Lexikon der Geowissenschaften: Ostracoda
Ostracoda, Ostrakoden, kleine Krebstierchen, die ihren Körper rundum durch ein zweiklappiges Gehäuse schützen. Beide Klappen sind am Dorsalrand völlig voneinander getrennt und stehen durch das sog. Schloß miteinander in Verbindung. Im Vergleich zu anderen Krebsen, bei denen Rumpf (Thorax) und Schwanzteil (Abdomen) gut ausbildet sind, zeigt der Ostrakodenkörper nur einen kleinen Restrumpf: Er ist also stark in der Länge verkürzt. Darüber hinaus ist er auch enorm lateral abgeflacht. Die ursprüngliche körperliche Segmentierung ist weitgehend verlorengegangen und nur noch durch die Ansatzstellen der Gliedmaßen erkennbar ( Abb. 1). Die Hauptkörpermasse ist im Kopfbereich konzentriert, an dem fünf der insgesamt sechs bis maximal sieben Extremitätenpaare ansetzen: das erste und zweite Antennenpaar, die vorwiegend der Bewegung dienen, sowie die zur Nahrungsaufnahme ausgebildeten Mandibeln, Maxillulae und Maxillen. Der sehr kleine Rumpf, der den Kopf an Länge kaum übertrifft, weist keine, ein oder zwei Gliedmaßenpaare, die Thorakopoden, auf. Die geringe Anzahl der Gliedmaßen erfordert eine hohe Spezialisierung für die vielfältigen Aufgaben. Je nach Lebensweise der betreffenden Formen können homologe, d.h. auf die gleiche Abstammung zurückgehende Gliedmaßen in den einzelnen Ostrakodengruppen ganz unterschiedlich bzw. nicht homologe Gliedmaßen einander ähnlich sein.
Der weiche Ostrakodenkörper wird durch ein sog. Chitinspangenwerk (Chitin) gestützt, das an der Körperwand anliegt. Zusätzlich ist ein chitinig-sehniges Endoskelett ausgebildet. Weitere Stützfunktion hat die Körperwandmuskulatur, zu der auch der Schließmuskel und das System der Extremitätenmuskulatur gehören Das Blutgefäßsystem ist i.d.R. reduziert, nur einige ursprüngliche Formen wie die Myodocopa verfügen über ein Herz und einige Arterien. Die Atmung erfolgt über die Weichkörperoberfläche. An Sinnesorganen sind vor allem Organe des Tastsinns, des chemischen Sinnes, das Frontalorgan, das Medianauge und die Seitenaugen vorhanden. Tastborsten sind hauptsächlich im Randbereich der Schale und an den Extremitäten ausgebildet. Spezielle Borsten fungieren als Chemorezeptoren. Das sog. Frontalorgan entspricht nicht dem Medianauge. Es liegt in der Nähe des letzteren, aber seine Funktion ist unbekannt. Das Median- oder Naupliusauge ist das wichtigste Lichtsinnesorgan und besteht aus drei Pigmentbechern, die auch seitlich auseinanderrücken können. Komplexaugen (Seitenaugen) gibt es nur bei der Gruppe der Myodocopa.
Die Geschlechtsorgane gehören zum kompliziertesten Organsystem der Ostrakoden. Bemerkenswert ist, daß die Spermien mit maximal 8 bis 10facher Körperlänge des Ostrakoden die längsten im ganzen Tierreich sind. Die Fortpflanzung geschieht meist geschlechtlich, aber auch ungeschlechtliche Fortpflanzung, die sog. Parthenogenese, ist bekannt, v.a. bei limnischen Vertretern. Fossil äußert sich dies in der ausschließlichen Überlieferung weiblicher Formen. Bei vielen Arten kommt Brutpflege vor. Die Anzahl der Eier im Brutraum schwankt zwischen 4 und 41.
