Metzler Philosophen-Lexikon: Anaximander
Geb. um 610 v. Chr. in Milet;
gest. um 550 v. Chr. in Milet
Die Stadt Milet, Metropole des archaischen Ioniens, und dank ihrer Beziehungen ins östliche Mittelmeer lange Zeit eine der wichtigsten griechischen Vermittlerinnen orientalischer Technik und Theorie, erlebt im 6. Jahrhundert v. Chr. die Geburt der griechischen Wissenschaften. Hekataios unternimmt von hier aus seine großen Forschungsreisen, auf denen seine geographischen Arbeiten basieren, und verfaßt das erste uns bekannte Geschichtswerk der griechischen Literatur. Bekannter werden die Namen dreier anderer Männer – der Naturwissenschaftler^ (»physiólogoi« – so nennt sie Aristoteles) Thales, A. und Anaximenes. Chronologisch wie der Bedeutung nach steht A. in ihrer Mitte. Wie der (hesiodische) Mythos fragt A. nach dem Ursprung der Welt. Doch anders als der Mythos, in dessen genealogischer Kosmogonie Weltentstehung und Weltherrschaft auseinanderfallen, eint er diese beiden Größen. Im beides umfassenden Begriff der »archḗ«, den er vielleicht als erster philosophisch verwendet, identifiziert er den »Beginn« des Weltprozesses, aus dem alles hervorgeht, mit der »Macht«, die den Kosmos beherrscht.
Was aber ist die »archḗ«? A. nennt sie das »ápeiron« – »das ohne Grenze, Bestimmung, Definition«: das quantitativ wie qualitativ Unbestimmte. Der »Urgrund aller Dinge«, der die Welt schafft und lenkt, ist in seiner Ausdehnung, vor allem aber seinem Wesen nach unbestimmt. Anders als etwa Thales identifiziert ihn A. mit keiner empirischen »Materie«. Er spricht dem »ápeiron« göttliche Eigenschaften zu; er nennt es, mit homerischen Begriffen, »nichtalternd«, »unsterblich«, vielleicht auch »göttlich«. Im Mythos also wurzelt A.s »ápeiron«. Göttlichkeit, Unerschöpflichkeit, Zeugungskraft, Macht verraten seine mythische Dimension. Wie in den Kosmogonien des Vorderen Orients ist das »ápeiron« »das Umfassende« – die unergründliche göttliche Tiefe, der Quell des Ursprungs. Diese Herkunft teilt das »ápeiron« mit Hesiods »cháos«. Doch gelingt es A., den »Urgrund« zu entmythologisieren: sprachlich durch seine abstrakte Begrifflichkeit, auf funktionaler Ebene durch seinen Gedanken eines rational erfaßbaren Gesetzes, mit dessen Hilfe das »ápeiron« die Welt lenkt. Dieses Gesetz beschreibt das einzige im Wortlaut erhaltene Anaximander-Fragment: alle Dinge entstehen aus dem und vergehen ins »ápeiron« »gemäß der Notwendigkeit; denn sie zahlen einander Recht und Ausgleich für ihr Unrecht, gemäß der Festsetzung der Zeit«. Die Welt konstituiert sich in der kontinuierlichen Auseinandersetzung zwischen den sie formenden polaren Kräften. Jedes Werden, gesehen als Dominanz, als »Raumgewinn« der einen über die andere Kraft, ist »Unrecht«. Dieses Unrecht macht der überlegene Teil wieder gut: in einem systemimmanenten (»sie zahlen einander«) aktiven (»sie zahlen Recht« und stellen es so wieder her) Prozeß wird ein »Ausgleich« geschaffen. Nun gewinnt die vorher unterlegene Kraft das Übergewicht – und begeht so ihrerseits Unrecht. Die den Ausgleich festsetzende Instanz ist die Zeit; sie bestimmt die Dauer der »Zahlung«: das Unrecht wird, bezahlt mit gleichem Maß, Recht. A.s Gesetz geht offenkundig von den zyklischen Perioden der Natur aus. Tag und Nacht oder etwa die Jahreszeiten sind in ihrer »notwendigen« Abfolge von »Werden« und »Vergehen« die formativen Vorbilder dieses Ausgleichs. Die »Notwendigkeit«, der das Werden und Vergehen, jener Prozeß beständiger Veränderung, unterliegt, erweist sich als Rechtsordnung. Mit Hilfe eines juristischen, und somit letztlich politischen, Modells erklärt A. die Welt.
Wie sieht dieses politische Modell aus? Sämtliche kosmischen Prozesse lassen sich zurückführen auf eine Ordnung des Gleichgewichts. Dieses Gleichgewicht ist stabil, keinesfalls aber statisch. Die Kräfte befinden sich in einem permanenten Konflikt; in regelmäßigem Wechsel wandert die Vorherrschaft von einer Kraft zur anderen. Diese Symmetrie der Ordnung, die sich um ein Zentrum herum formiert, das keine dieser Kräfte besetzen kann, schafft in der Summe »Recht und Ausgleich« zwischen gleichberechtigten (und faktisch gleichstarken) Parteien.
Garant und Zentrum dieser Ordnung ist das »ápeiron«. Die faktische (»isótēs«) wie rechtliche Gleichheit (»isonomía«), die es allen Kräften auferlegt, begründet – über alle Vielfalt hinaus – Einheit und Rechtlichkeit der Welt. Anders als die Ordnung des Mythos, die am Ende der Kosmogonie etablierte »Königsherrschaft« (»basileía«), ist A.s Ordnung nicht mehr hierarchisch; sie ist Resultat jenes Gleichgewichts zwischen nunmehr gleichrangigen Kräften. Keine Partei ist mehr privilegiert gegenüber den anderen – wie in der Polis tritt die Herrschaft des Gesetzes und der von ihm konstituierten »isonomía« die Nachfolge der »basileía« an. Die politische Erfahrung der Polis liefert A. das Modell für seine Analyse der Welt. Dieser Gedanke wirkt nach in A.s Kosmologie. Die Erde verdankt ihre Stabilität keiner konkreten »Stütze« mehr wie bei Thales oder Anaximenes, sondern allein ihrer zentralen Position in der Mitte der Welt. Gleich weit von allen Punkten der sie umgebenden konzentrischen Himmelskreise entfernt, befindet sie sich im Zustand stabilen Gleichgewichts. Kein physikalisches Modell, sondern eine abstrakte mathematische Konstruktion trägt nun die Erde. Dazu paßt auch die Nachricht von jener ersten, dem A. zugeschriebenen (und von Hekataios verbesserten) Erdkarte, die die Erdoberfläche zur Symmetrie ordnet: das vom Wasser umschlossene runde Festland teilt sich in zwei identische Hälften, Asien und Europa.
Bodnár, István: Art. »Anaximander«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 1, Sp. 672–673. – Vernant, J.-P.: Die Entstehung des griechischen Denkens. Frankfurt am Main. 1982, S. 103–131. – Hölscher, U.: Anaximander und der Anfang der Philosophie. In: Ders.: Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie. Göttingen 1968, S. 9–89. – Khan, Ch. H.: Anaximander and the Origins of Greek Cosmology. New York 1960.
Peter Habermehl
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