Metzler Philosophen-Lexikon: Fourier, Charles
Geb. 7. 4. 1772 in Besançon;
gest. 10. 10. 1837 in Paris
Seine Idee war, Sexualität und Arbeit miteinander zu versöhnen, jenseits von jeder Art von Gewalt und Zwang und in einer Umgebung äußersten Luxus. Er träumte von einem Perpetuum mobile aus Wirtschaft und Eros. Damit blies er, ohne daß er es ahnte, zum Sturm auf die letzte Bastion des Christentums. Die anderen wurden zwar erst später angegriffen und geschliffen durch Darwinismus, Marxismus, Freudianismus und die Eroberung des Weltraums, F. aber ging gegen ein Dogma vor, das sich als härter erwies als alle andern, und so ist sein Kampf noch nicht ausgestanden. Denn Puritanismus und Antihedonismus halten noch heute auch im atheistischen Sozialismus die Trennung von Sinnlichkeit und Ökonomie aufrecht. Vom freien Markt hielt F. nichts. Handel und Ehe haßte er wie die Pest. Seine Liebe galt den Pflanzen. Die Zimmer, die er zeitlebens zur Untermiete bewohnte, waren bis auf enge Durchgänge von der Tür zum Fenster und zum Bett mit Blumentöpfen vollgestellt. So fand ihn schließlich eine seiner Wirtinnen im Gehrock, kniend zwischen den selbstgezüchteten Pflanzen, tot auf. Seine Freizeit verbrachte er auf dem Blumenmarkt. Vier Stunden am Tag arbeitete er an seinen Theorien. Jeden Mittag um zwölf eilte er nach Hause, um den Mann zu erwarten, der kommen und ihm das Geld zur Verfügung stellen würde, mit dem er seine Ideen in die Wirklichkeit umsetzen könnte. Er lachte niemals. Er haßte Nudeln und Kröten. Sein Motto war: »J’aime à être seul.« Er liebte Orgien. F. hatte viel Pech. Er wird als Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers in Besançon geboren. Der Vater stirbt, als er elf Jahre alt ist. Die Mutter ist geizig und bigott. Er möchte in den Staatsdienst, aber man weist ihn ab wegen seiner Herkunft. Er wird Handlungsreisender und treibt sich, während in Paris die Revolution auf Hochtouren läuft, auf den Fernstraßen Westeuropas herum. Der Vater hinterläßt ihm ein Vermögen. Davon steckt er die Hälfte in Kolonialwaren. Bei der Belagerung Lyons durch die Truppen des Konvents werden sie beschlagnahmt. F. wird verhaftet, kommt durch Fürsprache eines jakobinischen Vetters frei, muß aber mit dem 8. Kürassierregiment an die Rheinfront. Inzwischen hat sein Onkel den anderen Teil seines Vermögens verspekuliert. F. geht als Kaufmannsgehilfe nach Marseille, schlägt sich in Lyon als Makler ohne Lizenz durch, als Bürovorsteher der statistischen Abteilung der Lyoner Präfektur, wieder als Makler, als Kassierer in einem Handelshaus, bei einer amerikanischen Handelsfirma in Paris. Überall scheitert er. Nach dem Tod seiner Mutter erhält er eine kleine Leibrente, von der er nicht leben und nicht sterben kann. Er versucht, sich aufs Land zurückzuziehen, nach Talissieu, wo seine Familie ein wenig Boden besitzt. Die vierjährige Zurückgezogenheit zwischen 1816 und 1820, in der er sein erotisches Hauptwerk Le nouveau monde amoureux (Aus der neuen Liebeswelt) schreibt, endet mit einem Debakel. Er verwickelt sich in obskure Liebesbeziehungen zu seinen Nichten. Das Ganze fliegt auf, und er verschwindet.
