Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Isaak ben Salomon Israeli
Geb. 850 in Ägypten;
gest. zwischen 932 und 955 in Tunesien
I. gehörte zu der ersten Generation jüdischer Philosophen im Einflußbereich des Ostens. Über sein Leben ist relativ wenig bekannt. Aus I.s Werk erfahren wir, daß er im Jahre 905 noch in al-Fusṭāṭ (Kairo) war, denn er beschreibt die Eroberung des Staates durch Ibn al-Khalij aus eigenem Erleben (Liber Def. §31). Später, als über Fünfzigjähriger, emigrierte er nach Tunesien, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Bei den arabischen bzw. jüdischen Historiographen findet I. als berühmter Arzt Erwähnung, der, selber kinderlos, über hundert Jahre alt geworden sein soll. Nach der Beschreibung der arabischen Historiker war I. der Arzt des ersten ismaelitischen Imams und fatimidischen Herrschers ‘Ubajd Allāh al-Mahdī in Kairouan, Tunesien. Seine Stellung als Arzt der Kalifen ermöglichte I. das Gespräch mit den Philosophen und Wissenschaftlern seiner Zeit, nicht nur innerhalb jüdischer Kreise (Sa’adja Gaon stand mit ihm im Briefwechsel), sondern auch mit den muslimischen Gelehrten.
Als Arzt schrieb I. einige medizinische Werke, durch die er im Laufe des Mittelalters in arabischen, hebräischen wie auch lateinischen Kreisen große Autorität gewann. Daneben aber verfaßte er einige philosophische Abhandlungen. I. hat alle seine Werke auf Arabisch geschrieben. Während jedoch die arabischen Originale nur fragmentarisch überliefert sind, haben sich I.s Schriften in ihren lateinischen bzw. hebräischen Übersetzungen erhalten. Die mittelalterliche Rezeptionsgeschichte seiner Werke ist also die eigentliche Quelle unserer Kenntnis von diesem Autor.
Eines der wichtigsten Werke I.s ist das »Buch der Definitionen«, Liber Definitionum (arab.: Kitāb al-Hudūd, hebr.: Sefer ha-Gevulim), das uns in zwei lateinischen und einer hebräischen Übersetzung vollständig vorliegt. (Von einer zweiten hebräischen Übersetzung sind nur Fragmente überliefert und ein weiteres Fragment aus dem Arabischen wurde von H. Hirschfeld veröffentlicht.) Von seiner kurzen Abhandlung »Die Schrift über die Substanzen« (Kitāb al-Ğawāhir) existieren heute nur noch Fragmente des arabischen Originals, jedoch zwei hebräische Übersetzungen. Diese Abhandlung ist als literarischer Dialog verfaßt, wie es bei den arabischen Theologen und Philosophen seiner Zeit üblich war. I.s »Buch vom Geist und von der Seele« (Sefer ha-Ruach ve-ha-Nefesh) ist nur fragmentarisch auf Hebräisch überliefert. Selbst der Titel wird in der mittelalterlichen Literatur nie erwähnt. Dieses Fragment ist wahrscheinlich Teil eines größeren exegetischen Werkes zu Gen. 1,20 gewesen. I.s »Buch über die Elemente« (Sefer ha-Jesodot; Liber Elementorum) ist in der lateinischen Übersetzung des Gerard von Cremona sowie in zwei hebräischen Übersetzungen überliefert.
