Metzler Philosophen-Lexikon: Descartes, René
Geb. 31. 3. 1596 in La Haye/Touraine;
gest. 11. 2. 1650 in Stockholm
D. war der Denker, dem die Moderne, wie der zeitgenössische Psychoanalytiker Jacques Lacan treffend bemerkte, neben anderem auch die Eigenheit verdankt, unter der sie am meisten leidet: die schon fast sprichwörtliche Zerrissenheit des modernen Subjekts. Er begann seine Ausbildung mit acht Jahren am jesuitischen Collège Royal in La Flèche. Die empfindliche Konstitution des Jungen hat schon die Patres sehr beeindruckt, jedenfalls war er von morgendlichem Unterricht befreit, und sein späterer Hang, die Vormittage meditierend im Bett zu verbringen, nahm seinen Anfang in dieser Zeit. Etwa 1612 verließ D. La Flèche, um für die nächsten Jahre in Paris zu leben und sich mathematischen und juristischen Studien zu widmen; hier, vielleicht aber auch erst 1622, erwarb er sich die Freundschaft seines zukünftigen Mentors Marin Mersenne. Dieser war Ordensbruder der »Minimes«, zugleich aber auch ein überzeugter Anwalt wissenschaftlicher bzw. philosophischer Wahrhaftigkeit. So sorgte er beispielsweise bis 1634 mit der Veröffentlichung von fünf Traktaten für das Bekanntwerden der Mechanik Galileis, die auch die Basis für seine eigenen physikalischen Theorien bildete. Sie betreffen vor allem die Akustik – auch der Begriff der Schwingungszahl geht auf ihn zurück. D.’ wissenschaftliche Arbeit verdankt ihm bedeutende Anregungen. Um 1617/18 reiste D. zum ersten Mal nach Holland und begann eine militärische Ausbildung in der Armee des Prinzen Moritz von Oranien. Seine Wahl könnte durch die militärischen Erfolge der vereinigten Niederlande im Kampf gegen die Spanier beeinflußt worden sein. D. opferte seinen Wissensdrang nicht der Offizierslaufbahn, er trieb auch hier seine Studien weiter und befreundete sich mit dem Physiker Isaac Beeckman.
Im Sommer 1619 kam er nach einer Reise, die ihn nach Kopenhagen, Danzig und durch Böhmen, Ungarn und Österreich führte, mit der Armee nach Neuburg bei Ulm. Hier, im Winterquartier, ereignete sich in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1619 der Inauguraltraum der Cartesianischen Philosophie. Dem Denker träumte dabei von einem Dictionnaire, über dessen Vollständigkeit er sich noch im Traum Gedanken machte, und das er als Traumbild in seiner Deutung auf die Gesamtheit der Wissenschaften bezog; dazu noch träumte ihm von dem Vers: »Quod vitae sectabor iter?« (»Welchen Lebensweg soll ich einschlagen?«), der die Frage nach der Methode enthält. Hier sind bereits die beiden wichtigsten Momente der Philosophie D.’ sichtbar, zum einen das methodologische Problem, später dargelegt in den Werken Regulae ad directionem ingenii (1619–1628, erschienen 1701 in Amsterdam; Regeln zur Leitung des Geistes), Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences (1637; Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung), Meditationes de prima philosophia (1641; Untersuchung über die Grundlage der Philosophie); zum andern der enzyklopädische Anspruch, die Summe aller Wissenschaften zu kennen und zu bearbeiten, wovon das von 1629 bis 1649 entstandene Fragment seines großen naturphilosophischen Werkes Le monde de M. Descartes ou le Traité de la lumière et des autres principaux objets des sens (1664) und die Principia philosophiae (1644; Die Prinzipien der Philosophie) Zeugnis ablegen. Doch auch die Vorstellung von der »mathesis universalis«, der Universalwissenschaft, deren Entdeckung eine große Hoffnung seiner Zeit war, wird hier angedeutet. Nach einer Bemerkung in den Regulae wollte D. mit ihr die Wissenschaft bezeichnet sehen, »die all das entwickelt, was bezüglich Ordnung und Maß, noch ohne einem besondern Gegenstand zugesprochen zu sein, zum Problem gemacht werden kann.