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Lexikon der Mathematik: Die Bernoulli-Familie

H.-J. Ilgauds und K.-H. Schlote

Die Familie Bernoulli ist eine Schweizer Gelehrtenfamilie holländischer Herkunft. Sie kam um 1570 aus Antwerpen nach Frankfurt/M. und dann nach Basel. Über Generationen hat die Familie bis in die Gegenwart bedeutende Gelehrte hervorgebracht. Beispiellos in der Geschichte der Wissenschaft ist die große Anzahl bedeutender Mathematiker, die aus der Familie Bernoulli hervorgingen. Einige von diesen werden im folgenden näher vorgestellt. (Da einige Vornamen in der Familie Bernoulli sehr häufig gebraucht sind, werden ihnen zur Unterscheidung meist römische Ziffern beigegeben.)

Daniel, geb. 8.2.1700 Groningen, gest. 17.3.1782 Basel. Der zweite Sohn von Johann I war zum Kaufmann bestimmt. Sein Bruder Niklaus (Nicolaus) II führte ihn jedoch in die Mathematik ein. Nach abgebrochenem Studium der Philosophie studierte Daniel Medizin in Basel, Heidelberg und Straßburg. Er setzte diese Ausbildung in Padua fort, mußte aber seine Karriere aus Gesundheitsgründen aufgeben. 1724 veröffentlichte er seine „Exercitationes“, in denen er die Riccatische Differentialgleichung behandelte.

1725 wurde Daniel Bernoulli an die Petersburger Akademie berufen. Er war in Petersburg Professor für Physiologie und Mathematik. Seit 1733 war er dann Professor für Anatomie und Botanik, seit 1750 für Physik in Basel.

Daniel Bernoulli veröffentlichte über medizinische Themen (Blutkreislauf, Herztätigkeit, Pockenschutzimpfung, Blatternimpfung, medizinische Statistik), mathematische Physik, technische Themen und vielfältige mathematische Fragen. Sein umfangreichstes Werk war die „Hydrodynamica“ von 1733/38. Damit wurde ein grundlegender Fortschritt in der Hydrodynamik erreicht. Er behandelte erstmals elastische Flüssigkeiten, gab spezielle Formen der Bernoullischen Gleichung an und schuf die Anfänge der kinetischen Gastheorie. Eng damit im Zusammenhang stehend waren seine Arbeiten über Probleme der Seefahrt, etwa über Ankerformen und Meeresströmungen. Wie bei der Hydrodynamik war Daniel Bernoulli immer an einer engen Verbindung mathematischer Probleme mit ihrer Anwendung interessiert. Er untersuchte spezielle Methoden zum Lösen algebraischer Gleichungen, Kettenbrüche und Fragen der Wahrscheinlichkeitstheorie. Er beschäftigte sich mit dem „wahren Kraftmaß“ (1726), der Rückführung dynamischer Aufgaben auf statische (Schwingungen einer Kette 1743), der Variationsrechnung, führte 1748 Kräftefunktionen ein und leistete Grundlegendes zur Stoßtheorie und zum Problem der schwingenden Saite. Bei letzterem Problem baute Daniel Bernoulli die Lösung durch Superposition (1753) auf und gab damit grundlegende Anregungen zur Theorie trigonometrischer Reihen und letztlich auch zum Funktionsbegriff.

Jakob I, geb. 27.12.1654 Basel, gest. 16.8.1705 Basel. Jakob I studierte Theologie in Basel, beschäftigte sich aber heimlich mit Mathematik. Als Privatlehrer arbeitend, dann als Privatier, reiste er 1676-82 durch Europa, immer die Bekanntschaft bedeutender Mathematiker und Naturforscher suchend. In seine Heimatstadt zurückgekehrt, gab er erst Privatvorlesungen in Experimentalphysik, übernahm dann 1687 den Lehrstuhl für Mathematik an der Universität Basel.

Jakob I Bernoulli gehört zu den Mathematikern ersten Ranges. Mit astronomischen (Kometentheorie, Gravitationstheorie), experimentalphy-sikalischen (Eigenschaften der Luft) Arbeiten seine wissenschaftliche Laufbahn eröffnend, Kurvenuntersuchungen durchführend, bildete das Jahr 1684 den Wendepunkt seiner Interessen. Er begann mit seinem Bruder Johann I die ersten Publikationen von Leibniz zur Infinitesimalmathematik durchzuarbeiten. Sehr schnell eignete er sich den neuen Kalkül, im Briefwechsel mit Leibniz stehend, an und erzielte bald selbst fundamentale Ergebnisse. Er zeigte die Divergenz der harmonischen Reihe und fand die Bernoullische Ungleichung (1684), löste z.T. zusammen mit Johann I das „Florentiner Problem“ (1692) und das Problem der „Isochrone“ (1690, hier tritt vermutlich zum ersten Male das Wort „Integral“ auf), behandelte Kaustiken (1694), und untersuchte spezielle Kurven (u. a. die Kettenlinie 1691).

Im Jahre 1696 gab Jakob I Bernoulli eine neue Lösung des Brachystochronenproblems und begründete mit seinem Ansatz die Variationsrechnung. Aufgaben der Variationsrechnung wurden zu einem seiner bevorzugten Forschungsgebiete. Seit etwa 1685 hat er sich daneben der Wahrscheinlichkeitsrechnung zugewandt. In seinem Hauptwerk zu diesem Gebiet, „Ars conjectandi“ (erschienen erst 1713), versuchte er über die bislang nur übliche Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Glücksspiele hinaus diese auf Verhältnisse der Gesellschaft anzuwenden. Er fand dabei das Gesetz der großen Zahlen (etwa 1690) und die Bernoullischen Zahlen (vor 1695). Neben diesen fundamentalen Resultaten erzielte er Grundlegendes bei sehr vielen Einzelfragen (Gleichung des durch äußere Kräfte verbogenen elastischen Stabes (1694), Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten (1704), Orthogonaltrajektorien (1698)).

