Metzler Philosophen-Lexikon: Leibniz, Gottfried Wilhelm
Geb. 1. 7. 1646 in Leipzig;
gest. 14. 11. 1716 in Hannover
Wahrscheinlich war er der umfassendste Kopf, der an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert philosophisch dachte, in einer Zeit, die an philosophischen Köpfen nicht arm war. In Leipzig als Sproß einer Professorenfamilie geboren, war er eines der Wunderkinder, mit denen seine Zeit zu renommieren versuchte: Lesen, Schreiben und Latein soll er sich selbst beigebracht haben. Sein Leipziger philosophisches und juristisches Studium (in Philosophie war Jacob Thomasius, der Vater des späteren Aufklärers Christian Th., sein Lehrer) begann L. mit 15 Jahren; im Sommer 1663 setzte er sein Studium in Jena fort, wo er den Mathematiker und Philosophen Erhard Weigel hörte. Mit 21 Jahren promovierte er in Altdorf zum Doktor beider Rechte, weil er der Leipziger Fakultät zu jung war. Um diese Zeit wurde er mit dem Mainzer Minister Chr. v. Boineburg bekannt, der den jungen Juristen an den Hof des Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn empfahl, wo L. an der Revision des römischen Rechts arbeitete, eine Aufgabe, durch die er sich mit seiner Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae (1667) qualifizierte, einem Entwurf zur Revision des juristischen Studiums, den er in einem Frankfurter Gasthaus eilig vollendet hatte. Im Zusammenhang mit dem pfälzischen Krieg und den Reunionskriegen Ludwigs XIV. wurde der junge Gelehrte im März 1672 nach Paris geschickt. Dort versuchte er vergeblich, dem französischen König das »Consilium Aegyptiacum« zu unterbreiten, einen Plan, der die militärischen Energien Frankreichs nach Ägypten ableiten sollte. Bei seinem vierjährigen Aufenthalt in Paris – sein Dienstherr, der Mainzer Erzbischof, starb in der Zwischenzeit – lernte L. die Gelehrten der französischen Hauptstadt kennen, wurde von Huygens in die moderne Mathematik eingeführt, entwickelte seine Rechenmaschine, reiste nach London, wo er den Sekretär der Royal Academy, Oldenburg, und Robert Boyle traf. Nach seiner Rückkehr beschäftigte er sich verstärkt mit der Mathematik Pascals und Descartes’, entdeckte 1675 die Grundzüge seiner Infinitesimalrechnung und wurde als Mitglied der französischen Akademie der Wissenschaften vor geschlagen (die Mitgliedschaft kam erst 1700 zustande). In Paris hatte er auch seinen späteren Dienstherrn, den Hannoveraner Herzog Johann Friedrich, kennengelernt. Ehe er aber seine Hannoveraner Stellung antrat, reiste er erneut nach London, nahm dort Einblick in Newtons Papiere zur Analysis und reiste über Den Haag, wo er Spinoza traf, nach Hannover.
Hannover, je länger, desto weniger geliebt, blieb für den Rest seines Lebens Hauptwohnsitz. Seine Aufgabe war juristisch und historisch: er sollte als Hofhistoriograph die Geschichte der Welfen schreiben und als Jurist die Gesetze des Herzogtums neu disponieren und ordnen, schließlich war er Bibliothekar. Von Hannover aus hat L. seinen umfassenden Briefwechsel geführt, von hier aus ist er zu seinen zahlreichen Reisen nach Berlin, Wolfenbüttel, Dresden und Wien aufgebrochen, von hier aus hat er 1689/90 Italien bereist, hier hat er drei Kurfürsten – 1714 wurde Kurfürst Georg Ludwig König von England – überdauert, und mit jedem Herrscherwechsel wurde sein Verhältnis zu seinem Dienstherren schlechter. Gerne wäre L. nach Berlin entkommen, wo er 1700 erster Präsident der von ihm konzipierten Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde, gerne hätte er als preußischer Hofrat mit der klugen Königin Charlotte über philosophische Fragen und besonders die Theodizee geplaudert. Lieber als in Hannover wäre er gewiß als kaiserlicher Hofrat, der er 1713, gegen Ende seines Lebens wurde, in Wien geblieben: aber der hannoverische Hof ließ ihn nicht gehen – bis zu seinem Tod; einen Monat später wurde er dort feierlich in der Neustädter Kirche beigesetzt.
