Metzler Philosophen-Lexikon: Bachelard, Gaston
Geb. 27. 6. 1884 in Bar-sur-Aube;
gest. 16. 10. 1962 in Paris
»Unseren täglichen Hunger gib uns heute« – so lautete B.s »Morgengebet« angesichts der Unmengen an Lesestoff, die er zu bewältigen hatte. Immer hatte er wohl das Gefühl, etwas »aufholen« zu müssen, immer wieder noch etwas dazu lernen zu können. Und nie wurde er müde, seine Erkenntnisse weiterzugeben, sei es als Professor für Geschichte und Philosophie der Naturwissenschaften an der Sorbonne oder auch in seinen Veröffentlichungen – in rund fünfzig Artikeln, in vielen Rezensionen und in über zwanzig Monographien. B.s berufliche Anfänge ließen indes nichts von einer solchen akademischen Laufbahn ahnen. Er ist zunächst – immerhin ein Jahrzehnt lang – einfacher Postbeamter in seinem Geburtsort. In seiner Freizeit allerdings lernt der Autodidakt für das Lehrerexamen in Mathematik, das er erfolgreich abschließt (1912). Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg wird er Chemie- und Physiklehrer in Bar-sur-Aube (1919 bis 1930). Damit ist sein »Hunger« jedoch noch längst nicht gestillt. Er vertieft sich in die Philosophie, besteht auch in dieser Disziplin die »Licence«, das Staatsexamen (1920), und promoviert 1927 zum »Docteur ès Lettres« mit einer Arbeit aus dem Bereich der Erkenntnistheorie (Essai sur la connaissance approchée), die noch im selben Jahr durch eine wissenschaftsgeschichtliche »thèse complémentaire« (Étude sur l évolution d un problème de physique: la propagation thermique dans les solides) ergänzt wird. Seine Universitätskarriere beginnt B. nach seiner Promotion in Dijon (1930), von wo aus er 1940 an die Sorbonne berufen wird (Lehrstuhlinhaber bis 1954).
B.s Denken kreist in der ersten Phase seiner Reflexion im Wesentlichen um die beiden Pole, die bereits seine Doppeldissertation ankündigen: um die Erneuerung des naturwissenschaftlichen und des philosophisch-erkenntnistheoretischen Verstehens. Sein Hauptanliegen galt der Frage, wie die Philosophie (vor allem in der Wissenschaftstheorie) nach den erdrutschartigen Veränderungen in den Naturwissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts – erinnert sei nur an die Relativitätstheorie – zu einem neuen, adäquaten Verständnis ihrer selbst geführt werden konnte. B. stellt sich mit dieser Position gegen eine jahrhundertealte philosophische Tradition, die davon ausgeht, es sei das philosophische Denken, das die Welt und ihre Phänomene erklärt, und gerade nicht das »zufällige« empirische Ereignis. Diese radikale Anti-Haltung hat B. selbst in den Titel einer seiner wichtigsten Veröffentlichungen, der Philosophie du Non (1940; Die Philosophie des Nein), aufgenommen. B. richtet seine Angriffe besonders gegen einen der großen französischen Philosophen, gegen Descartes. Im Gegensatz zu diesem vertritt er die These, daß die Prinzipien des Erkennens sich gerade nicht bruchlos und kontinuierlich aus einer sich immer stärker verfeinernden und kritischen Alltagserfahrung ableiten lassen. Vielmehr sind die Fortschritte des wissenschaftlichen Erkennens immer und überall Fortschritte gegen unsere alltägliche Erfahrung gewesen. Nichts baut hier aufeinander auf oder ergänzt sich; gerade umgekehrt bedeutet jedes weitere Voranschreiten auf dem Weg der Erkenntnis einen Bruch mit der bisher zurückgelegten Strecke. In B.s eigenen, fast furchteinflößenden Worten: »Der wissenschaftliche Geist kann sich nur konstituieren, wenn er den nichtwissenschaftlichen Geist ausrottet.« B. bezeichnet diese auf den ersten Blick negative Kategorie als »epistemologisches Hindernis« oder »epistemologischen Bruch« (»obstacle« oder »coupure épistémologique«), der sowohl die vorwissenschaftliche von der wissenschaftlichen, aber ebenso die einzelnen, historisch aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen der Wissenschaftsgeschichte voneinander trennt (hierzu bes.: La Formation de l esprit scientifique. Contribution à une psychanalyse de la connaissance objective, 1938; Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis). Mit seiner Epistemologie nimmt B. den gesamten modernen Bereich der Wissenschaftsforschung vorweg, der Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie miteinander verbinden will (Wolf Lepenies in der Einleitung zur Übersetzung der Bildung). Den Fragen der Epistemologie widmet sich B. noch in Le Rationalisme appliqué (1949) und in Le Matérialisme rationnel (1953).