Jakob II, geb. 28.10.1759 Basel, gest. 3.7.1789 St.Petersburg. Jakob II, jüngerer Bruder von Johann III, studierte wie dieser Jura in Basel und wurde 1778 Lizentiat der Rechte. Bald jedoch wandte er sich der Mathematik zu und assistierte u. a. seinem Onkel Daniel bei dessen Physik-Vorlesungen.

Seine wissenschaftlichen Arbeiten sind hauptsächlich der Mechanik gewidmet, so veröffentlichte er 1788 ein Werk über die Plattentheorie.

Johann I, geb. 6.8.1667 Basel, gest. 1.1.1748 Basel. Der Bruder von Jakob I studierte in seiner Heimatstadt Medizin, arbeitete sich gleichzeitig aber unter der Anleitung seines Bruders in die Mathematik seiner Zeit ein. Nach seiner Approbation 1690 begab er sich auf Reisen nach Genf und Paris. In Paris unterrichtete er de l’Hopital. Dessen Lehrbuch der Infinitesimalrechnung 1696, das erste des neuen Kalküls, beruhte vorwiegend auf Mitteilungen und Erläuterungen von Johann I.

Im Jahre 1695 wurde Johann I auf den mathematischen Lehrstuhl in Groningen berufen. Nach dem Tode seines Bruders Jakob I übernahm er dessen Lehrstuhl in Basel. Das Lebenswerk von Johann I war inhaltlich eng mit dem seines Bruders verflochten, obwohl die Brüder fast ständig in Streit und Feindschaft miteinander lagen. Er löste das Problem der Kettenlinie (1691) und behandelte mit seinem Bruder Kaustiken und das „Florentiner Problem“. In seiner Korrespondenz mit Leibniz findet sich der Exponentialkalkül und die Bernoullische Reihe (1694). Grundlegend waren seine Untersuchungen zur Variationsrechnung.

Er stellte das Brachystochronenproblem (1696), gab seine Lösung aber erst 1708 bekannt und arbeitete über das isoperimetrische Problem. Johann I führte den Begriff des „Richtungsfeldes einer Differentialgleichung“ (1694) ein, gab 1737 einen Beweis für die Summe der reziproken Quadratzahlen und bewies 1742 den Satz von Ceva. Ab 1710 wandte er sich vorwiegend der Anwendung des neuen Infinitesimalkalküls auf Mechanik und Hydraulik zu. Unabhängig von seinem Sohn Daniel gewann er Grundprinzipien der Hydrodynamik, fand den Energiesatz für konservative mechanische Systeme und formulierte ebenfalls das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten. Bernoulli verschmähte durchaus nicht die Bearbeitung direkt technischer Probleme. Er arbeitete über Schiffstheorie (1714) und über Klappbrücken (1714).

Johann II, geb. 18.5.1710 Basel, gest. 17.7.1790 Basel.

Johann II studierte Mathematik bei seinem Vater Johann I und Jura an der Universität. Nach ausgedehnten Reisen wurde er 1743 Professor der Eloquenz und 1748 Professor der Mathematik in Basel. Er arbeitete über Lichttheorie (1736), über Magnetismus (1746) und technische Fragen (Schiffswinden, 1741).

Johann III, geb. 4.11.1744 Basel, gest. 13.7.1807 Berlin. Johann III, ältester Sohn von Johann II, wurde aufgrund seiner Begabung bereits mit 10 Jahren an der Universität Basel aufgenommen. Mit 14 Jahren war er Magister und studierte Jura, während sein Vater und Daniel Bernoulli ihn gleichzeitig in Mathematik unterwiesen.

Im November 1763 reiste Johann III auf Vermittlung seines Vaters nach Berlin, wo er ab 1764 besoldetes Akademiemitglied der mathematischen Klasse war. 1767 wurde er Direktor des Observatoriums, und 1792 schließlich Direktor der mathematischen Klasse der Akademie.

Nicolaus I (Niklaus I), geb. 10.10.1687 Basel, gest. 29.11.1759 Basel. Nicolaus I Bernoulli war der Neffe von Jakob I und Johann I. Von diesen wurde er in Mathematik ausgebildet.

1705 wurde Nicolaus I in Basel Magister mit der Verteidigung einer Arbeit von Jakob I. Später wandte er sich der Jurisprudenz zu und begab sich auf eine wissenschaftliche Bildungsreise. Im Jahre 1716 wurde er Professor für Mathematik in Padua, 1722 Professor für Logik in Basel und 1731 für Rechte in seiner Heimatstadt. Nicolaus I arbeitete über Reihenlehre, insbesondere verwarf er die damals übliche Handhabung divergenter Reihen (1713, 1742). Er beschäftigte sich mit der Integration von Differentialgleichungen, behandelte die Summe der reziproken Quadratzahlen und kritisierte Fehler Newtons in dessen Fluxionenkalkül.

Nicolaus II(Niklaus II), geb. 6.2.1695 Basel, gest. 26.7.1726 St. Petersburg. Der Sohn von Johann I studierte in Groningen und Basel Jura, befaßte sich nebenbei aber mit Mathematik. Nach ausgedehnten Reisen wurde er 1720 Hauslehrer in Venedig, 1725 Professor der Rechte in Bern und 1725 Akademiemitglied in der russischen Hauptstadt.

Seine mathematischen Arbeiten behandelten orthogonale Trajektorien (1716, 1720) und Wahrscheinlichkeitstheorie („Petersburger Paradoxon“).

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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