Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Sarah Kofman
Geb. 14.9.1934 in Paris;
gest. 15.10.1994 ebenda
K. entstammt als eines von sechs Kindern einer traditionell geprägten jüdischen Familie aus Paris. Ihr Vater, der Rabbiner Berek K., wurde 1942 deportiert und in Auschwitz ermordet. Die Verfolgung durch die Nationalsozialisten überlebte K. durch die Hilfe einer Katholikin in Paris, die Mutter und Tochter Unterschlupf gewährte. K. absolvierte ihre Ausbildungszeit unter großen ökonomischen und krankheitsbedingten Schwierigkeiten; schon in der Schulzeit entwickelte die sehr gute Schülerin philosophische Interessen. Seit 1970 lehrte sie Philosophie an der Sorbonne. Während ihrer philosophischen Lehrtätigkeit kam es auch zur Zusammenarbeit mit Jacques Derrida und zur Auseinandersetzung mit seiner Philosophie, zu deren Verbreitung in Frankreich und Deutschland sie durch ihr Buch Lectures de Derrida (1984, dt. »Derrida lesen«, 1987) wesentlich beigetragen hat. Die Interessen der auch als Feministin bekannt gewordenen K. erstrecken sich über ›klassische‹ philosophische Themen, Psychoanalyse, Kunst- und Literaturbetrachtung, und schlagen sich in 24 biographischen wie philosophischen Arbeiten nieder, von denen bislang nur wenige ins Deutsche übersetzt wurden. Am 15. Oktober 1994 nahm sich K. in Paris das Leben. Die extremen Erfahrungen ihrer Kindheit, die sie teilweise in ihren autobiographischen Texten Rue Ordener, Rue Labat (1994), Cauchemar (in: Comment s’en sortir?, 1983) und Sacrée nourriture (in: Manger, 1980) niedergelegt hat, sowie die große Spannung zwischen ihrer orthodoxen jüdischen Erziehung bis zum sechsten Lebensjahr und der sich anschließenden katholischen Prägung während der Zeit der Verfolgung, erweisen sich als folgenschwer für ihr Leben.
Genauso wirkungsmächtig zeigen sie sich auch für ihren philosophischen Ansatz, der das Biographische zum Theorem erhebt und zugleich eine Methode von Abstraktion und Anonymität entwickelt, die dasselbe immerzu unterlaufen. Das Zerrissensein zwischen leiblicher und Pflegemutter initiiert ein existentielles ständiges Hin- und Hergerissensein zwischen Jüdin-Sein-Müssen und Nicht-Jüdin-Sein-Dürfen. Dieser Gespaltenheit entspringt ein antinomisches Denken, das in einem spezifischen – so biographischen wie abstrakten – Reflektieren produktiv wird. Es durchzieht ihr gesamtes philosophisches Schaffen, das der Postmoderne und Dekonstruktion zuzurechnen ist. Die eigene Grundkonstellation existentieller Fragilität und Gebrochenheit führt K. aber zugleich zu einer eigenen und denkwürdigen Konzeption von Philosophie, die wissentlich zwischen größtmöglicher Abstraktion und Konkretion changiert und dabei auch Auswirkungen auf ihr Verständnis des Judentums zeitigt. Einerseits sieht K. menschliche Kontingenz als unabdingbar für alles und damit auch das philosophische Tätigsein an, denn ihr zufolge ist es gleich, »ob man der Autor eines ›Erziehungsromans‹, eines philosophischen Systems oder eines psychoanalytischen Werks mit wissenschaftlicher Prätention ist«, denn man ist »niemals ein transzendentales und objektives, sexuell neutrales Subjekt« (Rousseau und die Frauen, dt. 1986). Andererseits beschreibt sie die Philosophie deshalb als abstrakteste aller Geisteswissenschaften, weil man das, worüber nachgedacht und gesprochen wird, nicht sehen muß. Aus diesem Grund überhaupt habe sie die Philosophie erwählt. Die Bindung an die biographische Konkretion bei gleichzeitiger Negierung des Biographischen wird zum Kennzeichen ihrer philosophischen Auffassung von der Schrift. Auf die Unmöglichkeit allen Sprechens und Schreibens reflektierend wird das Bio-graphische selbst zum philosophischen Theorem. Das in allem Denken und Tun sich abzeichnende Biographische holt die eigene Existenz und Geschehenes jedoch nie ein, sondern bleibt ein bloßes Verwiesensein auf das Biographische. Adäquat kann es nicht anders als durch den bloßen, je eigenen Lebensvollzug eingelöst werden. Diese Spannung kulminiert im Phänomen Auschwitz, wie K. zum Tod ihres Vaters schreibt: »Weil er Jude war, starb mein Vater in Auschwitz. Wie könnte ich nicht darüber sprechen? Und wie kann ich darüber sprechen angesichts dessen jede Möglichkeit zu sprechen vergeht?« Dem letztlich doch von Adorno erwogenen Ende traditionellen Zeugnisgebens über Auschwitz setzt K. die Vorstellung eines anderen Schreibens entgegen. Das Schreiben über das Unvorstellbare darf vor allem kein herrschaftliches sein: »Man muß versuchen, beim Schreiben Raum für das Schweigen derer zu lassen, die nicht sprechen konnten: Das ist ein Schreiben ›ohne Macht‹.« Zugleich kann das Verstehen eines historischen Faktums für sie nur unter distanzierendem Ausschluß der Biographie versucht werden, und sie schreibt, nochmals mit Bezug auf ihren Vater: »Ich wollte ihn auch nicht aus der Anonymität herauslösen, er ist nicht als mein Vater gestorben, sondern als Jude.« So ist ihr Denken durch eine Reihe von wiederkehrenden Gedankenbildern und Motiven bestimmt, die zugleich zum Signum ihrer Erfahrung und Einstellung zum Judentum und zum Faschismus werden. Das Thema des Essens gewinnt in diesem Rahmen signifikante Bedeutung, doch auch das Bild der geschlossenen Kammer, des Zimmers oder der »camera obscura«, des Dunklen und des Rätsels, sowie das psychoanalytisch aufgeladene Theorem der Mutter, das vor allem zur Analyse der Stellung von Philosophen zu Frauen genutzt wird.
