Metzler Philosophen-Lexikon: Flusser, Vilém
Geb. 12. 5. 1920 in Prag;
gest. 27. 11. 1991 in Prag
Bodenlosigkeit ist die existentielle Grunderfahrung des Kulturkritikers und Medienphilosophen F., der einen Großteil seines Lebens im Exil verbrachte. 1939 verläßt er als deutschstämmiger Jude seine Geburtsstadt Prag und flüchtet vor den Nationalsozialisten über London nach Brasilien. Er beschäftigt sich autodidaktisch mit Philosophie und publiziert als Essayist für die brasilianische Tagespresse und später in portugiesischer, französischer, englischer und deutscher Sprache für verschiedene Kulturzeitschriften. Dadurch findet er einen unkonventionellen Zugang zur akademischen Lehre und wird 1963 in São Paulo zum ordentlichen Professor für Kommunikationsphilosophie ernannt. 1972 kehrt F. dem Brasilien der Militärregierung den Rücken und findet in Südfrankreich eine neue Heimat. Zahlreiche Gastvorlesungen, Vorträge und Publikationen machen ihn in Deutschland in den 80er Jahren als »digitalen Denker« und als originellen wie provokativen »Philosophen der Neuen Medien« bekannt. Seine phänomenologisch-existentialistischen Gegenwartsanalysen, ausgehend von der Interpretation menschlicher Kommunikation, sind interdisziplinäre Grenzgänge, die anregende Diskurse zur Medien- und Kulturtheorie anstoßen.
F. diagnostiziert eine durch die explosionsartige Technisierung und Digitalisierung der Medien ausgelöste globale Krise einhergehend mit einem totalen Umbruch unserer Wahrnehmungsformen und Existenzbedingungen. Zum einen beschreibt er die Effekte der Neuen Medien kulturkritisch und in apokalyptischen Visionen. Mit dem Untergang westlicher Schriftkultur befürchtet er eine Vermassung und Totalisierung der Gesellschaft. Zum anderen begrüßt er emphatisch das neue emportauchende Cyberspace-Universum mit seinen vielseitigen, für F. erst erahnbaren Möglichkeiten. Apokalyptische Prophetie und Apotheose der Medien sowie die positive Utopie einer demokratisch vernetzten, »telematischen« Gesellschaft stehen sich im Werk ambivalent gegenüber.
Der Essay Ins Universum der technischen Bilder (1985) stellt eine systematische Engführung der Postulate F.s dar, auf denen seine phänomenologischen Betrachtungen von Alltagsgegenständen und Gesten sowie seine spekulativen Zukunftsvisionen gründen. F. interpretiert, wie auch in den Schriften zur Kommunikologie (1996, entst. 1973), die Genese menschlicher Kommunikation und Kultur vom unmittelbaren Welterlebnis über die Höhlenmalerei, den Buchdruck bis hin zu den Computernetzen hegelianisch-dialektisch in einem vierbzw. fünfstufigen Stadienmodell. Jedes Stadium belegt er metonymisch mit je einem paradigmatischen Medium, einer Körpergeste und einer geometrischen Kategorie, die als Modelle für Aisthesis und Episteme stehen: Im ersten Stadium lebt der Mensch in Konkretion, in der vierdimensionalen Raumzeit einer ihn »badenden Lebenswelt«. Durch die Hand, als erstes Werkzeug zur Formung des dreidimensionalen Raums trennen sich das Ich und die Welt, Subjekt und Objekt. Durch die Abstraktion von Tiefe und Zeit bildet der Mensch im nächsten Stadium der »Entfremdung« die Welt auf der zweidimensionalen Fläche ab. Nicht mehr die Hand begreift, sondern das Auge nimmt nun die vermittelte, im Bild erklärte Welt auf. Ein mythisch-ganzheitliches, »imaginierendes« Denken und der Glaube an die ewige Wiederkehr des Gleichen sind Folge der simultanen Eindrücklichkeit des Bildes. Die Bedeutungsfülle, die das Bild hervorbringt, geht jedoch um 1500 v. Chr. in Defizienz über. Der Mensch entfremdet sich den phantastisch gewordenen Bildern, die die Welt zur Vorstellung bringen sollten. Durch das »Aufrollen der Fläche« in explizierende Linien, das Ordnen von Begriffen in Zeilen, vermittelt er sodann zwischen sich und den Bildern. Vorstellungen werden in Begriffe, Szenen in Prozesse umcodiert. Im Stadium der Texte ist die Welt wieder sinnvoll im Sinne von erklärbar und berechenbar. Der alphanumerische Code evoziert ein abstrahierendes, hierarchisierendes und historisierendes Denken. Als Folge entstehen Wissenschaft und mit ihr Ideologie sowie Technik und die moderne Industriegesellschaft.
