Metzler Philosophen-Lexikon: Lefebvre, Henri
Geb. 16. 6. 1905 in Hagetmau/Landes;
gest. 29. 6. 1991 in Pau
Der in den bäuerlich geprägten südwestfranzösischen Landes als Sohn eines Voltaire anhängenden Beamten und einer eifrigen Katholikin geborene, gegen jede Art von Staatsräson rebellische und gegenüber jeglicher offiziellen Ideologie häretische Philosoph ist aktiv »in die meisten der großen ideologischen und politischen Auseinandersetzungen dieser Zeit« verwickelt gewesen: »Herausbildung und Auflösung des Surrealismus, Herausbildung und Auseinanderfallen des Existentialismus, Rehabilitierung Hegels, Debatten über das Wesen der marxistischen Philosophie und über die Bestimmung der Philosophie schlechthin, Überwindung des bürgerlichen Nationalismus und des formalen Individualismus und heute die Kritik und Bilanzierung dessen, was zusammenfassend als Stalinismusˆ bezeichnet wird.«
Nach einem Studium bei Maurice Blondel in Aix-en-Provence und bei Léon Brunschvicg in Paris, deren Konformismus bzw. Intellektualismus er ablehnte – so sehr ihn anscheinend auch ihre Konzentration auf »Aktion« bzw. »Methode« beeindruckt hat –, setzt L. sich innerhalb der Gruppe um die Zeitschrift Philosophies (u. a. Georges Politzer, Paul Nizan, Georges Friedmann, Norbert Guterman) in den 20er Jahren polemisch mit der gegenüber dem wirklichen Leben verselbständigten spiritualistischen oder religiös-scholastischen Philosophie auseinander, die Frankreich beherrscht. 1924 publiziert er die Einleitung zu einer Schelling-Auswahl. Für kurze Zeit dem kleinen Zirkel der Surrealisten nahestehend, wendet er sich bald gegen deren »klassizistische« Tendenzen, die »Entfremdung durch das Bild-Ding«. Er nimmt an der von Politzer initiierten ersten Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse teil und stellt sich als »romantischer Revolutionär« der existentialistischen Frage nach dem Anderenˆ. L. interessiert sich für das Verhältnis von aristotelisch gedachter Substanz und dem seit Bergson und Nietzsche in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückten Leben, indem er – beeindruckt von den Vorlesungen Alexandre Kojèves über Hegels Phänomenologie des Geistes (1933 ff.) – Hegel und Marx nach einer Theorie der Entfremdung durchforscht. Schon 1928 war er, parallel zur Gründung der Revue marxiste, der Kommunistischen Partei Frankreichs beigetreten, um – ohne jeden Überlegenheitsanspruch aufgrund der parteilichen Organisierung, wie er in deutlicher Anspielung auf Stalins Wort von den »Kommunisten (als) Menschen besonderen Schlages« betont – als Marxist auch ganz praktisch mit anderen an der Lösung gesellschaftspolitischer Probleme zu arbeiten.
Seit 1929 Philosophielehrer, gehört L. de facto zu den Pionieren einer auf ernsthafter theoretischer Aneignung beruhenden französischen marxistischen Philosophie (zu deren negativer Vorgeschichte vgl. D. Lindenberg). Gegen den latenten Ökonomismus des offiziellen Marxismus kämpft er schon in den 30er Jahren (zusammen mit Guterman) mit stark selektiven, kommentierten Chrestomathien zu Hegel, Marx und Lenin – darunter der ersten französischen Ausgabe der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx – dafür, innerhalb des Marxismus Raum für eine Praxis der Philosophie, für die Anerkennung wirklicher »philosophischer Probleme« zu schaffen. Er publiziert 1936 mit Guterman eine an Hegels Kategorie des »unglücklichen Bewußtseins« anknüpfende Untersuchung zur Mystifikationsproblematik, die bereits scharf gegen eine sogenannte »Klassenwahrheit« Stellung nimmt – »als ob die revolutionäre Wahrheit nicht einfach die Wahrheit wäre«. Nach einer kritischen, dezidiert antifaschistischen, Nietzsche-Einführung (1939) veröffentlicht L. 1939 eine Streitschrift (Le matérialisme dialectique; Der dialektische Materialismus) gegen den 1938 kanonisierten theoretischen Stalinismus, deren Grundgedanke die humanistische Betonung der umfassenden Einheit menschlicher Praxis gegen den einseitigen Objektivismus der II. und III. Internationale bildet: »Die Praxis wird als Anfang und Ende begriffen.« Diese Schrift – sie ist inzwischen in ca. 24 Sprachen übersetzt – wird 1940 von der NS-Besatzungsmacht verboten: L. wird vom Vichy-Regime sanktioniert und nimmt aktiv an der Résistance teil. Im Rahmen des »höflichen Dialogs mit den Nicht-Marxisten«, wie ihn die Kommunistische Partei Frankreichs und ihre Intellektuellen dann zunächst nach der Befreiung betrieben, skizziert L. eine marxistische Kritik des Existentialismus (L existentialisme, 1946), von der er sich später auf Druck der Partei distanzierte.