Die Größe der Ostrakoden bewegt sich um 1 mm Länge. Die größten rezenten Vertreter (Gigantocypris) erreichen 33 mm, die größten fossilen Formen (z.B. Leperditia) bis zu 100 mm. Das Wachstum der Ostrakoden erfolgt über verschiedene Häutungen. Außer dem Naupliusstadium, dem ersten Larvenstadium, gibt es i.d.R. sieben weitere Larvenstadien und das erwachsene Tier, den Adultus. Danach sind keine weiteren Häutungen bekannt. Nur bei einer Gruppe, den paläozoischen Eridostraca, wurde die alte Schale nicht abgeworfen, sondern Bestandteil der neuen Schale ( Abb. 2). Die jeweils alten Gehäusebegrenzungen sind durch die ‹Anwachsstreifen‹ sichtbar. Die Beibehaltung der alten Schale wird als Retention bezeichnet und ist bei den Conchostracaein allgemeines Merkmal. Da Weichkörpererhaltung im Fossilbereich nur sehr untergeordnet vorkommt, sind die Merkmale des Gehäuses für den Paläontologen von besonderer Bedeutung. Die Ostrakodenschale besteht aus der sog. Außen- und Innenlamelle ( Abb. 3). Während die Außenlamelle verkalkt, bleibt die Innenlamelle weichhäutig bzw. verkalkt, wenn überhaupt, nur randlich. Sie kann in diesem Bereich fest mit der Außenlamelle verwachsen sein oder einen Hohlraum bilden, das sog. Vestibulum. Die Außenlamelle besteht von außen nach innen aus drei Schichten: äußere Epicuticula, mittlere Exocuticula und innere Endocuticula (Cuticula). Nur die mittlere Schicht verkalkt, die äußere und innere Schicht bestehen aus einem Chitin-Protein-Komplex. Bei planktonisch lebenden Ostrakoden ist die Kalkeinlagerung aus Gewichtsgründen reduziert, so daß diese Formen weitgehend über chitinige Gehäuse verfügen; auch die frühesten Ostrakodenvertreter aus dem Kambrium haben noch keine Kalk-, sondern eine Phosphatschale.
Der das Schloß enthaltende Bereich der Schale wird nach oben orientiert und heißt Dorsalrand. Bei vielen Formen aus dem Paläozoikum ist der Schloßrand lang und gerade. Bei postpaläozoischen Taxa ist der Schloßbereich zwar gerade, der gesamte Dorsalrand aber häufig konvex, so daß hier die Orientierung nach der sog. Basislinie erfolgt. Die Muskelabdrücke des Schließmuskels (Adduktor) geben einen guten Anhaltspunkt zum Erkennen von vorn und hinten; sie befinden sich normalerweise in der vorderen Klappenhälfte. Größere stachelartige Fortsätze sind meist nach hinten gerichtet (gerichtete Fortsätze). Beide Klappen eines Gehäuses sind meist nicht völlig symmetrisch. Welche Klappe über die jeweils andere greift, ist für bestimmte Taxa typisch. Häufig sind dann sog. Kontaktrandskulpturen entwickelt, die einen festeren Verschluß gewährleisten. Im allgemeinen ist der Innenraum (Domicilium) bei geschlossenen Klappen völlig von der Außenwelt abgeschlossen, es gibt nur relativ wenig Arten, bei denen das Tier zu groß ist und das Gehäuse entsprechend nicht geschlossen werden kann. Primäres Klaffen findet man als Primitivmerkmal bei einigen kambrischen Ostrakoden. Viele Arten haben dagegen Öffnungen an verschiedenen Stellen des Schalenrandes, durch welche Atemwasser oder Gliedmaßen ein- und austreten können, z.B. die Rostralinzisur zum Austritt der Antennen. Durch Porenkanäle ist ebenfalls eine ständige Verbindung nach außen geschaffen. Die Flächenkanäle verlaufen senkrecht durch die Schale, die sog. Randkanäle sind auf der Schaleninnenseite im Bereich der Verwachsungszone von Außen- und Innenlamelle sichtbar ( Abb. 4).
Zu den Skulpturen einer Ostrakodenschale gehören die sog. lobalen und sulcalen Skulpturen. Sie sind Faltungen der Schale und damit auch auf der Innenseite bzw. Steinkernen ausgeprägt. Loben sind Aufwölbungen, Sulci dagegen Vertiefungen der Schalenoberfläche. Zu den ornamentalen Skulpturen gehören z.B. Dornen, Tuberkel, Rippen und am Rand gelegene sog. Adventralskulpturen wie das Velum ( Abb. 5 u. 6). An inneren Merkmalen ist die Ausbildung der Innenlamelle, sofern sie randlich verkalkt ist, von taxonomischer Bedeutung, sowie die Ausbildung des Schließmuskelfeldes. Die Anheftungen der Muskelnarben an der Schale sind als Vertiefungen auf der Innenseite der Klappen erkennbar. Abgesehen von kambrischen Ostrakoden, die über eine noch relativ flexible Phosphatschale verfügten, in der sich Muskelnarben nicht dokumentieren, ist phylogenetisch eine Veränderung des Muskelfeldes von vielen kleinen Einzelnarben hin zu wenigen größeren erfolgt, aber dafür effizienteren Muskelbündeln. Weitere taxonomische Anhaltspunkte bietet die Ausbildung der Randkanäle. Auch das Schloß hat große taxonomische Bedeutung. Es soll nicht nur die Klappen bei geöffnetem Gehäuse zusammenhalten, sondern auch Scharnierbewegungen ermöglichen und Verschiebungen in Längsrichtung verhindern. Grundelemente des Schlosses sind Leisten und Furchen sowie Zähne und Zahngruben ( Abb. 4). Die individuelle Ausgestaltung und zunehmende Komplexität sind charakteristische Merkmale einzelner Ostrakodengruppen. Innerhalb der Crustaceen ist die Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale im Gehäuse bestimmter Ostrakoden ein Exklusivmerkmal dieser Gruppe. Die geschlechtsspezifischen Merkmale sind i.d.R. erst bei den adulten, d.h. erwachsenen Formen ausgebildet. Grundsätzlich unterscheidet man Domiciliar- und Velardimorphismus. Beim Domiciliardimorphismus ist das weibliche Domicilium meist hinten als Brutraum aufgebläht. Beim Velardimorphismus bildet das Velum eine Bruttasche bei der weiblichen Form, beim Männchen bleibt es als völlige offene Adventralskulptur bestehen ( Abb. 5 u. 6).
