Metzler Philosophen-Lexikon: Guardini, Romano
Geb. 17. 2. 1885 in Verona;
gest. 1. 10. 1968 in München
Der katholische Theologe, Religionsphilosoph und Kulturkritiker G. wuchs in Mainz auf, studierte Chemie in Tübingen (1903/04), Nationalökonomie in München (1904/05) und Berlin (1905/06), schließlich katholische Theologie in Freiburg, Tübingen und Mainz (1906–1910). 1910 zum Priester geweiht, promovierte G. 1915 über Bonaventura in Freiburg bei Engelbert Krebs, habilitierte sich 1922 gleichfalls über Bonaventura in Bonn bei Gerhard Esser; nach einjähriger Privatdozentur für Dogmatik in Bonn folgte 1923 die Berufung auf den Lehrstuhl ad personam für »Kath. Weltanschauung und Religionsphilosophie« in Berlin. 1939 erhielt G. Lehrverbot durch die Nationalsozialisten und zog 1943 bis 1945 nach Mooshausen/Allgäu, von wo er 1945 auf den Lehrstuhl für »Christl. Weltanschauung und Religionsphilosophie« nach Tübingen berufen wurde (den Heidegger-Lehrstuhl in Freiburg hatte er abgelehnt), bis er schließlich auf den gleichnamigen Lehrstuhl nach München wechselte (1948–1962). 1948 bis 1962 las G. in München mit anhaltendem akademischen Erfolg (stets im überfüllten Auditorium maximum) über christliche Anthropologie und Ethik, in Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Existentialismus und der Psychologie (Ethik, 2 Bde., 1994). Dabei band er den Begriff des rechten Handelns bewußt an die Konzeption des objektiv und kriterial Guten, im Unterschied zu subjektiven Gesinnungsethiken. 1965 lehnte G. die Kardinalswürde durch Paul VI. ab. Der gebürtige Italiener, der sich 1911 als Deutscher naturalisieren ließ, erarbeitete in zahlreichen, höchst einflußreichen Werken und Vorträgen verschiedene Problemkreise, die er aus einem Ganzen der Welt-Anschauung miteinander verknüpfte: Liturgie (Vom Geist der Liturgie, 1918), Ekklesiologie (Vom Sinn der Kirche, 1923), Existenzdeutungen (Christliches Bewußtsein, 1934, u.a.), Christologie (Der Herr, 1937; Das Wesen des Christentums, 1938), Kulturkritik (Das Ende der Neuzeit, 1950; Die Macht, 1951), Pädagogik (Grundlegung der Bildungslehre, 1953), Anthropologie (Welt und Person, 1939), Ethik (Ethik, postum 1993) und die dazu reflexe Gottesfrage (Vom lebendigen Gott, 1930; Die Existenz des Christen, postum 1976).
Grundlegend für G.s philosophische Methodologie werden eine eidetische Phänomenologie als »Welt-Anschauung« auf den Spuren Schelers (Vom Wesen katholischer Weltanschauung, 1953) und ein Denken in bleibenden polaren Gegensätzen (Der Gegensatz, 1925) in Abhebung von idealistischen und neo-gnostischen Synthesen. »Anschauung« der Welt durch den Glauben und des Glaubens durch die Welt vollzog G. in umfangreichen »Daseinsdeutungen« mit Hilfe östlicher und westlicher Denker von der Antike bis zur Gegenwart. Über die bloße historisch-kritische Rezeption hinaus unterzog G. literarische und theoretische Werke der Wahrheitsfrage am Kriterium der Offenbarung, beleuchtete aber auch umgekehrt die Offenbarung durch kultur-kanonische Texte, auch achristlicher Provenienz.
Zu den Quellen von G.s theologischem Denken zählt nicht die zeitgleiche Neuscholastik bzw. die aristotelisch-thomasische Linie, sondern – über Bonaventura – die platonisch-johanneische Linie von Augustinus bis zu Newman, gekennzeichnet zugleich durch eine Auseinandersetzung mit dem Vitalismus Nietzsches sowie mit religionskritischen und religionsphilosophischen Konzepten (u.a. der Dialogphilosophie Bubers). Die Unterscheidung von (psychebedingter) Religion und Glauben im Sinne Kierkegaards (Religion und Offenbarung, 1958) führt bei G. zur Ausarbeitung einer Anthropologie der Person (Freiheit, Gnade, Schicksal, 1948). Aufklärerisch-kantische Autonomie sowie Existentialismus und Psychologie im Sinne neuzeitlicher Selbstsetzung werden konfrontiert mit Geschöpflichkeit: Erst im Anerkennen der Endlichkeit erweise sich die Grenze der Autonomie, und zwar sowohl als Nähe der endlichen Existenz zum Nichts sowie als Nähe zum (geoffenbarten) göttlichen Ursprung. Offenbarung entlaste damit von der Überanstrengung naiver neuzeitlicher Selbstbehauptung und führe zu jenem personalem Gehorsam, der zeitgleich als »Sachgehorsam« Kennzeichen der Nachneuzeit werde. G. nimmt die Offenbarung absolut, bis zur Revolte reizend: als Ärgernis für die bloße Vernunft, an welchem Ärgernis sich entscheide, ob die natürliche Vernunft christlich werde.