Die Welt seiner Phantasie sieht ganz anders aus als die seiner Untermieterexistenz. Hier blüht alles auf in Liebe und Luxus. Seine Werke werden kaum zur Kenntnis genommen und wenn, wüst angefeindet oder von seinen Schülern später entstellt und zensiert verbreitet. Man verschwieg die Erotik und versuchte, die Ökonomie allein zu retten. Aber seine gesamte Theorie steht auf diesen beiden Beinen. Seine Idee von der Ökonomie kann ohne Erotik nicht funktionieren und umgekehrt. So scheitern alle Versuche der Fourieristen, ökonomische Genossenschaften nach den Ideen des Meisters zu gründen. Niemand nimmt seine Hauptwerke ernsthaft zur Kenntnis. Die, die darauf gestoßen sind, hielten ihn für einen Irren. Auf der Théorie des quatre mouvements et des destinées générales (1808; Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen), der Théorie de l Unité universelle (1822) und den Abhandlungen Le nouveau monde industriel et sociétaire (1829) und La fausse industrie (1835) blieben die Verleger sitzen. Sein erotisches Hauptwerk Le nouveau monde amoureux ist zu Lebzeiten nicht erschienen. Das Manuskript wurde erst 1967 von Simone Debout herausgegeben. Eine Gesamtausgabe seines Werkes, in der auch dieses Manuskript zum ersten Mal im Druck erschien, wurde erst ab 1966 unternommen.
In seinen Texten wirft F. alle Moralbegriffe seiner Zeit über den Haufen. Im Mittelpunkt aller seiner Überlegungen steht die Liebe. Seine utopische Welt besteht aus landwirtschaftlichen und industriellen Produktionsgenossenschaften, die einzig und allein durch die zwischenmenschlichen Leidenschaften in Gang gehalten werden. F. entdeckt die Lust als die Energie, die, wenn man sie richtig nutzt, wie ein Perpetuum mobile, alle gesellschaftliche Bewegung auf immer reibungslos und problemlos in Gang halten kann. Für ihn ist die sexuelle Energie ein newtonsches Grundgesetz des gesellschaftlichen Universums. Wer diese Gesetze kennt und anwendet, wird eine sexuelle und ökonomische Revolution ohnegleichen entfachen und den Menschen in den Zustand der Vollkommenheit versetzen. Die Bestimmung des Menschen ist die Befriedigung aller seiner Triebe, nicht deren Unterdrückung. Das Ziel der menschlichen Gesellschaft ist Luxus und Triebbefriedigung für alle. Arbeit ist notwendig, aber sie darf keine Last, sondern muß Lust sein. Jeder soll nur das tun, wozu er Lust hat, und das nicht zu lange, nicht länger als zwei Stunden höchstens. Es bilden sich also Gruppen von Gleichgesinnten, die zu der einen oder anderen Tätigkeit Lust haben. Apfelzüchter, Birnenzüchter. So werden alle gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten abgedeckt. Wer zwei Stunden Äpfel gezüchtet hat, kann danach zwei Stunden Rechnungen schreiben, wenn er Spaß daran hat. Wichtig ist der immerwährende Wechsel der Beschäftigung und der beschäftigten Personen. Das geht genauso in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Wechsel erhält die Lust. Die Lust garantiert den Erfolg, und der Erfolg bringt Geld. Geld wiederum bringt Luxus und vermehrt die Lust. Das alles findet in riesigen genossenschaftlichen Vereinigungen statt, die nach Ausmaß und Aussehen dem Schloß von Versailles ähneln. F. nennt diese Einheiten »Phalanstères«.