Nicht, daß man in Hannover gewußt hätte, was man an ihm hatte – das war auch schwer möglich. Er hatte zuviel begonnen, und keines der Projekte war bislang beendet: weder das Riesenvorhaben einer Universalenzyklopädie (»characteristica universalis«), noch die Rechtsreform, noch eine vollständige Geschichte des Welfenhauses; auch die Versöhnung der großen Kirchen untereinander kam nicht zustande. Die praktischen Vorschläge zur Justizreform und zu technischen Fragen, vor allem zum Bergbau im Harz, wurden nicht ausgeführt oder scheiterten – und erst am Ende seines Lebens hat L. die großen philosophischen Traktate veröffentlicht, die seinen Ruhm im 18. Jahrhundert ausmachten: Das Système nouveau de la nature et de la communication des substances (1695; Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen) und die Essais de theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l homme et l origine du mal (1710; Versuch der Theodizee über die Güte Gottes, die Freiheit der Menschen und den Ursprung des Übels). Die Entdeckung der Infinitesimalrechnung wurde erst durch den unerfreulichen Streit mit Newton weithin bekannt, der durch die Veröffentlichung des Commercium Epistolicum D. Johannis Collins 1712 entbrannte und in dem L. vorgeworfen wurde, er habe die Infinitesimalrechnung von Newton plagiiert. Die Überlegenheit der L.schen Nomenklatur in der Infinitesimalrechnung blieb – trotz den Bernoullis und dem Lehrbuch des Franzosen L’Hospital – das 18. Jahrhundert hindurch mathematischer Streitpunkt. Die erkenntnistheoretische Weite seines Blicks kam 1765 mit der Publikation der Nouveaux essais sur l entendement humain (Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand) zum öffentlichen wissenschaftlichen Bewußtsein; L.’ Bemühungen um die Einheit der Kirchen wurden erst durch die Veröffentlichung des Systema theologicum (1819) weiterhin bekannt, und seine Entwicklungen zur Logik schlummerten bis zu Couturats Edition der Opuscules et fragments inédits von 1903 im Hannoveraner Archiv.
L.’ Philosophie erschließt sich am besten von seiner Metaphysik her. Ihr Hauptthema ist die Einheit der göttlichen und menschlichen Vernunft, ein Thema, das L. mit dem Begriff der Möglichkeit zu fassen versuchte. Möglichkeit definiert er zuerst als Widerspruchsfreiheit von Prädikaten einer Sache – das war identisch mit Denkmöglichkeit. Der Bereich des Möglichen – also Denkmöglichen – war der Bereich, in dem Gott die möglichen Welten dachte, aus der er dann die beste zur Wirklichkeit entließ. Darin bestand der Kern des Rationalismus, daß noch die Existenz einer Sache an ihrer Denkmöglichkeit hing: Das galt für Gott, Mensch und Welt gleichermaßen. Im unendlichen und zeitlosen Gedanken des einen guten Gottes war die Welt als die beste mögliche konzipiert – im 18. Jahrhundert ist das zuerst polemisch, dann affirmativ »Optimismus« genannt worden –, und im Gedanken Gottes war auch der Mensch als Begriff (»Monade«) vollständig und zeitlos definiert. Wegen der Logizität Gottes und der Welt repräsentierte jede Monade in ihrer Stellung die ganze Schöpfung. Der Mensch als das Wesen, das sein Denken selbst zum Gegenstand seiner Untersuchungen machen konnte, also reflexiv dachte, war zugleich in der Lage, die Struktur der Gedanken Gottes apriorisch nachzuvollziehen – denn im Denken der Möglichkeit waren Gott und Mensch gleich: Das galt für die Mathematik einerseits, für die Moral, deren Leitbegriffe mit der menschlichen Vernunft erkennbar waren, andererseits.