« Eigentlich also eine Mathematik mit dem Anspruch, die Welt berechenbar zu machen. Doch D. wird eine Notwendigkeit gefühlt haben, über diesen Anspruch – zumindest theoretisch – noch hinauszugehen; die folgenden Worte stellte er der französischen Ausgabe der Principia als Einleitung voran: »Die gesamte Philosophie ist also einem Baume vergleichbar, dessen Wurzeln die Metaphysik, dessen Stamm die Physik und dessen Zweige alle übrigen Wissenschaften sind, die sich auf drei hauptsächliche zurückführen lassen, nämlich auf die Medizin, die Mechanik und die Ethik. Unter Ethik verstehe ich dabei die höchste und vollkommenste Sittenlehre, die, indem sie die gesamte Kenntnis der anderen Wissenschaften voraussetzt, die letzte und höchste Stufe der Weisheit bildet. So wie man nun weder von den Wurzeln noch vom Stamm der Bäume die Früchte pflückt, sondern nur von ihren Zweigen, so hängt auch der hauptsächliche Nutzen der Philosophie von denjenigen ihrer Teile ab, die man erst zu allerletzt lernen kann.«
1622 kehrte D. in die Touraine zurück, brach aber schon im nächsten Jahr nach Italien auf und blieb dort nahezu zwei Jahre, ohne daß ihn das Land besonders beeindruckte. Von 1625 an lebte er für weitere vier Jahre in Frankreich, setzte seine Studien fort und trat gelegentlich bei philosophischen Disputen auf. Um, wie er sagte, dem Ruf, den er sich damit erworben hatte, treu bleiben zu können, ging er 1628 nach Holland. Hier arbeitete er seine bisherigen Erkenntnisse bezüglich der philosophischen Methode in den Regulae aus. Das Fragment gebliebene Werk weist in seiner erkenntniskritischen Bedeutung weit über seine Entstehungszeit hinaus; D. hatte aber, wie er 1630 an Mersenne schrieb, im Laufe seiner Beschäftigung mit den methodischen Problemen einige neue Erkenntnisse gewonnen, die eine Änderung seiner Absichten nötig machten. Diese hat er in einem nicht überlieferten Traktat festgehalten, wovon er im vierten Teil des Discours berichtet, doch gingen diese Überlegungen später in die Meditationes ein. Von diesem Zeitpunkt an gewinnt die Metaphysik eine besondere Stellung in seinem Werk; der geometrische Beweis, von D. in den Regulae noch mit einem Maximum an Evidenz ausgestattet, wird dem Beweis metaphysischer Wahrheiten, d.h. der Existenz Gottes und der Unkörperlichkeit der Seele nachgeordnet, den D. in den ersten Monaten seines Aufenthaltes in Holland gefunden zu haben glaubte. Das Land blieb bis 1649 seine Wahlheimat, die er nur wenige Male für kurze Reisen verließ. Der durch den aufblühenden Seehandel begründete Reichtum der Niederlande, die dort geltende Freiheit der Religionsausübung und, in der Folge von beidem, die außerordentliche kulturelle Entwicklung des Landes bestimmten seine Wahl. Die in Holland vergleichsweise liberale Situation erleichterte ihm wahrscheinlich seine persönlichen Lebensumstände, als Modell eines möglichen, gar wünschenswerten Staates aber scheint sie keinen Eindruck auf ihn, der zeit seines Lebens nicht nur ein