Die zwei wichtigsten Quellen I.s waren al-Kindī (vor allem mit seinen Werken zur Metaphysik, Seelen- und Intellektlehre) und der von Alexander Altmann und Menachem Stern rekonstruierte Text, der in der modernen Forschung unter dem Namen »Die Neuplatoniker des Ibn Chasdaj« bekannt ist. Dieser Text ist eine frühe neuplatonische Quelle, die schon bald in Vergessenheit geraten war, die aber einige mittelalterliche Autoren stark beeinflußt hat, vor allem I. und Abraham ibn Chasdaj in seinem »Der Königssohn und der Asket« (Ben ha-Melekh ve-ha-Nazir). I. selbst entwickelt in seinen philosophischen Werken ein für die frühe arabische Philosophie typisches synkretistisches System, das neuplatonische, aristotelische und biblische Elemente in Einklang zu bringen versucht. Der einzige Name eines Philosophen, der von I. selbst gelegentlich erwähnt wird, ist der des Aristoteles. In der damaligen arabischen Philosophie war es jedoch üblich, unter dessen Namen auch verschiedene neuplatonische Quellen zu überliefern. Im Gegensatz zu den späteren jüdischen Philosophen des Mittelalters zitiert I. keine biblischen oder anderen traditionellen jüdischen Quellen mit Ausnahme in der »Schrift über die Substanzen«, in der er einige biblische Verse erwähnt.
Es finden sich in I.s Schriften philosophische und hermeneutische Ansätze, die erst später zu ihrer vollen Entfaltung kamen, und zwar bei Autoren, denen daran gelegen war, ihr wissenschaftliches Weltbild mit den Quellen der jüdischen Tradition auf unmittelbare Weise zu verbinden. So finden sich bei I. Ansätze von Antworten auf die Probleme der rationalen Schriftauslegung und der Prophetie, die später von Maimonides in reifer Form ausgearbeitet werden sollten. In seinem »Buch über die Elemente« etwa reflektiert I. über das Verhältnis des Propheten zur Schrift, wobei er das Problem der prophetischen Auslegung des Wortes Gottes und das damit verbundene hermeneutische Problem des Verhältnisses der Heiligen Schrift zu den verschiedenen Formen ihrer Auslegung philosophisch zu lösen sucht. In I.s Gedanken finden sich Ansätze zu einer hermeneutischen Theorie der Subjektivität, nach der verschiedene Menschen, je nach sozialer Herkunft und individueller Fähigkeit, die Schrift auf ihre Weise unterschiedlich begreifen. Da I. jedoch selbst keinen eigenen Kommentar zur Schrift verfaßt hat und auch keine biblischen oder rabbinischen Texte innerhalb seiner philosophischen Diskussionen zitiert, fehlt seinen hermeneutischen Behauptungen die Kraft der exegetischen Durchführung.
Im seinem »Buch der Definitionen« definiert I. die Philosophie etymologisch als »Liebe zur Weisheit«. Diese versteht er im Sinne eines menschlichen Versuchs einer Imitatio Dei: Die Liebe zur Weisheit ist das Wissen um die ersten, beständigen und ewigen Dinge. Vorausgesetzt wird dabei, daß die Erkenntnis der Wahrheit nur mittels der Erkenntnis ihrer Ursache möglich ist und daß die menschliche Vollkommenheit eine Angelegenheit der Erkenntnis der Wahrheit ist. Die Bedeutung menschlicher Erkenntnis tritt so in das Bewußstein der jüdischen Philosophie.
I.s wissenschaftliches Weltbild erklärt die gesamte Natur als ein System von Emanationen. »Erste Materie« und »erste Form« sind nach I. die zwei »zuerst erschaffenen Wesen«, die zusammen den Intellekt als erste Emanationsstufe schufen. Die Emanationsordnung der verschiedenen Stufen der Realität ist wie folgt: Intellekt, rationale Seele, animalische Seele, vegetative Seele, Natur, Elemente, kontingente Kreaturen. In seiner »Schrift über die Substanzen« erklärt I., daß die Natur die niedrigste Stufe dieser Hierarchie sei. Einer plotinischen Tradition zufolge identifiziert I. die Natur jedoch mit der aristotelischen himmlischen Sphäre. I. unterscheidet demzufolge zwischen zwei Arten von Materie: dem irdischen Körper (arab. ǧism; hebr. geshem) und dem himmlischen Körper (arab. ǧirm; hebr. gerem). Ihr Licht bezieht die irdische Sphäre aus dem Schatten der vegetativen Seele. Die vegetative Seele erhält ihr Licht aus dem Schatten der animalischen Seele, diese nimmt ihr Licht aus dem Schatten der rationalen Seele, diese gewinnt ihr Licht direkt vom Intellekt. Jede höhere Stufe der Hierarchie gibt der niedrigeren ihre spezifische Form, wobei der Intellekt als letzte und höchste Form aller niedrigeren Stufen gilt, nämlich als »Form der Formen«.