Die moralischen und mathematischen, dem Satz des Widerspruchs gehorchenden Vernunftwahrheiten teilte der Mensch mit Gott; seine Differenz zum höchsten Wesen aber bestand in zwei Punkten: Einerseits war er dem notwendigen Gott gegenüber in seiner Existenz zufällig, kontingent. Auf der anderen Seite konnte er die Gründe, die Gott hatte, warum die Welt so, wie sie war, geschaffen worden war, nur abstrakt einsehen, nicht aber die Einzelgründe, weshalb die Welt in ihren Tatsachen so war, wie sie war. Der Mensch war also außerstande, die vollständige Definition kontingenter Dinge zu haben: Er konnte zwar allgemein den Satz vom zureichenden Grunde begreifen, konnte ihn – Unterschied von Vernunft- und Tatsachenwahrheiten – aber nicht im einzelnen empirischen Ding erkennen. So war der Mensch für seine sicheren Erkenntnisse ganz auf die innere Sicherheit von Mathematik und Moral verwiesen; alle Erkenntnis vollzog sich, als ob Gott und der Mensch unmittelbar miteinander kommunizierten. Eine Erkenntnis äußerer Dinge war überflüssig, wenn der Mensch im Erkennen an Gottes Konzept aller Dinge partizipierte. Wenn aber alle Erkenntnis wesentlich innere Erkenntnis war – und wie sollte Erkenntnis anders vonstatten gehen denn als seelischer Akt –, dann brauchte es keine Kommunikation zwischen Ausdehnung und Denken zu geben, dann war die prästabilierte Harmonie zwischen psychischen und materiellen Substanzen garantiert.
In seiner Verortung in der besten aller möglichen Welten blieb der Mensch dennoch frei. Die Freiheit des Menschen hat L. von Beginn seiner Philosophie an verteidigt – auch wenn seine Vorstellungen über die menschliche Freiheit sich erst in den 1680er Jahren stabilisierten. Freiheit war für L. Definiens des Willens, Freiheit zeichnet den Menschen wesensmäßig aus. In Gottes bester Welt ist Freiheit möglich, weil Gott zwar die menschlichen Verfehlungen vorhersieht, aber nicht vorherbestimmt, weil er zugleich die menschlichen Sünden in das harmonische – und Harmonie ist die Einheit der Differenz – Konzept seiner besten möglichen Welt einbezieht. Da die beste Welt so variabel konzipiert ist, daß in ihr die Möglichkeiten ihrer Entwicklung je nach dem menschlichen Handeln angelegt und vorgesehen sind, ist die Welt zwar in diesem ihrem variablen – gleichwohl perfekten – Konzept Gottes Schöpfung, entwickelt sich aber unabhängig von göttlichen Eingriffen.
Dieses metaphysische Konzept hat L. von Jugend an verfolgt, in der Mitte der 1680er Jahre war es in den Grundzügen konzipiert. Den Discours de Métaphysique hat er 1686 an den französischen Jansenisten Antoine Arnauld geschickt, zehn Jahre später hat er seine These von der prästabilierten Harmonie veröffentlicht – Système nouveau de la nature – und durchweg unverständiger Kritik ausgesetzt. Die breite Darstellung seiner theologischen Metaphysik in der Theodicée (1710), in den Principes de la nature et de la Grâce fondées en raison (1714; Die Vernunftsprinzipien der Natur und der Gnade), der Monadologie (1714) und im polemischen Briefwechsel mit Samuel Clarke (zuerst 1717 veröffentlicht) hat fürs 18. Jahrhundert die Diskussion um Metaphysik maßgebend geprägt. Christian Wolff gab L.’ Theodizeenkonzept die schulmäßige Form (Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, 1720), und als Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen in der Welt hat L. die optimistische Folie geliefert für den Pessimismus und den Nihilismus des 19. Jahrhunderts.