Der erste Band seiner logischen Untersuchungen (Logique formelle, logique dialectique; Formale und dialektische Logik) zu den Grundlagen des Marxismus, die allerdings sichtlich darum bemüht sind, ihre Kritik auf dem Boden des Marxismus-Leninismus als »wissenschaftlicher Weltanschauung« zu formulieren, konnte 1947 noch kurz vor der Wende zur Kalten-Kriegs-Konstellation innerhalb der Kommunistischen Partei Frankreichs erscheinen. Der bereits gesetzte und druckfertige zweite Band fiel dann allerdings der sich verschärfenden Shdanowistischen Parteizensur zum Opfer. Dazwischen erscheint eine stark harmonisierende Darstellung des Marxismus (Le Marxisme, 1948) sowie eine popularisierende Marx-Chrestomathie (Pour connaître la pensée de Karl Marx, 1948). L.s Untersuchungen zu den Grundlagen eines jeder Dogmatisierung widerstehenden Marxismus, verstanden als eine Beurteilung des »Möglichen« und seiner historischen Entwicklung (im Hinblick auf dessen wissenschaftliche Aufarbeitung und den Willen zu dessen Veränderung durch die Aktion), sind durch diesen Parteieingriff auf Jahrzehnte unterbrochen worden; erst mit seinen späten Arbeiten zur »Metaphilosophie« sollte es ihm gelingen, wieder an sie anzuknüpfen.
Im ersten Band seiner Critique de la vie quotidienne (1947 veröffentlicht; Kritik des Alltagslebens) arbeitete L. seine gesellschaftstheoretischen Reflexionen über den Entfremdungsbegriff aus, die er sich in den 1930er Jahren mit Guterman erarbeitet hatte. Er versteht diesen im bewußten Gegensatz zur Verdinglichungskategorie von Georg Lukács als eine »konkrete, praktische und lebendige« Kategorie. Mit seinen Überlegungen entfernt er sich von der allgemeinen Aufbruchsstimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit; er setzt sich vielmehr mit einer bahnbrechenden Kritik des »Fordismus« als Lebensform (»métro-boulot-dodo«) zwischen die Stühle der akademischen Philosophie, der solche Ausflüge in die »soziologische« Realität suspekt waren, und des sich einigelnden Marxismus-Leninismus, der die Problematik der »Entfremdung« ablehnte, ohne daß er eine inhaltliche Debatte darüber zuließ.
Die Contribution à l Esthéthique (1953; Beiträge zur Ästhetik) brauchte vier Jahre, um schließlich durch eine List L.s die Parteizensur zu passieren. In dieser Situation sollte sich die Veröffentlichung des zweiten Bandes der Critique de la vie quotidienne bis 1962 verzögern. L. wird mit der Verfestigung der ideologischen Fronten im Zeichen des Kalten Krieges gleichsam auf das Feld der Soziologie abgedrängt: Er wird 1949 Forschungsdirektor am »Centre national de la recherche scientifique« und tritt mit kultursoziologischen Publikationen hervor (zu Pascal – in Kontroverse zu Lucien Goldmann – und vor allem zu Musset); 1961 übernimmt er eine Professur für Soziologie in Straßburg und schließlich in Nanterre (seit 1965), wo er zum Bezugspunkt und kritischen Zeitgenossen des Mai 1968 werden sollte.