gläubiger Katholik, sondern auch ein treuer Anhänger des monarchischen Prinzips blieb, gemacht zu haben. In Frankreich hatte D. Grund, um seine Sicherheit zu fürchten. Nichtaristotelisches Philosophieren war dort mit der Todesstrafe bedroht, und der Einfluß der Kirche, d.h. hier vor allem der Jesuiten am Hof des Herrschers, war kaum zu unterschätzen. Die scholastische Tradition ließ neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Naturwissenschaften bzw. der Philosophie nicht zu. Eine Erkenntnis war nur dann sanktioniert, wenn sie nicht im Widerspruch zur Bibel, zu den Schriften des Aristoteles und denen der Kirchenväter stand. Analog zum theologischen Diktum der Offenbarung galt für die Wissenschaften, daß eigentlich nichts Neues an Naturgesetzen etc. mehr zu entdecken war. Eine Infragestellung der solchermaßen festgeschriebenen Naturansichten war eine Häresie und der Verfolgung durch die kirchliche Autorität fast sicher. D. hatte sich bereits in La Flèche mit diesen Naturerkenntnissen, die keine waren, auseinandersetzen müssen. Die durch sie verursachte Stagnation des Denkens war für ihn der Stein des Anstoßes. Als Galilei 1632 in Rom der Ketzerei angeklagt wurde, schrieb D. an Mersenne, daß er sich beinahe dazu entschlossen habe, alle seine Papiere zu verbrennen. Er nahm richtig an, daß die Anklage sich gegen Galileis Behauptung von der Bewegung der Erde gerichtet habe, meinte aber, daß diese Wahrheit zwar schon früher von seiten der Kirche gerügt, aber letztendlich doch toleriert worden wäre, schließlich habe man nicht davon abgelassen, sie sogar in Rom öffentlich zu lehren. Hier wird neben der offenen Konfrontation von Naturwissenschaft und Kirche deutlich, daß auf seiten der ersten eine Hoffnung auf Subversion der scholastischen Lehren bestand, dergestalt, daß eine Wahrheit, wenn auch durch die Autoritäten nicht offiziell anerkannt, sich doch stillschweigend bei ihnen durchsetzen werde, weil ein klar denkender Verstand ihr die Einsicht am Ende doch nicht mehr versagen könne. D. hoffte, mit dieser Strategie überzeugen zu können, und bemühte sich deshalb häufig um Fürsprecher von hohem kirchlichen Rang. Die in seinem Brief gemeinte Schrift war Le monde, eine naturphilosophische Abhandlung, die zum Teil in die dem Discours nachfolgenden Essays und in die Principia philosophiae eingearbeitet ist. Zu ihr gehörte als 18. Kapitel auch der Traktat L Homme. D. legte dieser Abhandlung das Weltbild Galileis zugrunde, nicht aber den späteren Principia. Sie sind das am deutlichsten von der Rücksicht auf kirchliche Autoritäten gezeichnete Werk. Der von D. ohnehin nicht allzu offensiv geführte Kampf gegen die Scholastik ist jedoch keinesfalls ein Kampf gegen die Religion und das cartesianische Projekt mithin auch ein Versuch, eine katholische Philosophie fortschrittlicheren, aber dennoch dogmatischen Charakters zu etablieren. In den Schriften des Aristoteles und seiner Ausleger konnte er nur Streit provozierende Widersprüche entdecken, der dann in der Disputatio ausgetragen wurde, was nach D. die Erkenntnis nicht im geringsten befördert, sondern, und hier treffen D. und Hobbes zusammen, im Keim bereits die Möglichkeit eines Glaubenskrieges enthält, der mit seiner Gewalt beinahe die ganze Lebenszeit beider Denker zeichnete und von beiden als die größte Gefahr für die kulturelle Entwicklung Europas angesehen wurde.