Die Metapher der »camera obscura« erreicht in ihrer Theorie, die deren optische Verkehrung zur Analyse von Ideologien nutzt, einen grundsätzlichen, erkenntniskritischen Status. Es gibt kein Auge ohne »point de vue« (Standpunkt), und damit keines, das passiv sein könnte. So ist auch die Wissenschaft »une activité artistique«, die ignoriert, daß sie es ist. Aus der Schlußfolgerung: »Wenn alles dunkel ist, ist nichts dunkel « (»Si tout est obscur, rien ne l’est«), ergibt sich für K. die notwendige Aufgabe der differenzierenden Methode und Praxis der Dekonstruktion, mit der sie sich in eine von ihr selbst aufgezeigte Nähe zu Nietzsche und Derrida begibt. In dem – ihrer Auffassung nach – als Antisemiten mißgedeuteten Nietzsche sieht K. einen Gewährsmann für ihre antinomische Konstruktion des zerrissenen Jüdisch-Seins.
Im Denken des Jüdisch-Seins verschärft sich das aporetische Denken K.s und findet darin seinen Ausdruck. So ist das Jüdisch-Sein in ihrer Betonung der Kontingenz nicht mehr ablösbar vom Holocaust, der damit zugleich auch kein bloß historisches Ereignis bezeichnet. Der Faschismus bringt für K. die Deutlichkeit – noch ganz im Sinne der existenzialistischen Tradition eines Jean-Paul Sartre (Réflexions sur la Question Juive, 1946) –, daß das Jüdisch-Sein ohnehin nicht positiv angenommen werden kann, weil dies hieße, die von den Nationalsozialisten propagierte Unterscheidung der Menschen in Juden und Nicht-Juden zu vollziehen. K. erweitert an diesem Punkt den Rahmen der Diskussion um das Jüdische in Richtung auf eine anthropologische Perspektive; die jüdische Bedingtheit geht letztlich in der menschlichen auf und stellt diese zugleich auf den Prüfstand. In diesem Punkt berühren sich die Positionen von Derrida und der eigenständigen Derrida-Exegetin K. Sie unterscheiden sich hingegen in der existentiell größeren Radikalität, mit der K. dieses Thema behandelt. Als wichtigste Schrift ist in diesem Zusammenhang ihr Text Paroles suffoquées (1987) anzuführen, der teils eine Auseinandersetzung mit zwei Texten von Maurice Blanchot und Robert Antelme, teils aber auch ein biographisches Dokument und eine philosophische Reflexion zum Thema des Holocaust darstellt. K., die ähnlich wie Derrida eine philosophische Konzeption der Schrift in dekonstruktivistischer Perspektive entwirft, liefert hier eine Kritik des literarischen Erzählens, das immer nur Idylle produzieren könne und insofern alles Geschehene verfehle. Die Schrift selbst unterlaufe hingegen jede Identität, wie K. exemplarisch in ihrem Text Autobiogriffures zu E.T.A. Hoffmanns Kater Murr ausweist. So bleibt jeder in unaufhebbarer Distanz zu sich selbst. Angesichts der Greueltaten des Zweiten Weltkriegs kann in K.s Konzeption im literarischen Erzählen nichts mehr adäquat aufgehoben werden. Dieser Ansatz ist auch als Dekonstruktion des Shoah-Modells und damit als Absage an die Möglichkeit eines kollektiven Erinnerns gedeutet worden. Die Möglichkeit des Bezeugens, Verstehens, Vergleichens, das in den traditionellen Klageliedern gleichsam eine Ordnung des Erinnerns festlegt, ist nicht mehr gegeben. Statt dessen können nurmehr in der Unruhe eines fragmentarisierten Schreibens Geschehnisse lebendig bleiben. Dies ist ein Moment in der Philosophie K.s, das unausgewiesen den Topos des »ewigen Juden« in eine prinzipiell notwendige Unruhe des Denkens überschreibt. In der Humanismuskritik, die sich in der Analyse des Erzählens von Ereignissen in den Konzentrationslagern vollzieht, zeigt sich K. letztlich dem aufklärerischen Gedanken verpflichtet. Selbst die Ereignisse im KZ, so zeigt sie, erweisen sich auf erschreckende Weise als von Menschen getan und erlitten. Gerade aus dieser Erkenntnis, daß es der Mensch immer mit dem Menschen zu tun hat, entwickelt K. einen Anspruch auf Verantwortlichkeit und Humanität. Gemäß dem so ambivalent verstandenen Humanismusbegriff vermag noch der Holocaust zu zeigen, was dem Menschen innerhalb der Grenzen dieser Humanität, nie aber über sie hinaus, möglich ist.
