Metzler Philosophen-Lexikon: Dewey, John
Geb. 20. 10. 1859 in Burlington/Vermont;
gest. 2. 6. 1952 in New York
Neben William James haben D.s Schriften am meisten zur Verbreitung des Pragmatismus beigetragen. Für D. in spezifischer Weise charakteristisch war, wie er die Philosophie für die Pädagogik fruchtbar machte. Die Kombination von philosophischem Denken und Interesse an sozialen Problemen der Gesellschaft zeichnete sich schon in den letzten Studienjahren an der Universität von Vermont ab. Nach zweijähriger Tätigkeit als Lehrer in Pennsylvania setzte er 1881 sein Studium an der neugegründeten Johns Hopkins Universität in Baltimore fort, wo auch Charles Sanders Peirce, der »Mitbegründer« des Pragmatismus, lehrte. D.s Leistung war es, frühzeitig erkannt zu haben, daß die Verbindung von pragmatischem Wissenschaftsverständnis, die wissenschaftliche Gesetze einzig in ihrer Funktion für die Erschließung und Beherrschung der Naturprozesse zu sehen, und experimentalpsychologischen Aussagen zu Prozessen des Lernens die Grundlage für Fragen der Pädagogik abzugeben vermag. Zur Entwicklung seiner späteren Position trug sein Lehrer an der Universität George Sylvester Morris bei, der ihn mit der Philosophie Hegels vertraut machte. Auch nachdem er sich von dem spekulativen Denken Hegels distanziert hatte, behielt D. doch die daraus gewonnene Sichtweise bei, daß die Wirklichkeit ein organischer Zusammenhang, ein Beziehungsgeflecht ist und sich in einem Prozeß des Werdens, der Entwicklung befindet. In Democracy and Education. An Introduction to the Philosophy of Education (1916; Demokratie und Erziehung) artikuliert sich diese Einsicht in der These, daß Geist, Handeln und Natur nicht als disparate Elemente betrachtet werden dürfen, sondern daß Ursprung und Funktion des menschlichen Geistes in der die Umwelt gestaltenden Tätigkeit zu suchen sind. Das bedingt die Notwendigkeit, Denken und Erfahrung, Individuum und Gemeinschaft, soziale Welt und physische Umwelt in ihrem Zusammenhang zu sehen. Den prozeßhaften Charakter stellt D. als ständige Selbsterneuerung des Lebens dar, in die die Funktion der Erziehung eingebunden ist. Erziehung soll das Individuum dazu befähigen, den Sinn der gegenwärtigen Erfahrung und damit auch den gesellschaftlich anerkannten Sinngehalt zu steigern. Das demokratische Prinzip gehört nach D.s Meinung deshalb wesentlich zur Erziehung, da nur so der wachsenden Vielfalt aller Gesellschaftsmitglieder entsprochen wird.
Diese Sicht des Wirkungszusammenhangs von Mensch, Gesellschaft und Natur verallgemeinert D. zur anthropologischen Aussage über die Natur des Menschen (Human Nature and Conduct. An Introduction to Social Psychology, 1922; Die menschliche Natur. Ihr Wesen und ihr Verhalten). Der Mensch steht in dem Wechselspiel von naturhaften Trieben und gesellschaftlicher Umwelt. Gewohnheiten vereinigen das subjektiv-triebhafte und das soziale Moment des Handelns. Triebe sind für D. ein dynamisches Prinzip, das ständige Umbildungen der Gewohnheiten im Sinne der Anpassung an die sich verändernde Umwelt bewirkt. Während er zunächst klären wollte, wie philosophische Einsichten praxisrelevant, speziell für die pädagogische Arbeit, gemacht werden können, gelingt ihm mit der Verallgemeinerung auf die menschliche Natur der Schritt zu der angestrebten Philosophie, die die prozeßhaften Zusammenhänge von Mensch-Natur-Gesellschaft zum Thema macht. Die gewonnene anthropologische Position bietet ihm die Möglichkeit, auch zu ethischen Fragen Stellung zu beziehen. Wenn menschliches Handeln die zentrale Komponente der Beziehung Mensch-Umwelt bildet, dann verbietet sich jede Ethik, die Ziele außerhalb des Handelns vorgibt. Die Sittlichkeit des Handelns bemißt sich nach D. daran, ob dieser in dem ständigen Prozeß der Veränderung zur Steigerung bzw. Erweiterung des Sinns gegenwärtigen Erlebens beiträgt.