Um aber den Naturwissenschaften wenigstens die Möglichkeit eines Fortschritts der Erkenntnis zu verschaffen, schien es D. nötig, sie vom Ballast des scholastischen Schrifttums zu befreien. Hier hebt der Discours mit der individualistischen Geste an und setzt den »gesunden Verstand« gegen die überlieferte »Meinung«: »Und wenn ich überlegte, wie viele verschiedene Meinungen es über einen und denselben Gegenstand geben kann, die alle von Gelehrten verteidigt werden, und daß doch immer nur eine einzige wahr sein kann, so galt mir alles bloß Wahrscheinliche für nahezu falsch Und ebenso meinte ich, daß die Wissenschaften, die in Büchern niedergelegt sind, wenigstens die, die sich auf bloß wahrscheinliche Voraussetzungen stützen und in denen es keine strikten Beweise gibt, sich nur nach und nach aus den Meinungen verschiedener Personen aufgebaut und vermehrt haben und daher der Wahrheit nicht so nahe kommen wie die einfachen Erwägungen, die ein Mann von gesundem Verstand ganz natürlich über Dinge anstellen kann, die vor ihm liegen.« D. schrieb auch für diesen »Mann von gesundem Verstand«; der Discours ist das erste wissenschaftlich-philosophische Werk in französischer Sprache. Dem Studium der Bücher setzte er das »Buch der Welt« entgegen, ein deutlicher Hinweis auf Montaignes Essay De l institution des enfants, in dem sich bereits die Polemik gegen die philosophische bzw. wissenschaftliche Tradition findet. Nur Weniges nahm er mit sich auf den Weg, der ihn zur Erkenntnis führen sollte: Einige Regeln, von denen die wichtigste besagt, daß er nur das als wahr anerkennen wolle, was er klar und deutlich erkenne, und, da alles Übrige dem Zweifel ausgeliefert werden soll, auch eine kleine »Moral auf Zeit«, die ihm bei aller Unsicherheit noch die Möglichkeit zu handeln sichern sollte. Solchermaßen gerüstet begann er dann, die Fundamente seines Wissens neu zu legen. Nach neun Jahren Studium im »Buch der Welt« von 1619 bis 1628 reifte in ihm der Entschluß, zurückgezogen und fern von Bekannten sich noch intensiver der Erkenntnis zuzuwenden, die ihm zugleich Selbsterkenntnis war. Mitten im geschäftigen Treiben Hollands fand er die Muße und bahnte sich über die Fiktion, daß nichts wahr und alles Täuschung sei, den Weg zu der Feststellung, es bleibe letztlich die zweifelnde bzw. denkende Seele als wahr, d.h. existent anzunehmen – »eine Substanz, deren ganzes Wesen oder deren Natur nur darin besteht, zu denken und die zum Sein keines Ortes bedarf«. Doch betrifft diese Sicherheit nur die »res cogitans«; ihr Gegenstück, die Materie, »res extensa«, deren einziger Charakter die Ausdehnung ist, sei nach D. so einfach nicht zu erkennen. Der hieraus folgende, das philosophische Denken bis heute prägende Dualismus von Geist und Materie hat in der Wirkungsgeschichte des Cartesianismus schon bald zu Spaltungen geführt; die von D. als Faktum hingenommene Vereinigung der beiden grundverschiedenen Substanzen im Menschen ist die Achillesferse seiner Theorie.
Nach dem Erkennen der eigenen Seele als unvollkommenem Wesen konstruierte D. im Discours mittels der bei sich selbst gefundenen Vorstellung eines vollkommenen Wesen den Gott: die ihn bezeichnende Vorstellung als etwas Vollkommenes könne nicht ein unvollkommenes Wesen wie den Menschen zum Urheber haben und sei deshalb von Gott selbst im Menschen »gepflanzt« worden. Den hier nicht geleisteten Beweis der Existenz Gottes versuchte D. dann in seinem philosophiegeschichtlich bedeutendsten Werk, den Meditationes de prima philosophia (1641). Gleichsam zum Beweis seiner eigenen Denkfähigkeit, aber auch zur Absicherung des Werkes veröffentlichte er es zusammen mit den Einwänden von Caterius, Hobbes, Antoine Arnauld, Pierre Gassendi u. a., denen er es zuvor bereits zugänglich gemacht hatte, sowie mit seinen Antworten auf diese Einwände. In diesem Werk versuchte D. vermittels der Hypothese »Gott sei ein Betrüger«, mit der er sein Zweifeln radikalisierte und die ihm schwere Vorwürfe von seiten der Jesuiten eintrug, die im Denken gefundenen Vorstellungen bzw. Begriffe anhand je verschiedener Quantitäten einer »realitas obiectiva«, die in ihnen enthalten sei, zu