In der Gegenwart leiten die technischen Bilder wie Fotografien, Röntgenbilder, Kinofilme und Werbeplakate das Ende der Schriftkultur ein, und zwar in dem Moment, in dem Texte und Begriffe zu selbstbezüglichen Leerstellen geworden sind, die uns die Welt nicht mehr sinnvoll erklären können. Die Texte werden nun durch Spezialisten und mit Hilfe der Medientechnologien, durch sogenannte »Apparat-Operator-Komplexe«, technisch verbildlicht. Trotz oberflächlicher Ähnlichkeit ist der scheinbar flächige, aber tatsächlich nulldimensionale »technoimaginäre« Code der Fotos und Filme grundverschieden vom traditionellen Bildercode, insofern er nicht die Wirklichkeit, sondern Begriffe repräsentiert und technisch alternative »Wirklichkeiten« konstruiert.
Indem F. die kulturellen Leitmedien Bildˆ, Textˆ und Technobildˆ als entscheidende Katalysatoren dreier historischer Paradigmenwechsel beschreibt, nimmt er im Sinne der McLuhanschen Medium-Message-These an, daß Medienstrukturen Wahrnehmung, Denken und Handeln und damit Kultur programmieren. Der gegenwärtigen Programmierung der Menschen zu Funktionären im Dienste eines totalitären Medienapparats will F. entgegenwirken, indem er sich die Frage nach menschlicher Freiheit in der Informations- und Mediengesellschaft neu stellt und sich für einen Dialog um zukünftige Lebensstandards engagiert. Im »komputierenden Tasten«, im freien Spiel mit virtuellen Möglichkeiten und damit im Schöpfertum eines jeden sich selbst projektierenden Individuums und in seiner dialogischen Vernetzung mit dem »kosmischen Gehirn« sieht F. den Sinn und Gehalt des »emportauchenden Universums« der technischen Bilder.
F. ist bei aller Problematik des Begriffs ein Denker der Postmoderne, der schreibend einem spielerischen Eklektizismus frönt. Er wechselt beliebig die Diskurse, macht das Überkreuzen von Methoden zum Programm und kombiniert verschiedene Erkenntnismodelle wie Assoziationslogik oder Etymologie. Für die Zukunft prognostiziert F. eine Auflösung des Subjekts, die Unbestimmbarkeit von Wirklichkeit und Schein, die Gültigkeit kybernetischer und systemtheoretischer Denkmodelle sowie die Etablierung der Ästhetik als bestimmenden Paradigmas. Er konstatiert das Ende von Geschichte und Fortschritt, wobei er sich jedoch nicht in aller Konsequenz von den großen Meta-Erzählungen im Sinne Lyotards verabschiedet, insofern seine Texte zusammengenommen ein geschichtsphilosophisch-teleologisches Denkmodell illustrieren (Neswald 1998).
Andererseits ist F. durch das Buch sozialisiert und noch ganz in der alten Zeit verwurzelt. Er sieht dem prognostizierten Untergang der Geschichte und der alten Epoche angesichts dessen, daß Sprache ihre Dominanz an den digitalen Code verliert, immer wieder auch pessimistisch entgegen. Er befürchtet damit ein Ende der Dichtung, der historisch-teleologischen Ethik und des kritischen Bewußtseins. Schreiben ist aber sein Metier, und seine Liebe zur Sprache sowie sein brillanter erzählerischer Umgang mit ihr kennzeichnen ihn als Kind der »Gutenberg-Galaxis« (McLuhan). Zeitlebens hat er seine Schreibmaschine nicht gegen einen Computer eintauschen wollen.
Neswald, Elizabeth: Medien-Theologie. Das Werk Vilém Flussers. Köln 1998.
Sabine Neumann
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