Der Lebensraum der Ostrakoden ist ungemein vielfältig. Die meisten Arten leben im Meer, wo sie von der Tiefsee bis zum Supralitoral vertreten sind. Man findet sie aber auch im Brackwasser, in Spritzwasser-Rockpools und im interstitiellen Küstengrundwasser. Im limnischen Bereich besiedeln sie nicht nur Seen und Flüsse, sondern z.B. auch temporäre Kleingewässer, feuchte Moosrasen und Wasserbehälter von Bromeliaceen. Selbst Binnensalzstellen, Thermalquellen, Salinen etc. stellen noch tolerable Lebensbedingungen dar. Das Litoral, d.h. der Strand- bzw. Uferbereich ist der von Ostrakoden am stärksten besiedelte Lebensraum. Die rezenten Ostrakodenpopulationen sind im Litoral aller Meere ziemlich einförmig. Die größte Mannigfaltigkeit gibt es in tropischen Gewässern. Die Ausbreitung der Litoralformen erfolgt im wesentlichen durch driftende Algen, Zugvögel etc.
Umwelt und Lebensweise beeinflussen stark die Gehäuseform. Für planktonische Taxa geht es um die Verminderung der Absinkgeschwindigkeit durch Verringerung des Schalengewichts bei gleichzeitiger Ansammlung von Wasser, Fett und Öl im Gewebe; die Schwimmfähigkeit wird durch die Ausbildung von Schalenflügeln unterstützt. Gut schwimmendes Benthos verfügt über eine hydrodynamische Gehäuseform, geringe bis fehlende Lobation, einen konvexen Ventralrand, eine schmale Basis und gering verkalkte Schalen. Kriechende Formen haben dagegen schwere, stark skulptierte Gehäuse, einen flachen bis konkaven Ventralrand sowie Trägerskulpturen (Ausleger). Phytalformen zeichnen sich durch glatte, seitlich komprimierte Gehäuse aus. Grundsätzlich beeinflußt das Substrat stark die Faunenzusammensetzung. Reine Sandböden sind ostrakodenarm, reine Schlickböden artenarm, gemischte Substrate sind arten- und individuenreicher. Substrattyp und Größe stehen ebenfalls in enger Beziehung: Weichbodenbewohner sind meist am größten und meisten verbreitet, Sandbewohner am kleinsten. Die Ostrakoden der Tiefsee (ab ca. 500 m) werden als psychrosphärisch bezeichnet, d.h. sie leben bei Temperaturen von ca. 4ºC im lichtlosen Milieu variierender Sauerstoffgehalte und feinkörnigem Sediment. Die Faunen sind langlebig, haben einen konservativen Charakter und damit eine geringe Evolutionsgeschwindigkeit. Sie sind seit Silur bekannt. Durch relative Konkurenzarmut erreichen Ostrakoden in Brackwässern oft eine Massenentfaltung. Im Süßwasserbereich werden alle Lebensräume mit Ausnahme von Fließwasser besiedelt. Die Hauptmasse der rezenten Süßwasserformen gehört den Cyprididae an. Fossil kennt man limnische Ostrakoden seit dem Karbon.