B. verneint nun allerdings keineswegs die Bedeutung des vorwissenschaftlichen Denkens und Erkennens. In einer zweiten Schaffensperiode fragt er vielmehr – z.B. in der auch in Deutschland berühmten Psychanalyse du Feu (1940; Psychoanalyse des Feuers) – weiter nach den besonderen Mythen und Metaphern, in denen sich dieses Denken Ausdruck verleiht; denn es sind eben diese bildlichen Vorstellungsweisen, die sich in der der alten, aber eben auch noch in der modernen Dichtung wiederfinden. So werden z.B. bestimmte Vorstellungen vom Feuer, die auf die Chemie vor Lavoisier zurückgehen, gleichsam unterirdisch weitertransportiert, auch wenn sie wissenschaftlich längst widerlegt sein mögen. Ein derartig vorwissenschaftliches Verständnis des Feuers begegnet etwa bei Novalis oder bei E.T.A. Hoffmann. Die Dichtung bleibt also, trotz des – wenn auch hindernisreichen – Fortschritts der Erkenntnis, einer Art kollektiver Urerfahrung der Menschheit verhaftet, und diese Urerfahrung teilt sich nicht nur über die Dichtung, sondern auch im Träumen jedem einzelnen Individuum mit, das das Träumen wieder zur Kunst sublimieren kann (La Poétique de la rêverie, 1960). B. selbst hat eine – für die damalige, am Autor-Werk-Schema orientierte positivistische Literaturwissenschaft – revolutionäre Analyse eines literarischen Textes in seinem Lautréamont (1939) systematisch durchgeführt. Dabei geht es ihm weniger um die psychoanalytische Entschlüsselung der Persönlichkeit des Autors (über den im übrigen so gut wie nichts bekannt war). Der Künstler hat vielmehr die Funktion eines Brennglases, in dem sich die an die Elemente (Feuer, Wasser, Erde, Luft; L Eau et les rêves. Essai sur l imagination de la matière, 1942; L Air et les Songes. Essai sur l imagination du mouvement, 1943; La Terre et les Rêveries de la volonté. Essai sur l imagination des forces und La Terre et la Rêveries du repos. Essai sur les images de l intimité, beide 1948) gebundenen Urerfahrungen des Menschen konzentriert auffinden und beschreiben lassen. In der Poétique de l espace (1957; Poetik des Raums) geht B. noch einen Schritt weiter: Er löst die Produktion der poetischen Bilder gänzlich aus kausalen Zusammenhängen und erklärt sie als Kreation der unabhängigen »imagination«.
Gerade mit diesem neuen methodischen Ansatz – der Loslösung des literarischen Textes von der Biographie des Autors – ist B. (zusammen mit Georges Bataille und Maurice Merleau-Ponty) zu einem der bedeutendsten Vorreiter der Nouvelle Critique und des Strukturalismus der 60er Jahre geworden; sein Einfluß auf die Schriften eines Michel Foucault, eines Louis Althusser oder auch eines Roland Barthes ist unverkennbar. Über die Grenzen Frankreichs hinaus ist B. indes lange ein Unbekannter geblieben; das gilt auch und gerade für den deutschen Sprachraum, wie die extrem verspäteten Übersetzungen einiger seiner Werke (oft liegen Jahrzehnte zwischen dem Erscheinungsdatum und der deutschen Fassung) leider allzu deutlich belegen.
Perrot, Maryvonne: Bachelard et la poétique du temps. Frankfurt am Main 2000. – Nouvel, Pascal (Hg.): Actualité et postérités de Gaston Bachelard. Paris 1997. – Choe, Hong: Gaston Bachelard. Epistemologie: Bibliographie. Frankfurt am Main 1994. – Gil, Didier: Bachelard et la culture scientifique. Paris 1993. – Ginestier, Paul: Bachelard. Paris 31987. – Quillet, Pierre: Gaston Bachelard. Paris 1964. – Canguilhem, Georges: Sur une épistémologie concordataire. In: Hommage à Bachelard. Paris 1957, S. 3–12.
Ulrich Prill
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