Die Phalanx ist das Zaubermittel, mit dem die Menschheit in den Zustand der Vollkommenheit katapultiert wird. Hier beginnt F., sein kosmogenetisches System zu entwickeln und seine Sozialtheorien mit Märchenglanz zu überziehen. F.s Denken ist eines der besten Beispiele für die Herkunft der Sozialtheorien aus dem Traum vom Schlaraffenland. Im System des Glücks werden die Menschen durchschnittlich 144 Jahre alt werden, das Klima wird sich völlig ändern. Mit der achten Periode der Harmonie beginnt die Aurora des Glücks. Die Erde bekommt eine Nordpolkrone, die Wärme und Licht ausstrahlt. Es herrscht überall ewiger Frühling, das Meer nimmt einen limonadenartigen Geschmack an. Die Raubtiere verschwinden, geboren wird der Anti-Hai, der Anti-Wal, der Anti-Löwe. Der ganze Erdball wird mit Phalanstères bedeckt sein, und Konstantinopel wird Hauptstadt der Welt. Aber einen durchorganisierten Weltstaat wird es nicht geben, denn jedes Phalanstère verwaltet sich selbst. Die Menschheit wächst auf vier Milliarden, nimmt dann aber durch die opulente und luxuriöse Lebensweise allmählich ab.
Nach der Erfindung des Dampfschiffes und der Eisenbahn nahm F. allerdings von seinen phantastischen Spekulationen Abschied, denn Anti-Hai und Anti-Löwe als Zugtiere waren nun nicht mehr nötig. Die Grundkraft aller Bewegung in der Gesellschaft aber wurde für ihn nicht der Dampf, es blieb die Lust. Im Grunde geht F. von der gleichen Annahme aus wie Thomas Hobbes. Der Mensch wird regiert von Lust und Unlust. Er tut, was Lust bereitet und meidet, was Unlust bereitet. Hobbes zieht daraus den Schluß, daß eine menschliche Gesellschaft nur funktionieren kann, wenn sie sich auf eine Staatsordnung einigt, die mit äußerster Gewalt ihre Mitglieder zwingt, auch das zu tun, was keinen Lustgewinn bringt. Der einzelne muß sich dem Gewaltmonopol des Staates unterordnen. F. geht den umgekehrten Weg. Er paßt die Form der Gesellschaft dem Lustprinzip an. So wird nicht die Staatsgewalt Grundlage der gesellschaftlichen Maschinerie, Gewalt und Triebverdrängung Grundlage materieller und geistiger Produktion, sondern die Lust. F. steht in der Mitte zwischen Marx und Sade. Seine Kombination von genossenschaftlicher Ökonomie und Orgie hätte die Dandies und die sozialistischen Puritaner gleichermaßen in Rage gebracht, wenn sie sein Werk gelesen hätten. Aber F. geht wie Sade weit über Marx und auch Freud hinaus. Hinter den wahnsinnigen Phantasien tritt eine Gesellschaft hervor, die in ihren soziopsychischen Grundlagen das völlige Gegenteil ist von allen historischen und utopischen Gesellschaften, denn sie baut nicht auf Staatsgewalt auf und nicht auf Triebverdrängung. Das aber haben alle erdachten idealen und real gelebten Gesellschaften bisher gemeinsam, und niemand außer F. und Sade hat bis in unser Jahrhundert diese Grundlagen angezweifelt. In dieser Totalität des Gegenbildes liegt die Innovationskraft F. s für die Zukunft, jenseits aller phantastischen Einzelheiten.
Tacussel, Patrick: Charles Fourier. Le jeu des passions: Actualité d’une pensée utopique. Paris 2000. – Ucciani, Louis: Charles Fourier ou la peur de la raison. Paris 2000. – Debout-Oleszkiewicz, Simone: L’utopie de Charles Fourier. Dijon 1998. – Beecher, Jonathan F.: Charles Fourier. The Visionary and His World. Berkeley 1986. – Spencer, Michael C.: Charles Fourier. Boston 1981. – Debout, Simone: L’utopie de Charles Fourier. Paris 1979. – Behrens, Günter: Die soziale Utopie des Charles Fourier. Köln 1977. (Diss. 1976). – Desroche, Henri: La société festive du fouriérisme écrit aux fouriérismes pratiques. Paris 1975. – Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola. Frankfurt am Main 1974.
Michael Winter
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