Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: David Kaufmann
Geb. 6.6.1852 in Kojetein (Mähren);
gest. 6.7.1899 in Karlsbad
K. wuchs in der jüdischen Gemeinde des mährischen Dorfes Kojetein auf. Zunächst erhielt er eine religiöse Ausbildung durch den Rabbiner Jakob Brüll. Danach studierte er an der Universität und am privaten Rabbinerseminar, dem Jüdisch-Theologischen Seminar, in Breslau. Er widmete sich der Philosophie, Orientalistik und den Naturwissenschaften. Im Jahre 1877 bestand er das Rabbinerexamen und wurde im selben Jahr durch das Breslauer Rabbinerseminar als junger Professor für jüdische Geschichte, Religionsphilosophie und Homiletik berufen. Gleichzeitig mußte er an dem mit dem Seminar verbundenen jüdischen Gymnasium Unterricht in den Fächern Deutsch und Griechisch erteilen. K. publizierte in seinem kurzen Leben über 20 Bücher und über 500 kleinere Arbeiten auf Deutsch, Ungarisch, Englisch, Französisch und Hebräisch.
Das Breslauer Jüdisch-Theologische Seminar stand für die zwischen der Reform und der modernen Orthodoxie »vermittelnde« religiöse Strömung des konservativen Judentums. K. übernahm das religiöse Profil seiner Ausbildungsstätte, das sich gegen die Assimilation der Juden wandte. In diesem Sinne verfaßte er die Broschüre »Wie heben wir den religiösen Sinn unserer Mädchen und Frauen?« (Trier 1893), wie er auch die Verbesserung der Mädchenbildung forderte. Gleichzeitig befürwortete aber das Rabbinerseminar die wissenschaftlich-textkritische Untersuchung der traditionellen nachbiblischen Literatur, was von der modernen deutsch-jüdischen Orthodoxie entschieden abgelehnt wurde. Auch hierin folgte K. dem Seminar, denn er verstand sich primär als Wissenschaftler. Daneben legte er aber auch großen Wert auf seine homiletische Tätigkeit. Seine Predigten richteten sich u. a. gegen die ungarische Separat-Orthodoxie. Sie sei durch die von ihr gegründete eigene Landesorganisation »zum Spott für die Feinde« der Juden geworden.
In Breslau war K. Schüler von Wilhelm Dilthey und geprägt von dessen Konzept der Entwicklung des menschlichen Geistes und des »Verstehens« geschichtlicher Entwicklungen. Ein erstes Produkt dieser Herangehensweise war K.s Abhandlung Geschichte der Attributenlehre in der jüdischen Religionsphilosophie des Mittelalters von Saadja bis Maimûni (1877). Er wollte darstellen, wie sich gerade die jüdische Religionsphilosophie mit dem »unerforschlichen Geheimnis: Gott« beschäftigt und zu einem Höhepunkt der »Lauterkeit des Gottesbegriffes« gefunden hat. Sie war zwar seinem Verständnis nach von ähnlichen Strömungen der zeitgenössischen muslimischen Religionsphilosophie beeinflußt, doch wandte sich K. gegen den »Druck der Vorurteile«, mit dem christliche Gelehrte der Erforschung der jüdischen Religionsphilosophie gegenüberstanden. Diese habe durchaus Eigenständigkeit besessen und sei nicht nur »eine knechtische Nachahmerin« gewesen. Damit setzte K. das Werk des Begründers der Wissenschaft des Judentums, Leopold Zunz, fort und wollte die jüdische mittelalterliche Geistesgeschichte als ebenbürtig in den Kanon der europäischen Wissenschaften aufgenommen wissen.
Nach Dilthey geschah Rekonstruktion der Geschichte aus »Stücken« des »Erlebens«. Methodisch gehörte hierzu für K. zunächst, daß diese »Stücke« oder Quellen in einer kritischen Textanalyse aus den verschiedenen Handschriften wissenschaftlich rekonstruiert werden mußten. Jedoch war die Editionsarbeit bei den jüdischen Philosophen bei weitem nicht so vorangeschritten wie bei den christlichen. Erst im Anschluß daran konnten aber die jeweiligen Autoren, worauf K. besonderen Wert legte, auf dem jeweiligen zeitgeschichtlichen Hintergrund betrachtet und aus ihrem Kontext heraus »verstanden« werden. Hierbei war ihm sein arabistischer Hintergrund sehr hilfreich. Auch K. sah in dem weitgespannten kulturellen Horizont der mittelalterlichen Philosophie der spanisch-orientalischen Juden ein Vorbild für seine neuzeitlichen mitteleuropäischen Glaubensbrüder.
Typisch für das konservative Judentum, besaß auch K. ein besonderes ethisches Interesse. Dieses zeigte sich in den vielen Prophetenzitaten seiner Predigten. Er verfolgte dieses aber auch in seinem wissenschaftlichen Werk, etwa über Bachja ibn Paqudah (Die Theologie des Bachia Ibn Pakuda, 1874). Paqudah hatte mit seinen Chovot ha-Levavot (»Herzenspflichten«) eine sehr einflußreiche und populäre ethische Schrift verfaßt. K. wollte dem christlichen und jüdischen Publikum zeigen, auf welch hohem ethischen Niveau sich die jüdischen religiösen Schriften des 11. Jahrhunderts befanden. Paqudah verarbeitete aristotelische und neuplatonische Einflüsse, machte aber auch Gebrauch von der muslimischen Philosophie und der Sufimystik. Als zentral für dieses Werk thematisierte K. die Frage nach der richtigen Lebensführung und der ethischen Begründung der jüdischen Gebote (miẓwot).
