Metzler Philosophen-Lexikon: Kristeva, Julia
Geb. 1941 in Sliven (Bulgarien)
»Aus der Sprache eine Arbeit machen – poiein – in der Materialität dessen arbeiten, was für die Gesellschaft ein Mittel des Kontakts und des Verstehens ist.« Schon in der frühen Aufsatzsammlung Sèméiotikè. Recherches pour une sémanalyse (1969) benennt K. ihr sprachphilosophisches Hauptinteresse. K. studierte in Sofia Romanistik. Im Rahmen eines französisch-bulgarischen Austauschprogramms kam sie 1965 nach Paris und setzte dort ihre Studien bei Roland Barthes, Jacques Lacan und Lucien Goldmann fort. Bereits in den ersten Publikationen, die ihre Zugehörigkeit zu der sich neu formierenden Disziplin der Semiologie zeigen, sind ihr wichtige begriffliche Prägungen gelungen. So hat etwa der Begriff der Intertextualität die strukturalistische Literaturwissenschaft der 1970er Jahre stark beeinflußt. Mit der Betrachtung von Texten geht es K. auch um einen neuen Blick auf Subjektivität. Sie trifft eine erste Unterscheidung verschiedener Textebenen. Jenseits des gesprochenen oder geschriebenen Texts (Phänotext) gibt es unausgesprochene Textanteile, die für die Entstehung von Texten unerläßlich sind (Genotext).
Eine neue Phase ihrer Arbeiten wird eingeleitet durch die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, die ihre Werke bis in die Gegenwart prägt. Sie orientiert sich nicht nur an deren Lacanscher Richtung, sondern auch an den Werken Sigmund Freuds und Melanie Kleins. Ihre wichtigste eigene Arbeit dieser Zeit und zugleich sprachphilosophisches Hauptwerk ist La révolution du langage poétique. L avantgarde à la fin du XIXe siècle: Mallarmé et Lautréamont (1974; Die Revolution der poetischen Sprache, 1978, deutsche Teilübersetzung). Hier entwickelt K. ihre eigene Sprachphilosophie. Sie betrachtet Sprache als einen Prozeß der Entstehung von Bedeutung (»procès de la signifiance«). In bisherigen Sprachtheorien wird die Möglichkeit von Sinn vorausgesetzt und somit ein bestimmter Moment der Sprachschöpfung verfehlt. Das Ich, das dem Bedeutungsprozeß entspricht, ist ein ständig in Bewegung befindliches Subjekt-im-Prozeß. K. wendet sich dem Spracherwerb und dessen Tiefendimension zu. Dies führt sie zu ihrer wichtigsten sprachphilosophischen Annahme, der semiotischen Modalität oder dem Semiotischen, womit die unausgesprochenen Vorarbeiten im Gegensatz zur manifesten sprachlichgesellschaftlichen Artikulation, dem Symbolischen, bezeichnet werden. Das Semiotische entsteht in großer Nähe zur primären Bezugsperson aus ersten Prägungen, die die Rhythmen des Tagesablaufs dem Säugling und Kleinkind geben. Es handelt sich jedoch nicht nur um eine Phase, die mit dem Spracherwerb ein für allemal beendet wäre. Das Semiotische wird bei jeder Form der Sprachschöpfung aktiviert und sorgt dafür, daß Sprache lebendig und veränderlich bleibt.
Im Anschluß an Hegels Begriff der Negativität und an die psychoanalytische Konzeption des Abjekts widmet sich K. verstärkt negativen Aspekten der Sprachentstehung. Diese Auseinandersetzung führt sie weiter in Pouvoirs de l horreur. Essai sur l abjection (1980). Im nicht ins Deutsche übersetzten zweiten und dritten Teil von Die Revolution der poetischen Sprache wendet sie ihre Erkenntnisse über Sprache auf die literarischen Arbeiten Lautréamonts und Mallarmés an und diskutiert deren gesellschaftlich-symbolischen Rahmen. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Sprachprozesses ist die depressive Position und deren Überwindung. K. verbindet Erkenntnisse über die Melancholie mit Überlegungen zur Trennung von der Mutter in Freuds »Jenseits des Lustprinzips«. Die Trennung stellt sich ihr auch als »Befreiung ins Symbolische« dar (Vgl. Soleil noir. Dépression et mélancolie, 1987). K.s Auseinadersetzung verbindet psychoanalytische Fallgeschichten, Werke aus Literatur, Malerei, Musik und persönliches Erleben mit der Sprachtheorie.