In diesem Zusammenhang wirft I. die Frage auf, wie man die Beziehung des Intellekts zu den zwei Aspekten Gottes, nämlich zum göttlichen Willen und zur göttlichen Macht, definieren soll. Wäre das Verhältnis des Intellekts zum göttlichen Willen und zur göttlichen Macht das einer Emanation, wie sie in der unteren Hierarchie besteht, so wäre Gott selbst die letzte Form der Welt. Eine derartige radikal-pantheistische Auffassung im plotinischen Sinne lehnt I. jedoch ab. Um zwischen der Beziehung Gottes zum Intellekt einerseits und der Beziehungen des Intellekts zur irdischen Natur andererseits zu unterscheiden, verweist I. auf zwei Arten von schöpferischer Tat. Die erste Art der schöpferischen Handlung, welche die Emanationsstufen vom Intellekt bis herab zur untersten Stufe der Natur charakteristiert, ist substantiell und immanent. Die zweite Art der schöpferischen Handlung, die das Verhältnis zwischen Gott und Welt betrifft, ist transzendent und besteht aus einem Willensakt. Der Intellekt wird als Setzung durch den göttlichen Willen und die Macht Gottes vorgestellt. Zwischen die göttlichen Kräfte und den Intellekt stellt I. zwei auf verschiedene Weise vermittelnde Substanzen, nämlich die erste Form, die auch »Weisheit« genannt wird, und die erste Materie.
Im Bereich der Natur gibt es nach I. eine Hierarchie der Emanationen, die gleichzeitig eine epistemologische Ordnung darstellt: Der Erkenntnisprozeß gilt als Gradmesser der Dynamik der Seele und ihres inneren Wissens. Für den Erkenntnisprozeß macht I. von der klassischen platonischen Lehre Gebrauch, wonach dieser als Wiedererinnerung des ursprünglich Gelernten und als Vergegenwärtigung eines vergessenen Wissens verstanden wird. Den Intellekt bezeichnet I. daher als eine Kraft intuitiver Anschauung und als ein Instrument unmittelbarer Erinnerung und Verinnerlichung. Eine Stufe tiefer als der Intellekt steht die rationale Seele, die kein intuitives Wissen der Wahrheit mehr besitzt. Die rationale Seele denkt diskursiv und gewinnt ihr Urteilsvermögen auf dem Boden der Erfahrung; daher ist ihr Erinnerungsvermögen auch nicht das eines unmittelbaren Abrufens von Wahrheiten. Die vegetative Seele zeichnet sich durch sinnliche Sensibilität und Kraft der Phantasie aus. Sie ist u.a. für die Aktivitäten der Nahrungsaufnahme und Verdauung sowie Wachstum, Sexualität und Zeugung verantwortlich. Diese hierarchische Ordnung des Seins reflektiert eine Synthese zwischen plotinischen und aristotelischen Elementen, in der die plotinische Idee einer – in einen geistigen und einen materiellen Bereich – zweigeteilten Seele in die Begrifflichkeit der aristotelischen Psychologie und Anthropolgie (De anima) übertragen wurde. Aristoteles’ anthropologische Psychologie lieferte dabei die Struktur der nicht-materiellen (über-natürlichen) seelischen Welt.