unterscheiden. Nach seiner in der französischen Übersetzung der Meditationes (1647) hinzugefügten Erläuterung bedeuten diese verschiedenen Quantitäten der »realitas obiectiva« eine je graduell verschiedene Teilhabe am Sein bzw. der Vollkommenheit desselben mittels der Repräsentation. Tatsächlich ist die »realitas obiectiva« ein scholastischer Begriff, der auf Johannes Duns Scotus zurückgeht und einer Vorstellung, wenn er ihr zugeordnet ist, von vornherein eine Entstehung aufgrund einer dem Denken äußerlichen Ursache zuschreibt, sie also als nicht-subsistent etikettiert, womit die Existenz dieser äußeren Ursache natürlich nicht bewiesen, sondern nur behauptet ist. Keine Vorstellung aber könne, insofern sie Seinscharakter habe, das Nichts zur Ursache haben. Zumindest wäre der Mensch selbst bzw. seine Phantasie die Ursache, doch meint D. eine solche Vorstellung, anhand der »realitas obiectiva«, klar und deutlich unterscheiden zu können, auch von der Vorstellung Gottes, die die größte Quantität der »realitas obiectiva« enthalten soll, die Seinscharakter habe und die nicht auf ein unvollkommenes, sondern nur auf ein vollkommenes Wesen zurückführbar sei; schließlich, so der zweite Gottesbeweis in der fünften Meditation, sei Vollkommenheit und Nichtexistenz ein Widerspruch. Diesen ontologischen Gottesbeweis hat Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft widerlegt: »Der Begriff eines höchsten Wesens ist eine in mancher Absicht sehr nützliche Idee; sie ist aber eben darum, weil sie bloß Idee ist, ganz unfähig, um vermittelst ihrer allein unsere Erkenntnis in Ansehung dessen, was existiert, zu erweitern. Sie vermag nicht einmal so viel, daß sie uns in Ansehung der Möglichkeit eines Mehreren belehrte. Sein ist offenbar kein reales Prädikat.« Gleiches gilt natürlich für das cartesianische Cogito. Daß der Beweis der Existenz nur im Akt des Denkens und während desselben zu haben sei, hatte bereits Rousseaus Widerspruch gefunden.
Was bleibt, ist das epochemachende, von Wilhelm von Ockham eingeleitete und von D. vollendete Projekt einer von der Theologie befreiten Naturwissenschaft. Die im radikalen Zweifel zerstörte Welt wird von einem in diesem Zweifeln gefundenen archimedischen Punkt aus rekonstruiert, wobei der angeblich bewiesene Gott nun die Wahrheit der Erkenntnisse über diese Welt garantieren soll. Durch Reduktion der komplizierten Substanz-Theorien der Scholastik auf den Dualismus von denkender und ausgedehnter Substanz (»res cogitans« und »res extensa«) gelingt diese Rekonstruktion, die zugleich der Grundstein für die Naturtheorien der Moderne ist, auf eine eindrucksvolle Weise. Die Natur als »ausgedehnte Substanz« wird beherrscht von mechanischen Gesetzen, das Tier und die menschlichen Körper sind Maschinen. »Sogar der Geist ist so sehr von der Leibesbeschaffenheit und der Einrichtung der Organe abhängig, daß ich, wäre es möglich, ein Mittel zu finden, das die Menschen ganz allgemein weiser und geschickter machte, als sie bisher gewesen sind, glaube, man muß es in der Medizin suchen.« Diesem untergründigen Materialismus entspricht D.’ großes Interesse für die Physiologie. Nach einer Anekdote soll D., wenn er Besucher in sein mit sezierten Tieren angefülltes Arbeitszimmer führte, auf die Präparate mit den Worten »Das sind meine Bücher« hingewiesen haben.
1647 verfaßte er den physiologischen Essay La description du corps humain und ein Jahr später De la formation de l animal. Die beiden Schriften wurden, wie auch der schon 1633 entstandene Text L Homme posthum veröffentlicht (1664 bzw. 1677). Das Problem, wie wohl Seele und Körper zusammenhängen mögen, behandelte er auch in seinem letzten, für den Druck fertiggestellten Werk, Les passions de l âme (1649; Von der Leidenschaft der Seele), deren erster Teil sich mit der Affizierbarkeit der Seele durch den Körper und der Beherrschung der Leidenschaften beschäftigt. Das Werk geht auf den seit 1643 geführten Briefwechsel D.’ mit Prinzessin Elisabeth von der Pfalz zurück und beinhaltet im zweiten Teil Gedanken einer Ethik, die D. mehrfach angekündigt hatte und die für ihn die Krönung der Wissenschaften bilden sollte.