Als sich unter Chruschtschow erste Möglichkeiten (und zugleich auch in der Unterdrückung der Arbeiteraufstände in Ungarn und Polen) die brutalen Grenzen einer marxistisch-leninistischen Selbstkritik abzeichnen, veröffentlicht L. nach einer Chrestomathie zu Lenin (1957) auch einen wichtigen Aufsatz zum »Sitz« des Marxismus in der französischen intellektuellen Tradition; insbesondere untersucht er die zerstörerische Auswirkung des theoretischen Stalinismus der Kommunistischen Partei Frankreichs seit 1947. In Problèmes actuels du marxisme (1957; Probleme des Marxismus heute) versucht L. eine marxistische Kritik des offiziellen Marxismus, die sich zentral gegen dessen Konzeption als »wissenschaftliche Weltanschauung« richtet. Eine Neuauflage der Critique de la vie quotidienne (1958), mit einem langen politisch-philosophischen Vorwort folgt unmittelbar, in dem er die »Theorie der Entfremdung« als ein unverzichtbares politisches Kampfinstrument gegen den Stalinismus, unter dem sie »auf Befehl von oben, aus Gründen der Staatsräson« hatte verschwinden müssen, herausstellt. Die Reaktion der KP-Führung läßt nicht lange auf sich warten: 1958 wird L. – zusammen mit fast der gesamten Redaktion der Nouvelle Critique – aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, L. publiziert daraufhin zwei kämpferische Aufsätze (L exclu, s inclut, und Réponse au camarade Besse), in denen er darauf besteht, trotz des Ausschlusses durch die Partei, weiterhin Kommunist zu bleiben, sowie Ende 1958 eine schonungslos offene Autobiographie als Abrechnung mit dem offiziellen Marxismus in Frankreich (La somme et le reste, 1958/59), die angesichts des gezielten Schweigens der parteigeschichtlichen Quellen philosophisch argumentiert. Scharfe Kritik bleibt nicht aus: So verhängt 1960 Lucien Sève gegen ihn ein richtiggehendes Ketzerurteil.
Wie viele Marxisten seiner Generation – von Lukács über französische Kollegen wie Morin, Châtelet, Axelos und Castoriadis bis hin zu dem mit L. in respektvoller Gegnerschaft verbundenen Lucien Goldmann – hat auch L., der in den 70er Jahren Bachtin rezipierte, in der Kunst einen Vorschein des neuen Lebensˆ gesucht, insbesondere in dem zentralen Gedanken der künstlerischen Avantgarde seit dem Jahrhundertbeginn: Die Kunst wird sich durch ihre »Selbstzerstörung« aus ihrer Hypostasierung gegenüber dem Alltagsleben, aus der »Prestigewelt der Formen« lösen, somit »in den Dienst des Alltags treten« und das Leben selbst »produzieren«. Ohne dabei den oft impressionistischen Charakter seiner kritischen Überlegungen überwinden zu können, führt L. vor allem in Métaphilosophie. Prolégomènes (1965) seine früheren Untersuchungen über die logischen Grundlagen der Philosophie unter der Perspektive einer erneuten Hinwendung zum Alltagsleben fort. Dabei wird er zu einem wichtigen theoretischen Bezugspunkt für die Gruppe der »Situationisten« um Guy Debord und Raoul Vaneigem.
Gleichzeitig beginnt L. mit dem Zusammentragen schon vorhandener Arbeitsergebnisse in großflächigeren, schrittweise sich von der Verbindlichkeit des marxistischen Denkens lösenden Darstellungen (Marx, 1964; Sociologie de Marx, 1966; La survie du capitalisme, 1973 – Die Zukunft des Kapitalismus; Hegel-Marx-Nietzsche. Ou le royaume des ombres, 1975) und in Arbeiten, die auf den Horizont der gesamten modernen Welt zielen: Introduction à la modernité. Préludes (1962; Einführung in die Modernität. 12 Präludien) und La vie quotidienne dans le monde moderne (1968; Das Alltagsleben in der modernen Welt).
L.s Spätwerk erhebt sich unter Aufnahme neuer Impulse aus dem Mai 1968 – dem L. sehr nahegestanden hatte und an dessen Vorabend er noch einmal polemisch seine eigene Position markiert hatte (Position: Contre les technocrates, 1967) – über die Blockierungen durch die Tabus der akademischen Philosophie. Ebenso verhält sich L. hinsichtlich der Exkommunizierung durch den herrschenden Marxismus – allerdings nicht ohne den Preis einer stark ins Imaginäre spielenden Zeitgenossenschaft entrichten zu müssen (vgl. L.s Manifeste différentialiste, 1970, sowie seine auf Francis Fukuyama antwortende Polemik La fin de l histoire, 1970). So vermag er etwa in Roger Garaudys zunehmender Feuilletonisierung einer vage »humanistischen« Weltanschauung ebenso wie in Louis Althussers theoretischem Kampf für eine Überwindung des Marxismus-Leninismus von innen heraus gleichermaßen nur »zwei Produkte der Zersetzung des Dogmatismus« zu erkennen (Audelà du structuralisme, 1971). Er bezichtigt Althusser – dessen philosophische Eingriffe allerdings erst in den späten 70er Jahren ihre Tragweite zu enthüllen beginnen – pauschal des Stalinismus und des Dogmatismus.