Die kosmologische Betrachtung der Anthropologie ist hingegen ein eindeutiges Merkmal der platonischen Tradition, die den Menschen nicht nur als biologisches Einzelwesen definiert, sondern vom Makrokosmos aus als dessen Spiegelbild (oder Mikrokosmos), so daß an ihm auch überweltliche, ewige Substanzen ihren Anteil haben. So erklärt I. den biblischen Begriff der »Seele« (nefesh) im Hinblick auf die zentrale Bedeutung der intellektuellen Seele des Menschen als himmlische Substanz. Aus diesem Grund unterscheidet I. zwischen dem Geist als innerem Bewegungsprinzip des Körpers und der Seele als äußerem, himmlischem Prinzip. Bei den einzelnen Menschen unterscheidet I. zwischen dem ewigen Intellekt, der im aristotelischen Sinne immer tätig ist, und dem »zweiten individuellen Intellekt«, der als potentielle Kraft des Individuums innerhalb einer konkreten Seele wirkt und die Welt mittels der Sinne erforscht.
Gegen Ende des 12. Jahrhunderts wurde insbesondere durch Moses Maimonides die philosophische Bedeutung I.s heruntergespielt. Maimonides belächelte das »Buch der Definitionen« und das »Buch der Elemente« als »Phantastereien, Luftgespinste und Nichtigkeiten« und ließ I.s Wissen nur im medizinischen Bereich gelten. Heute finden wir allerdings genügend Zeugnisse dafür, daß I. auch damals schon einen bedeutenden Ruf als Philosoph genoß. I.s Schriften übten eine große Wirkung auf den späteren jüdischen und christlichen mittelalterlichen Neuplatonismus aus. Der Einfluß I.s auf das arabische, jüdische und christliche Denken ist vielschichtig und komplex und eine lineare Wirkungsgeschichte läßt sich daher nicht nachzeichnen. So wurde die lateinische Übersetzung etwa direkt aus dem Arabischen erstellt, die hebräische Übersetzung hingegen, obwohl auch sie direkt an der arabischen Quelle erwächst, reflektiert ihrerseits schon den Einfluß der lateinischen Übersetzung.
Zusammen mit Pseudo-Empedokles gilt I. als die wichtigste philosophische Quelle Ibn Gabirols. Ein anderer bekannter Anhänger I.s war Dunash ibn Tamim. Höchst interessant ist I.s Einfluß auf die frühe jüdische Mystik in Gerona, die I. als Quelle neuplatonischer Ideen innerhalb der jüdischen Mystik ausweist. Bei den Scholastikern wird I. sehr häufig erwähnt. Eines der berühmtesten Zitate I.s in der scholastischen Literatur bleibt allerdings unbelegbar. In der Summa der Theologie wird I. von Thomas von Aquin erwähnt, der »in seinem Buch über die Definitionen sagt, daß die Wahrheit die Übereinstimmung der Dinge mit dem Intellekt sei (quod veritas est adaequatio rei et intellectus)«. Das richtige Zitat aus dem »Buch der Definitionen« wird jedoch bei Albertus Magnus erwähnt (Summa I. 6. 25): »Nach Isaak [Israeli] und nach Augustinus ist die Wahrheit das, was ist«.
Werke:
- Omnia Opera Ysaac, Lyon 1515.
- Das Buch über die Elemente von I. I., hg. S. Fried, Drohobycz/Frankfurt a.M. 1900.
- A. Altmann und S. Stern, I.I.: A Neoplatonic Philosopher of the Early Tenth Century, his works translated with comments and an outline of his philosophy, London 1958. –
Literatur:
- Jac. Guttmann, Die Scholastik des 13. Jahrhunderts in ihren Beziehungen zum Judenthum und zur jüdischen Literatur, Breslau 1902 (Nd. Hildesheim 1970).
- ders., Die philosophischen Lehren des I.I., Münster 1911.
- A. Altmann, The Philosophy of I.I., in: Altmann und Stern (ebd.), 149–217.
- H. A. Wolfson, The Meaning of ex nihilo in I. I., in: JOR 50 (1959/60), 1–12.
Yossef Schwartz
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