. Das Leitbild ist nicht mit dem natürlichen oder historischen Zustand gleichzusetzen, denn es handelt sich um die Konstruktion von Leitbildzuständen, die irreversible Faktoren einschließen. Es handelt sich um das maximale Sanierungsziel, bei dem sozio-ökonomische Beschränkungen außer Acht gelassen werden. Das Leitbild dient in der wasserwirtschaftlichen Planung und Praxis u.a. als Bewertungsmaßstab für Bestandsaufnahmen und -beurteilungen des Ist-Zustandes von Gewässerökosystemzuständen (Gewässergüte, Gewässerstrukturgüte) und der Orientierung bei der Erstellung von Entwicklungszielen. 3)Landschaftsökologie: naturschutzfachliche Zielkonzeption für eine Landschaft als Beitrag zur Landschaftsplanung, in der innerfachliche Zielkonflikte ausgeräumt sind. Die Ermittlung eines Leitbildes ist eine wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Planung, Projektierung und Durchführung von landschaftserhaltenden bzw. -verändernden Zuständen einerseits sowie für die generelle Entwicklung von Landschaftsräumen andererseits. Da die normative Komponente neben der rein naturwissenschaftlichen nicht außer Acht gelassen werden darf, sind Leitbilder grundsätzlich nur dann sinnvoll, wenn sie regional differenziert sind und damit konkrete lokale Handlungsanweisungen liefern können, wenn sie die Biotop- und Standortfaktoren sowie die wesentlichen Landschaftspotenziale mit einbeziehen, wenn sie die Maßstabsebene der Zielplanung einhalten, wenn sie fachlich begründet und nachvollziehbar sowie überprüf- und weiterentwickelbar sind. 4)Raumplanung: Leitbild der räumlichen Entwicklung, ist ein nicht rechtlich festgelegter Begriff, der besonders in der Stadt-, Regional- und Landesplanung Verwendung findet. Im Leitbild wird ein erwünschter künftiger Zustand als zu erstrebendes Ziel formuliert, der durch entsprechendes Handeln erreicht werden soll. Der Zeithorizont bleibt offen, alle Maßnahmen sollen auf das formulierte Leitbild hin koordiniert werden. Der Konkretisierungsgrad des Leitbildes ist häufig wenig präzise, um Zielkonflikte bei der Erreichung des Leitbildes/der Leitbilder zu vermeiden. Sie dürfen keinen Endzustand planen, da Leben in Raum und Zeit einen Prozess darstellt. Da Leitbilder auf einen anzustrebenden, besseren Zustand ausgerichtet sind, erfreuen sie sich hoher politischer Akzeptanz. Fast alle Raumordnungsgesetze enthalten Leitbilder/Leitvorstellungen, die als Voraussetzung zur Erarbeitung von Programmen und Plänen für die räumliche Entwicklung dienen. Strategien zu ihrer Umsetzung bleiben dagegen häufig umstritten. 5)Stadtgeographie: städtebauliche Leitbilder, programmatische Konzepte der Raumordnung, die im Einklang mit gesellschaftlichen Idealen und Gegebenheiten in sich schlüssige Modellvorstellungen für eine ideale städtebauliche und stadträumliche Struktur bieten. Beispiele sind die Leitbilder des Ville Contemporaine oder der gegliederten bzw. aufgelockerten Stadt der 1950er-Jahre, welches in den 1960er-Jahren durch das Leitbild der Verdichtung und Verflechtung abgelöst wurde (Funktionsmischung).
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