Diese ethische Maxime des Pragmatismus von D. wie auch sein Erziehungsbegriff, der von denselben Grundgedanken getragen ist, kamen der im Zuge der industriellen und technologischen Entwicklung Nordamerikas vorherrschenden Aufbruchsstimmung entgegen. D. brachte aber gerade auch die Kehrseite dieser Entwicklung in den Blick. Nach zehnjähriger Tätigkeit an der Universität Michigan wurde er 1894 an die neugegründete Universität von Chicago als Leiter des Fachbereichs für Philosophie, Psychologie und Pädagogik berufen. Schon in Michigan hatte er – zusammen mit George Herbert Mead – nach Wegen gesucht, Philosophie für die Lebenspraxis des Menschen fruchtbar zu machen. Die zahlreichen Veröffentlichungen zu Problemen der schulischen Erziehung und Psychologie (u. a. Psychology, 1887) geben ein beredtes Zeugnis davon ab. In Chicago bot sich ihm die Möglichkeit zu Aktivitäten im sozialen Bereich. Im sogenannten »Hull House«, einer Organisation, die sich um die Integration bzw. Ausbildung sozialer Randgruppen und um Arbeitslose bemühte, lernte er die sozialen und ökonomischen Probleme kennen, die sich durch zunehmende Urbanisierung, technologische Entwicklung sowie steigende Einwandererzahlen in diesem aufstrebenden Industriezentrum verdichteten.
Sein sozialreformerischer Eifer fand überwiegend im pädagogischen Bereich seinen Niederschlag. Er gründete bald nach seiner Berufung eine Versuchsschule – weit über Chicago hinaus bekannt als »Dewey-School« –, um seine psychologischen und pädagogischen Studien (The School and the Society, 1899; The Child and the Curriculum, 1902) durch konkrete Schul-und Erziehungspraxis zu fundieren. Entsprechend seiner eigenen ethischen Maxime war er ständig darum bemüht, die Ausbildungschancen, die Lern- und Handlungsfähigkeit von Kindern auch aus niederen sozialen Schichten zu verbessern.
Dieses eben nicht nur theoretische Engagement begründete sein nationales Ansehen als Sozialreformer. D.s emphatisches Insistieren auf Lernfähigkeit wird erst hinreichend verständlich, wenn man seine instrumentelle Auffassung des Denkens kennt. In späteren Veröffentlichungen, Vorlesungen wie Experience and Nature (1925; Erfahrung und Natur) und dem systematischen Werk The Theory of Inquiry (1938) macht er seinen experimentellen Begriff der Erfahrung deutlich. Die Erfahrung ist tragendes Fundament und das Mittel dafür, die Natur immer weiter zu erschließen. Deren prozeßhafter Charakter artikuliert sich als Gang der Erforschung: Unser Forschen ist dann erfolgreich, wenn es uns gelingt, eine noch unbestimmte Unweltsituation in den ihr wesentlichen Merkmalen und Bezügen so zu bestimmen, daß sie zu einem Erfahrungszusammenhang umgewandelt wird, also zur Erfahrungserweiterung beiträgt. D. sah seine Theorie als einen alternativen Standpunkt zu philosophischen Ansätzen, die mit dem Anspruch auf letztgültige und absolute Gewißheiten operieren. In dieser Hinsicht stimmte er mit dem von Peirce entwickelten Konzept der Forschergemeinschaft überein. Lernfähigkeit bedeutet dann Bewährung und Erweiterung der Handlungsfähigkeit auch bei neuen, unerwarteten Situationsanforderungen durch die Umwelt. Der positiven Einschätzung des Instrumentalismus in Nordamerika steht die ablehnende Kritik in Deutschland, überwiegend durch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, gegenüber. In deren Augen ist D.s Position getragen vom blinden Fortschrittsoptimismus der technologischen Entwicklung, zudem ohne kritische Distanz zur Gesellschaft.
D. sah neben der Wissenschaft auch die Kunst als Erfahrungsbereich an (Art as Experience, 1934; Kunst als Erfahrung). Wissenschaft wie Kunst erweisen sich als »Vollendungszustand« der Erfahrung, da in ihnen eine Balance zwischen Natur und Erfahrung hergestellt wird. Im Kunstwerk bilden Erleben und Handeln, inneres Empfinden und äußere Darstellung eine Einheit. Ästhetische Erfahrung bringt eine Vielheit von Bedeutungen zu einer organischen Vollendung. Kunst besitzt auch einen kommunikativen Charakter, indem sie als vollendeter Ausdruck eines Gemeinschaftslebens bewußt macht, daß die Menschen in ihren Beziehungen zueinander eine Einheit bilden. In diesem Sinne appelliert D. an eine Wiederherstellung der Kontinuität zwischen Kunst und alltäglichen Lebensprozessen. Der Kunst obliegt die Aufgabe, das unmittelbare Daseinsgefühl und die Bedeutung des Alltäglichen zu erhöhen. Diese Theorie des Ästhetischen hat eine hinreichende Würdigung noch nicht erfahren.
Raters-Mohr, Marie: Intensität und Widerstand. John Deweys »Art as Experience« als philosophisches System, als politischer Appell und als Theorie der Kunst. Bonn 1994. – Suhr, Martin: John Dewey zur Einführung. Hamburg 1994. – Engler, Ulrich: Kritik der Erfahrung. Würzburg 1992. – Martens, Ekkehard (Hg.): Einleitung. In: Texte der Philosophie des Pragmatismus. Stuttgart 1985. – Corell, Werner: Einleitung. In: Dewey, John: Psychologische Grundfragen der Erziehung. München 1974.
Peter Prechtl
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