Im Zuge der erneuten Beschäftigung mit seinen Thesen zur Kritik des Alltagslebens überführt L. die Untersuchungen zur konkreten Entfremdung im Alltag in eine Kritik der urbanistischen Moderne (Le droit à la ville, 1968; Du rural à l urbain, 1970; La Révolution urbaine, 1970 – Die Revolution der Städte; La pensée marxiste et la ville, 1972 – Die Stadt im marxistischen Denken; La production de l espace, 1974) und in die semiologischen Grundlegung dieser Kritik (Le langage et la société, 1966; Sprache und Gesellschaft). Mit der neuen theoretischen Hinwendung zu Fragen des Raumes wird er zu einem Pionier auf diesem Gebiet. Die Erde als geographisch wie gnoseologisch endlicher Raum erliegt unter dem unendlichen Expansionsdruck der kapitalistischen Akkumulation einem sprunghaft zunehmenden Aufzehrungsprozeß, dessen letzte Steigerung – die Entgrenzung von Stadt und Land – in Gestalt einer formlos wuchernden »Pseudo-Urbanisierung« zur Grundlage einer neuen Form der weltweiten Umwälzung werden muß, in der sich die Welt als historischer Prozeß konstituiert. Damit wird L. zu einem der ersten Theoretiker der »Globalisierung.«
L. arbeitet schließlich seinen zentralen Gedanken einer fortschreitenden »Verstaatlichung« des Alltagslebens in einem vierbändigen Alterswerk Über den Staat (De l Etat, 1976–78) aus, das zugleich eine kritischen Darstellung des zeitgenössischen marxistischen und nicht-marxistischen Staatsdenkens unternimmt.
Einen – vorläufigen – Abschluß stellt die streitbare Unterredung mit Cathérine Regulier dar, über La Révolution n est plus ce qu elle était (Die Revolution ist auch nicht mehr das, was sie einmal war), die L. 1978 veröffentlicht. Gleichzeitig nähert er sich gegen einen heraufziehenden neoliberalen Zeitgeist politisch wieder stärker der KPF an. Er zieht 1980 noch eine abschließende Bilanz des Marxismus (Une pensée devenue monde. Faut-il abandonner Marx?), in der er seinen Anspruch artikuliert, hinter der »Ideologie«, zu der der Marxismus dadurch gemacht worden ist, daß er als ein für allemal etablierte Wahrheit dargestellt wurde, wieder der »Bewegung«, der »Untersuchung über das Mögliche und das Unmögliche« zum Durchbruch zu verhelfen. Diese soll jenseits von Dogmatisierung und Skeptizismus einen »aktuellen Gebrauch des marxistischen Denkens« ermöglichen.
Eine L.-Rezeption, die sich darum bemüht, »sine ira et studio« herauszuarbeiten, welche positiven Beiträge er für eine globale Theoretisierung der gegenwärtigen Lage geleistet hat, ohne dabei in der bloßen Reaktion auf seine Polemiken bzw. in deren Funktionalisierung für eigene Polemiken steckenzubleiben, steht weitgehend noch aus. Ein schlagendes Gegenbeispiel zu dieser notwendigen Rezeption eines der Pioniere eines entdogmatisierten Marxismus bietet bisher die bundesrepublikanische Diskussion, in der L. vor allem als Kronzeuge gegen Althusser in den Dienst der Frankfurter Schule gestellt worden ist.
Hess, Rémi: Henri Lefebvre et l’aventure du siècle. Paris 1988. – Schaub, Jens Peter: L’homme total. Die Entfremdungsproblematik im Werk von Henri Lefebvre. Frankfurt am Main 1983. – Fahrenbach, Helmut: Henri Lefebvres Metaphilosophie der Praxis. In: Schmied-Kowarzik (Hg.): Praxis und Hoffnung. Kassel 1982. – Schoch, Bruno: Marxismus in Frankreich seit 1945. Frankfurt am Main 1980. – Kleinspehn, Thomas: Der verdrängte Alltag. Henri Lefebvres marxistische Kritik des Alltagslebens. Gießen 1975. – Lindenberg, Daniel: Le marxisme introuvable. Paris 1975. – Fetscher, Iring: Der Marxismus im Spiegel der französischen Philosophie. In: Marxismus-Studien. Tübingen 1954.
Frieder Otto Wolf
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.