Pädagogische Erfahrungen (1915–1920 mit der »Juventus« in Mainz und 1920–1939 mit der kath. Jugendbewegung »Quickborn« auf Burg Rothenfels am Main) kulminieren in grundlegenden pädagogischen Hinführungen von Fremderziehung zur Selbstbildung, einschließlich der ganzheitlichen Bildung von Leiblichkeit, Sinnlichkeit und geistigem Habitus (Briefe über Selbstbildung, 1927; Wille und Wahrheit, 1933; Die Sinne und die religiöse Erkenntnis, 1958). Die Polarität von Wahrnehmung des Gegebenen (»sehen, was ist«) und Freisein durch Selbstwerden führte zu der Konzeption der Annahme seiner selbst (1960) als Grundaufgabe personaler Pädagogik.
Die Nachkriegsschriften vertiefen G.s schon früh geäußerte Kulturkritik; die Briefe vom Comer See (1927) kennzeichnen bereits den neuzeitlichen »Herrschaftswillen« in seiner technisch-destruktiven Umsetzung, fordern aber zugleich den vertieften Willen zum verantwortlichen technischen Handeln. Die Phänomene der Masse und der Macht werden bis zu den späten Reden Der unvollständige Mensch und die Macht (1955) und Die Kultur als Werk und Gefährdung (1957) als Kriterien eines Endes der Neuzeit (1950) vorgestellt, gegenüber den drei nachneuzeitlichen Haltungen der Wahrheit, der Tapferkeit und des personalen Vertrauens im Angesicht einer zunehmend a-theistischen Kultur.
G.s Auslegung der Hitler-Erfahrung (Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik, 1946) gehört zu den ersten Ansätzen einer Deutung moderner Totalitarismen mit religiösen Kategorien. Wertbegründung aus der bloßen »humanen Natur« ist für G. aufgrund solcher geschichtlichen Erfahrung hinfällig; die gedankliche Sorgfalt einer Begründung von Sollen auf Sein ist hingegen tiefer und theologisch anzusetzen. In diesem kulturkritischen Schriftenkomplex sieht G. die Bedrohung des Personalen zugleich als Chance: in einer neuen Entschiedenheit gegen das durchbrechende Kollektiv. Alternativ zur möglichen totalitären Rebarbarisierung hat der Einzelne zur Person zu werden: als Anwort auf Anruf von einem anderen her; das Sichverstehen von der Andersheit Gottes aus werde notwendig zur Signatur gelingender nachneuzeitlicher Anthropologie (Den Menschen versteht nur, wer von Gott weiß, 1952).
G.s Theologie ist wesentlich aus seiner »Christologie« heraus entwickelt: aus dem personalen, konkret-geschichtlichen Antlitz Jesu. Dogmatik ist Hermeneutik dieses unbegreiflichen Daseins in seiner Verbindung von Zeitlichkeit und Ewigkeit. G. unterläuft Entmythologisierungen sowie historisch-kritische Reduktionen der Gestalt Jesu durch die Betonung einer Geschichtlichkeit als selbstgewählter Daseinsform des Göttlichen (Heilige Schrift und Glaubenswissenschaft, 1928; Der Herr, 1937). Entsprechend wird die konkrete Präsenz Jesu in der Kirche und ihren Sakramenten nicht statisch, sondern als Präsenz im unaufhörlich Werdenden, als lebendig sich wandelnde Entwicklung gedacht. Umgekehrt vermeidet G. den möglichen Vorwurf des Modernismus durch Festlegung auf Kirche und Offenbarung als den bleibenden und verbindlichen geschichtlichen Trägern der Theologie.
Die außerordentlich breite Rezeption G.s bis Ende der 1960er bei Akademikern (van der Rohe, Hans und Sophie Scholl, Schmaus, Spranger, Bollnow, Dirks, Pieper, Rahner, Balthasar) wie bei Nicht-Akademikern wurde bis 1985 durch ein zunehmendes Vergessen abgelöst. Die universitäre Rezeption in Deutschland durch Dissertationen und Habilitationen, sowie in Italien seit 1990 aufgrund der italienischen Gesamtwerk-Ausgabe (Mondadori) ist nachhaltig im Wachsen, insbesondere im Blick auf den Person-, Pädagogik- und Kulturbegriff. Der »R.-G.-Preis« der Kath. Akademie in Bayern (seit 1970), der »Freundeskreis R. G.« auf Burg Rothenfels (seit 1985), die »G.-Stiftung« in Berlin (seit 1988) und der »Freundeskreis Mooshausen« (seit 1995) sind öffentlichkeitswirksam; seit 2000 wird die Einrichtung eines G.-Kollegs an der Humboldt-Universität Berlin erwogen.
Kurth, B.: Das ethische Denken Romano Guardinis. Paderborn u.a. 1998. – Gerl-Falkovitz, H.-B.: Romano Guardini (1885–1968). Leben und Werk. Mainz 41995. – Haubenthaler, R.: Askese und Freiheit bei Romano Guardini. Paderborn u. a. 1995. – Knoll, A.: Glaube und Kultur bei Romano Guardini. Paderborn 1994. – Gerl-Falkovitz, H.-B./Prégadier, E./Wolf, A. (Hg.): Begegnungen in Mooshausen. Weißenhorn 21991. – Schreijäck, Th.: Bildung als Inexistenz. Freiburg i.Br. 1989. – Schilson, A.: Perspektiven theologischer Erneuerung. Düsseldorf 1986. – Biser, E.: Interpretation und Veränderung. Werk und Wirkung Romano Guardinis. Paderborn 1979.
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
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