Metzler Philosophen-Lexikon: Ficino, Marsilio
Geb. 19. 10. 1433 in Figline/Valdarno;
gest. 1. 10. 1499 in Careggi
Über seine Zeit sagte F., dessen Name mit dem der »Platonischen Akademie« in Florenz und dem seiner Gönner Cosimo »Il Vecchio« und Lorenzo »Il Magnifico« von Medici untrennbar verbunden ist, daß sie »als ein goldenes Zeitalter die fast schon erloschenen freien Künste, Weisheit und Wissenschaft, zum Licht zurückgeführt, Florenz zum Zentrum gemacht und dort sogar und vor allem die platonische Lehre aus dem Dunkel ins Licht geführt habe«. Florenz galt zu jener Zeit als das »Athen Italiens«; es erlebte im Zeichen von Humanismus und Renaissance eine einzigartige kulturelle, wissenschaftliche, philosophische und architektonische Blüte. Der Medici-Fürst hatte sogar 1438 das Konzil von Ferrara nach Florenz geholt, das angesichts der Türkengefahr den Osten und Westen wieder zusammengeführt und so die größten byzantinischen Gelehrten und Philosophen nach Italien gebracht hatte. Der direkte Kontakt mit den Erben der griechischen Zivilisation hatte eine Welle der Begeisterung entfacht; der Platoniker Georgios Gemisthos Plethon hinterließ einen solch nachhaltigen Eindruck, daß Cosimo den Gedanken faßte, die antike Tradition der platonischen Akademien im Florenz seiner Zeit wiederaufleben zu lassen. Zwar hatten zuvor die sog. karolingische Renaissance und auch die des 12. Jahrhunderts an die Antike angeknüpft, doch unter anderen Vorzeichen: Das christliche Lehrgebäude sollte mittels der antiken Philosophie neu begründet werden, in deren Zentrum zudem Aristoteles und weniger Platon stand. F. fiel nun, wie Angelo Poliziano es formuliert, die ehrenvolle Rolle zu, als »Orpheus« die wahre Euridike, nämlich die platonische Philosophie, aus der Unterwelt herausgeführt zu haben.
Seine Ausbildung erhält F. in Florenz, Pisa und Bologna, wo er die klassischen Sprachen, Grammatik, Rhetorik, aber auch – auf Betreiben seines Vaters, eines Arztes – Medizin studiert. Trotz gewisser Unsicherheiten in seiner Biographie gilt es als erwiesen, daß er Cosimo Medici schon in seiner Jugend kennenlernt, als er den Vater bei einer Visite an den Hof begleitet. Es heißt, er habe mit dem Fürsten philosophische Diskussionen geführt und ihm sein erstes Werk, die Institutiones Platonicae (1456), gewidmet, das jedoch dort keinen Anklang fand. F. bleibt von 1457 bis 1462 in Bologna, wo er nach seinem Medizinstudium als Arzt seinen Lebensunterhalt verdient, daneben jedoch Platon studiert. In diesem sieht er mehr als nur eine singuläre Erscheinung; der »göttliche Platon« ist für ihn Vertreter und Vollender einer uralten theologischen Tradition, deren Bogen er – wie Plethon – von Moses über Zoroaster, Hermes Trismegistos bis zu Orpheus und Pythagoras spannt. Christus, so F., offenbarte, was Platon und Plotin geschaut haben. Plotin erkennt er als verbindlichen Platon-Ausleger an und wertet damit den Neuplatonismus auf. Philosophie ist für ihn stets »pia philosophia« und identisch mit der »doctrina pietas«, der wissenden Religion. Mit seinen Kommentaren und Übersetzungen strebt F. danach, in der platonischen Philosophie eine alte göttliche Wahrheit zu ihrer Bestimmung zurückzuführen. Der Ort, an dem dies geschehen sollte, war die später so benannte »Platonische Akademie«, die ihren Sitz in einer Villa unweit von Florenz, in Careggi, hatte. Cosimo übereignet sie F. 1462, ebenso ein Haus in Florenz, von dem aus er ohne Mühe die berühmte Bibliothek des Mediceers besuchen kann. Die Akademie – ein Forum, das zum typischen Instrument der Humanisten wird – möchte vor allem Diskussion und Austausch pflegen und weniger die institutionalisierte Lehre, die bis ins 16. Jahrhundert den sog. »Studios« obliegt. 1464 stirbt Cosimo, doch übernehmen zuerst Piero, dann Lorenzo die Rolle als Gönner. Überzeugt von der Gültigkeit seines christlich-philosophischen Ideals, wird F. 1473 – auch auf Wunsch Lorenzos hin – Priester. Nach den Unruhen als Folge einer Verschwörung der Pazzi 1479 wird er aus der Ruhe seines kontemplativen Lebens gerissen und in die Auseinandersetzungen der politischen Fronten (u. a. um Savonarola, den er als Antichrist verurteilt) gezogen.
In zwei Bereichen hat F. Berühmtheit und einen wichtigen Platz in der europäischen Kulturgeschichte erworben: als Übersetzer und Kommentator. Von 1462 bis 1484 verfaßt er, beginnend mit den Dialogen und dem Kratylos, die erste vollständige Platon-Übersetzung in lateinischer Sprache, die bis ins 18. Jahrhundert vielen Ausgaben zugrundeliegt. Zum Korpus seiner Übersetzungen zählen ebenfalls die Schriften des Plotin, des Hermes Trismegistos, Dionysios Areopagita und eine italienische Version von Dantes De Monarchia. Der andere, nicht minder bedeutende Zweig seiner Aktivitäten ist der des Kommentators, in deren Rahmen er vor allem Platon und Plotin auslegt. In seinem Hauptwerk, der Theologia Platonica (1482), und zuvor bereits in De christiana religione (1475?) stellt F. seine Grundgedanken dar. Er betont die Einheit von Christentum, Platonismus und hermetischer Tradition; dabei findet er zu einer frühen Formulierung der Idee religiöser Toleranz, die auf seine kosmologische Gesamtkonzeption und die Vorstellung von der vernünftigen Seele zurückgeht. Glauben und Intellektualität werden nicht als Gegensätze empfunden. Eine wichtige Rolle in seinem Denken spielt die Annahme eines hierarchischen Weltenbaus: Der Mensch nimmt die Mittelstellung zwischen Gott, den Engeln und den Mineralien, der »materia prima«, ein. Seine Konzeption der Weltseele (vgl. Platons Timaios) als dynamischer Einheit des Universums sowie der Unsterblichkeit der Seele ist von zentraler Bedeutung. Im Kommentar zu Platons Symposion erläutert er die Theorie der platonischen Liebe, die Menschenliebe als Vorbereitung der Gottesliebe und beide als wechselseitig sieht. Wesentlich ist dabei der Aufstieg der Seele zu Gott durch die »vita contemplativa«, welche durch Tugend, Gerechtigkeit und Kontemplation, durch Weisheit und Loslösung von der Körperlichkeit erreicht wird. F. steht somit für die christliche Strömung der Renaissance; durch ihn erfährt der Neuplatonismus eine grundlegende Aufwertung, die sich u. a. in einer anhaltenden Rezeption durch die europäische Lyrik niederschlägt.
Kristeller, Paul Oskar: Marsilio Ficino and His Work after Five Hundred Years. Florenz 1987. – Kristeller, Paul Oskar: Die Philosophie des Marsilio Ficino. Frankfurt am Main 1972 (Übersetzung d. engl. Ausgabe 1943). – Marcel, Raymond: Marsile Ficino (1433–1499). Paris 1958.
Elisabeth Arend
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