Ein weiterer Wirkungsbereich von K. waren seine, von zahlreichen Quellen Gebrauch machenden, biographischen Publikationen, etwa R. Jair Chajim Bacharach (1638–1702) und seine Ahnen (1894) oder Samson Wertheimer, der Oberhoffaktor und Landesrabbiner 1658–1724 und seine Kinder (1888), beides Rabbiner aus Worms und zentrale Persönlichkeiten des 17. Jahrhunderts. Durch seine biographische Arbeit entdeckte K. Zusammenhänge seiner eigenen Familie mit den Vorfahren von Heinrich Heine. – Es war auch K.s Verdienst, erstmals die auf Westjiddisch geschriebenen Erinnerungen der jüdischen Geschäftsfrau Glückel von Hameln (1640–1720) publiziert zu haben. Sie sind bis heute eine der wichtigsten zeitgeschichtlichen Quellen für diese Epoche. Für die Erforschung der jüdisch-byzantinischen Geschichte in Süditalien ist die von K. herausgegebene Achimaaz-Rolle von großer Bedeutung, weil sie in Form einer Familiengeschichte wertvolle Informationen über die Beziehungen der Juden zum Kaiser und über politische Interventionen gegen judenfeindliche Dekrete in den byzantinischen Besitzungen in Süditalien in der Epoche vom 9. bis zum 11. Jahrhundert enthält (Die Chronik des Achimaaz aus Oria, 1896). K. förderte die Entwicklung der jüdischen wissenschaftlichen Editionsarbeit durch die Wiederbelebung der Gesellschaft Meʽkize Nirdamim (»Beender der Schlummernden«), die sich ausschließlich der Edition wissenschaftlicher Texte verschrieben hatte. Als Mitherausgeber der neuen Serie der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums (1892–99) hatte K. eine der wichtigsten Herausgeberpositionen der Wissenschaft des Judentums inne.
K. engagierte sich auch öffentlich zur Verteidigung der jüdischen Gemeinschaft und Wissenschaft. Im Jahre 1879 war der Berliner Antisemitismusstreit ausgebrochen. Heinrich von Treitschke griff K.s Lehrer, Heinrich Graetz, scharf an, und der Göttinger Professor Paul de Lagarde ging 1884 gegen Leopold Zunz vor. Treitschke verlangte eine konsequente Anpassung der deutschen Juden an sein Ideal einer national-konservativen deutschen Identität und spielte mit verdeckt rassistischen Vorwürfen (Graetz sei »undeutsch«, ein Orientale, ein geistiger »Semit«), während Lagarde Zunz Unwissenschaftlichkeit vorwarf. Hiergegen trat K. mit einer scharfen Replik an die Öffentlichkeit (1887) und wies Lagarde zahlreiche Fehler in seiner Darstellung und Interpretation jüdischer Quellen nach. Dem antisemitischen Berliner Hofprediger Adolf Stöcker hatte K. 1880 vorgeworfen, das Amt des Priesters »in eigener Person zu verhöhnen«. Gleichzeitig konnte er durchaus auch Verdienste nichtjüdischer Professoren würdigen, selbst wenn ihr Werk, wie etwa das von Franz Delitzsch, von einem theologischen Antijudaismus geprägt war.
Ein weiteres Forschungsgebiet von K. war die jüdische Kunst, vor allem die Illustrationen hebräischer Handschriften. Er war eine treibende Kraft bei der Gründung der Wiener Gesellschaft zur Sammlung jüdischer Kunstgegenstände und historischer Denkmäler (1896). Die jüdische Kunst hatte vor K. kaum wissenschaftliche Beachtung gefunden. Es ging ihm um eine selbstbewußte Darstellung der jüdisch-europäischen Tradition, was zur Gründung einiger jüdischer Museen führte (bis 1933; in Wien, Budapest, Frankfurt etc.). K. besaß eine umfangreiche Sammlung alter jüdischer Manuskripte, Inkunabeln und seltener hebräischer Bücher, die sich heute im Besitz der ungarischen Akademie der Wissenschaften befindet.
K. kam nicht mehr zur Abfassung einer Gesamtdarstellung der jüdischen Geschichte. Mit nur 47 Jahren starb er in Karlsbad an den Folgen eines Unfalls. Daß viele seiner Arbeiten nach 1945 wieder aufgelegt wurden, unterstreicht ihren wissenschaftlichen Wert.
Werke:
- Gesammelte Schriften, hg. M. Brann, 3 Bde., Frankfurt/M. 1908–1915 (Nd. New York 1980).
- Die Theologie des Bachja Ibn Pakuda, Wien 1874.
- Die Spuren al-Batlajusis in der jüdischen Religionsphilosophie, Budapest 1880 (Nd. Farnborough 1972).
- Paul de Lagardes jüdische Gelehrsamkeit: Eine Erwiderung, Leipzig 1887.
- Studien über Salomon Ibn Gabirol, Budapest 1899 (Nd. New York 1980).
- Microcard Catalogue of the rare Hebrew Codices, Manuscripts, and Ancient Prints in the Kaufmann Collection, Budapest 1959.
- Geschichte der Attributenlehre in der jüdischen Religionsphilosophie des Mittelalters, Gotha 1877 (Nd. Hildesheim 1982). –
Literatur:
- Gedenkbuch zur Erinnerung an D. K., Breslau 1900 (mit Bibliogr., zusammengest. M. B., 56–87.
- Nd. New York 1980).
- S. Krauss, D.K., eine Biographie, Berlin 1901.
- H. Schmelzer, D.K. (1852–1899): Denker, Gelehrter, Visionär, in: Judaica 55,4 (1999), 212–219.
Uri Kaufmann
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.