K.s Schaffen, das sich u.a. in der Reflexion auf Denker jüdischer Herkunft wie Freud und Derrida entwickelt hat, rückt einzelne Philosopheme in den Blick, deren prinzipiellen Charakter K. methodisch fruchtbar werden läßt. Das vorgefundene Denkmuster wird jedoch auch wieder zur Reflexion des jeweiligen Philosophen zurückgelenkt, wie z.B. im Falle Rousseaus die Betrachtungen zur »Mutter Natur«. In diesem Vorgehen K.s verbinden sich abstrakte philosophische Fragen, z.B. zur Geschlechterthematik, mit konkreten Fragen nach der Person des jeweiligen Philosophen. K.s Gedanken zur Geschlechterdifferenz drehen sich vielfach um den Begriff des »Respekts«, den sie vielmehr zur Dekuvrierung einer geschlechtsinternen Problematik des Männlichen beleuchtet als zur Fixierung einer bestimmten Geschlechterkonstellation. Ihr Denken wird im Laufe der Zeit durch feministische Fragestellungen ergänzt, die sich auch in praktischen Tätigkeiten ausdrücken. So gehörte sie seit 1990 dem wissenschaftlichen Beirat der in Tübingen ansässigen Zeitschrift Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie an. In einem dort veröffentlichten Interview nimmt sie auch zum Verhältnis der Frauen- zur Judenfrage Stellung. Vor dem Hintergrund der NS-Verbrechen stelle diese Verknüpfung einen zu kurz geschlossenen Zusammenhang dar, im allgemeinen religiösen Kontext jedoch könne er noch sinnvoll bedacht werden. K. versucht, die Abwehrreaktionen auf Juden und Frauen einerseits in eine Angst vor einem religiös fundierten Auserwähltsein und andererseits in die psychologisch begründete Angst vor der Kastration zu unterteilen. Letztlich gesteht sie jedoch zu, daß es »sich in beiden Fällen um eine Aufhebung von ›Auserwähltheit‹ handelt, die man für sich (in Anspruch) nimmt, und für den Juden und die Frau bleibt nur die einfache Kastration.« Ihre Äußerungen zum Thema Frau-Sein und Jüdisch-Sein deuten auf eine auch von jüdischer Warte bislang nicht gefüllte Lücke, auf eine fehlende Auseinandersetzung mit diesem Thema, deren Bearbeitung sich nicht nur aus jüdisch-religiöser Perspektive als erschwerte herausstellt, sondern auch aus K.s antinomischer Konzeption des Jüdisch-Seins nicht zufriedenstellend reflektiert werden kann und darf. Die Unverfügbarkeit des Biographischen wird so zum Schutzraum des jeweils Reflektierten innerhalb eines unruhigen, nicht endenkönnenden, nicht endenwollenden und -dürfenden dekonstruierenden Denkens, wie das von K.
Werke:
- Camera obscura. De l’idéologie, Paris 1973.
- Paroles suffoquées, Paris 1987.
- Rue Ordener, Rue Labat, Paris 1994.
- Die Verachtung der Juden. Nietzsche, die Juden, der Antisemitismus, übers. v. B. Nessler, Berlin 2002 –
Literatur:
- B.R. Erdle, Bezeugen, verstehen, vergleichen: Spuren der Tradition der Erinnerung in S.K.s »Paroles suffoquées«, in: Die Philosophin 12 (1995), 38–52.
- A. Deubner-Mankovsky, In unendlicher Distanz zu sich selbst. S.K.s Denken der radikalen Alterität, in: Die Philosophin 15 (1997), 24–43.
- P. Deutscher, K. Oliver (Hg.), Enigmas. Essays on S.K., Ithaca 1999.
Frauke A. Kurbacher-Schönborn
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