Die rein ökonomische Bedeutung der Ostrakoden ist gering, allerdings sind sie gute Faziesindikatoren (Fazies). Fossile Ostrakoden gehören durch ihre Häufigkeit, z.T. rasche Evolutionsgeschwindigkeit und ökologische Anpassungsfähigkeit neben den Foraminiferen und Conodonten zu den wichtigsten Leitfossilien in der Mikropaläontologie. In manchen Gesteinen sind Ostrakoden so charakteristisch oder so zahlreich, daß sie namengebend für das Gestein waren, z.B. die silurischen Beyrichienkalke (Beyrichien) und Leperditiengesteine (Lepertitien).
Die Klasse Ostracoda gliedert sich in acht Ordnungen: Bradoriida (Kambrium bis Silur), Phosphatocopa (Kambrium), Leperditicopa (Ordovizium bis Devon), Beyrichiocopa (Ordovizium bis Perm), Reticulocopa (seit Ordovizium), Podocopa (seit Ordovizium), Platycopa (seit Ordovizium), Myodocopa (inkl. Cladocopa und Halocypriformes, seit Ordovizium). Die stratigraphische Hauptverbreitung der einzelnen Ordnungen und Untergruppen ist in Abb. 7 dargestellt. Die Bradoriida stellen sehr urtümliche Ostrakoden dar, bei denen die körperliche Längenreduktion erst im Laufe des Kambriums erfolgte. Dementsprechend besaßen die frühesten Vertreter noch primär klaffende Gehäuse. Nach einer gewissen abdominalen Verkürzung konnte der Körper rundum durch das Gehäuse geschützt werden, indem der Hinterleib eingeklappt wurde. Das charakterische Gehäusemerkmal solcher Taxa ist der postplete Umriß, der sog. Rückwärtsschwung. Bei weiterer Reduktion des Abdomens verschwindet der Rückwärtsschwung, und die Gehäuse zeigen einen ampleten bis präpleten Umriß, ähnlich den modernen Ostrakoden. Aus der Gruppe der Bradoriida sind vermutlich die modernen podocopomorphen Ostrakoden hervorgegangen. Auch die im Unterkambrium der chinesischen Chengjiang-Fauna dokumentierte Weichkörpermorphologie entpricht der eines Ostrakoden, wobei die Gliedmaßen noch keine so starke Spezialisierung aufweisen wie bei modernen Ostrakoden. Die ebenfalls kambrischen Phosphatocopa stellen dagegen einen toten Seitenast in der Ostrakodenentwicklung dar. Sie unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Weichkörpermorphologie von den Bradoriida, sondern auch im Gehäuse, das durch ein dorsales Zwischenstück, das Interdorsum, gekennzeichnet ist. Dieses reduziert sich sukzessive vom Unterkambrium zum Oberkambrium und verschwindet im oberen Oberkambrium gänzlich. Neben den Bradoriida und Phosphatocopa entstehen im Unterordovizium die großwüchsigen Leperditicopa (Leperditien i.w.S.). Aus ihrer Entwicklungslinie spalteten sich möglicherweise die Myodocopa ab, zu denen ebenfalls relativ großwüchsige Formen gehören, und die daher über ein Herz verfügen. [IHS]
Literatur: [1] Hinz-Schallreuter, I. & Schallreuter, R. (1999): Ostrakoden. [2] McKenzie, K.G., Angel, M.V., Becker, G., Hinz-Schallreuter, I., Kontrovitz, M., Parker, A.R., Schallreuter, R.E.L. & Swanson, K.M. (1999): Ostracods. In: Savazzi, E. (Eds.): Functional Morphology of the Invertebrate Skeleton. [3] Moore, R.C. (1961): Treatise on Invertebrate Paleontology, Part Q, Arthropoda 3, Crustacea, Ostracoda.
Ostracoda 1: Linke Klappe einer rezenten männlichen Cyprideis mit Weichkörper. A1, A2=Antennen, Co=Kopulationsorgan, Md=Mandibel, Mx=Maxille, P1-P3=Pereiopoden). Ostracoda 1:
Ostracoda 2: eridostraker Ostrakod mit retentiertem Gehäuse. Ostracoda 2:
Ostracoda 3: schematischer Schnitt durch ein Ostrakodengehäuse. Ostracoda 3:
Ostracoda 4: Merkmale einer Ostrakodenklappe von innen gesehen. Ostracoda 4:
Ostracoda 5: Velardimorphismus: a) und b) Weibchen, bei denen das Velum zu zwei verschiedenen Bruttaschentypen umgebildet wurde, c) Männchen. Ostracoda 5:
Ostracoda 6: Geschlechtsdimorphismus bei Distobolbina: Männchen (oben), Weibchen (unten) mit Bruttasche. Ostracoda 6:
Ostracoda 7: stratigraphische Hauptverbreitung der Ostrakodengroßgruppen. Ostracoda 7:
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.