Insbesondere die Musik eröffnet ein Feld, dem psychoanalytisch bislang wenig Beachtung geschenkt wurde (vgl. Histoires de l amour, 1983; Geschichten von der Liebe, 1989; Étrangers à nous mêmes, 1988; Fremde sind wir uns selbst, 1990), ein Buch über Xenophobie, für das sie 1992 mit dem Prix Henri Hertz ausgezeichnet wurde, und Les nouvelles Maladies de l âme (1993; Die neuen Leiden der Seele, 1994). Hier findet sich u.a. der Aufsatz »Le temps des femmes« (Die Zeit der Frauen) von 1979, in dem sie frühzeitig eine Unterscheidung dreier Phasen der Frauenbewegung entwickelt. Eine erste Auseinandersetzung mit Weiblichkeit war Des Chinoises (1974; Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China, 1976). Dieses Buch entstand im Rahmen einer Chinareise der Gruppe Tel Quel, einem Kreis von namhaften Wissenschaftlern und Intellektuellen um die gleichnamige literarische Zeitschrift und deren Herausgeber, K.s Ehemann, den Schriftsteller Philippe Sollers. Das letzte Kapitel aus Die Chinesin, das »Von unserer Seite« überschrieben ist, handelt von Weiblichkeit in Westeuropa, mit besonderem Akzent auf der literarischen Produktion von Frauen. K. problematisiert den Bezug der Künstlerin zu Vater und Mutter. Diese genealogische Frage vertieft sie später mit Hilfe psychoanalytischer Erkenntnisse.
Ein wichtiger Text ist in diesem Zusammenhang »Stabat mater«, das Kapitel über die Mutterliebe aus Geschichten von der Liebe, in dem sich K. anhand christlicher Vorstellungen über die Mutterliebe mit der Rolle der Frau als Mutter auseinandersetzt. Sie konfrontiert Mythen über Mutterliebe mit dem subjektiven Erleben der Mutter. Die Frau ist gespalten zwischen ihren Wünschen, ihrem Erleben und den kulturellen Bildern von Weiblichkeit und Mutterschaft. Auch wenn K. nicht als eine feministische Autorin im engeren Sinne betrachtet werden darf, spielt doch die Frage der Geschlechterdifferenz für sie eine wichtige Rolle. Viele ihrer Arbeiten wurden innerhalb der Frauenbewegung der 1970er Jahre rezipiert. Auch daß ihre sprachphilosophischen Arbeiten sie in die vorsprachliche Zeit des Individuums und zur Auseinandersetzung mit der Bedeutung des körperlichen Austauschs mit der Mutter geführt haben, wurde von feministischer Seite mit großem Interesse aufgenommen.
1998 erschien in Frankreich ein als Buch konzipierter Briefwechsel K.s mit der Schriftstellerin Cathérine Clement (Le féminin et le sacré; Das Versprechen. Vom Erwachen der Frauen, 2000). In Pouvoirs et limites de la psychanalyse. I, Sens et nonsens de la révolte (1996) und Pouvoirs et limites de la psychanalyse. II, La révolte intime (1997) prägt sie den Begriff der »intimen Revolte«, der ihr neues Verständnis politisch sinnvollen Handelns im ausgehenden 20. Jahrhundert bezeichnet. Jüngstes Projekt ist der Vorlesungszyklus Le génie féminin. La vie, la folie, les mots (Das weibliche Genie. Das Leben, der Wahn, die Wörter). Er umfaßt: Band I Hannah Arendt (1999; dt. 2000); Band II Melanie Klein (2000), und Band III Colette ou la chair du monde (2002).
Durch alle Schaffensphasen K.s zieht sich die Absicht, Bewegung in erstarrte Theorien zu bringen und eine Verbindung herzustellen zwischen wissenschaftlicher Systematisierung und den nicht axiomatisierbaren Anteilen des Gegenstands. Dazu zählt auch die Notwendigkeit des Zerstörens, um Neues schaffen zu können. Beispielhaft geht es um den Weg, eine Sprache zu finden, »um die seltsame Osmose zwischen ihren Empfindungen, ihrem Begehren und ihren Ängsten zu benennen« (zu Colette).
Smith, Anne-Marie: Julia Kristeva. Speaking the Unspeakable. London 1998. – Schmitz, Bettina: Arbeit an den Grenzen der Sprache. Königstein/Taunus 1998. – Oliver, Kelly: Reading Kristeva. Unraveling the Double-Bind. Bloomington, Ind. 1993.
Bettina Schmitz
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