1644 hatte D. bei seinem Freund und Übersetzer Claude Clerselier dessen Schwager Pierre Chanut kennengelernt, der, nachdem er 1645 als französischer Botschafter an den schwedischen Hof ging, die Königin Christina von Wasa mit der Philosophie seines neuen Freundes bekanntmachte. Nach einem mehrjährigen Briefwechsel erging im Februar 1649 eine Einladung Christinas von Wasa an D., der er aber erst nach einer Wiederholung im September 1649 folgte. Er hatte u. a. Bedenken wegen seines Glaubens. Schweden war ein reformiertes Land, D. aber zumindest missionarisch nicht unbegabt, die spätere Konversion der schwedischen Königin wurde seinem Einfluß zugeschrieben. Seine eigentlichen Feinde in Schweden aber waren die Hofphilologen, die um ihre Stellung zu fürchten begannen, als der französische Philosoph seine königliche Schülerin ohne Umstände fragte, ob sie sich nicht schäme, als erwachsene Frau ihre Zeit mit Bagatellen wie dem Griechisch-Unterricht zuzubringen. Die Hypothese, daß sein Tod nicht die Folge einer Lungenentzündung, sondern einer Intrige und heimlichen Arsenvergiftung war, ist nicht so abwegig, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag.
Die Vorsicht, die D. in seinen Werken gegenüber der Kirche walten ließ, bewahrte ihn auch zu Lebzeiten nicht vollkommen vor den Anschuldigungen eifernder Prediger und sophistischer Jesuiten; doch fand er immer Mittel und Wege, öfters auch durch Unterstützung ihm freundlich gesinnter einflußreicher Persönlichkeiten wie Moritz von Oranien, solche Nachrede zu unterdrücken, bevor sie zu einer ihm wirklich gefährlichen Lautstärke angeschwollen war. Besonders von den Jesuiten fühlte er sich sogar in den Niederlanden dauernd bespitzelt und verfolgt. Trotz der Gefahr, die von den Kirchenmännern jeder Glaubensrichtung für ihn ausgehen konnte, verlor er seinen Humor nicht ganz in diesen Angelegenheiten, obwohl der sich nie (in schriftlicher Form zumindest) in jene Höhen wagte, die einem gebildeten Holländer wie Constantin Huygens die rechte Luft zum Atmen waren: »Die Theologen sind wie Schweine, zieht man eins am Schwanz, so schreien sie alle.« Er schrieb diese Worte 1643 dem von dem Prediger Gisbert Voetius schwer geplagten D., und er war es auch, der durch Alarmierung der Oranierfürsten den Prediger schließlich zum Schweigen brachte. Doch schon 13 Jahre nach D.’ Tod gelang es den Jesuiten, seine Schriften auf den Index Romanus setzen zu lassen, fortan war es bis ins 18. Jahrhundert gefährlich, in Frankreich auch nur seinen Namen zu nennen. Das betraf in besonderem Maße Pierre-Sylvain Regis, der mit seinen Vorlesungen über D. in den 60er und 70er Jahren in verschiedenen französischen Städten den größten Beitrag zur Popularisierung des Cartesianismus leistete. Sein Werk jedoch durfte bis 1690 in Frankreich nicht gedruckt werden, und auch danach nur, weil der Name D. nicht mehr auf der Titelseite zu finden war.
Garber, Daniel: Descartes’ Metapyhsical Physics. Chicago/London 1992. – Bader, Franz: Die Ursprünge der Transzendentalphilosophie bei Descartes, Bd. I: Genese und Systematik der Methodenreflexion. Bonn 1979; Bd. II: Descartes’ Erste Philosophie: Die Systematik des methodischen Zweifels. Bonn 1983. – Williams, Bernard: Descartes. Das Vorhaben der reinen philosophischen Untersuchung. Königstein 1981. – Koyré, Alexandre: Descartes und die Scholastik. Darmstadt 1971 [1923].
Thomas Wichmann
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