Mit einem Gottesbegriff, der so weit gefaßt wurde, daß schlechterdings alles von dessen umfassender Vernunft abhängig war, konnte eine konfessionell geprägte Christlichkeit nicht verbunden sein. L.’ Denken, das keinen revolutionären Gestus hatte, stand in der Tradition der »philosophia perennis« und der natürlichen Theologie, die die Einheit von Vernunft und Glaube forderte; L.’ theologisches Konzept zielte darauf, Vernunft und Theologie zu verschränken. Dem widersprach die Trennung der Konfessionen und Kirchen. L. hat deshalb – vergeblich – versucht, die Trennungen der Kirchen aufzuheben. Sein Plan: Die Betonung der Gemeinsamkeiten der kirchlichen Verwaltungen, für die katholische Kirche Zurückdrängung des äußeren Kultes, für die protestantische Theologie die Uminterpretation Christi zum Lehrer nach humanistischem Muster, zugleich deutliches Abrücken von der Rechtfertigungslehre und der paulinischen Theologie Luthers. Der protestantischen Kirche glaubte er die Anerkennung des Papstes als erstem Bischof der Christenheit zumuten zu können, und für beide Konfessionen strebte er einen im Kern gemeinsamen, nach Sprachen und Regionen jedoch verschiedenen Gottesdienst an. L. hat sich mit diesen Vorstellungen, die er mit dem Lockumer Abt Molanus, mit dem Berliner Prediger Jablonski, mit Ludwigs XIV. Hofprediger Bossuet und mit dem Wiener Bischof Royas y Spinola erörterte und in einem Systema Theologicum schon 1686 zusammenfaßte, nicht durchsetzen können. Für die Kirchenpolitik des 18. Jahrhunderts sind seine Anregungen – weil unbekannt – ohne Wirkung geblieben; im 19. Jahrhundert sind sie zur Konfessionspolemik und dazu benutzt worden, L. alternativ dem katholischen oder evangelischen Lager zuzusprechen.
Das Projekt der Darstellung des universalen Wissens – der »characteristica universalis« – hat L. sein Leben lang verfolgt. Die Kerngedanken kannte er aus der enzyklopädischen Tradition; es ging darum, alles mögliche Wissen im genauen Sinne zu beschreiben. Wenn es gelänge, die semantischen Bausteine der Welt zu fassen – also eine vollständige Tafel aller denknotwendigen Grundbegriffe zu erstellen –, so hätte aus diesen Elementen und deren möglichen Kombinationen eine Wissenschaft von allem Wißbaren entwickelt werden können. Setzte man voraus, daß das menschliche Denken a priori über denknotwendige Begriffe verfügte – die Grundbegriffe der Mathematik und der Moral – und daß diese Begriffe deshalb wahr waren, weil sie durch die Teilhabe am göttlichen Wissen für die Menschen überhaupt existierten, dann gab es folgende Hauptaufgaben für die »characteristica universalis«: Einerseits die Herstellung eines möglichst vollständigen Verzeichnisses denknotwendiger Begriffe und andererseits die Entwicklung eines Algorithmus, der die sinnvolle Kombination dieser Begriffe formal faßte. L. hat, um die Elemente seiner »characteristica« zu bekommen, Definitionen aus allen ihm zur Verfügung stehenden Lexika gesammelt, und er hat Institutionen gefordert, die das materiale Wissen, das vorhanden war, speicherten und für die Praxis zur Verfügung hielten. In diesen Erwägungen wurzeln seine zahlreichen Enzyklopädieentwürfe, hier liegen die Gründe für seinen Plan eines deutschen Wörterbuchs. Die Suche nach dem verbindlichen Algorithmus der Universalwissenschaften hat L.’ Entwicklungen in der Logik provoziert, und die institutionellen Erwägungen der Enzyklopädie führten zunächst zu utopischen Plänen einer »Societas Theophilorum« und später, um die Wende zum 18. Jahrhundert, zur Konzeption der Akademien der Wissenschaften in Wien, Dresden und Berlin. Die Preußische Akademie der Wissenschaften, die einzige, die realisiert wurde, zeigte dann kaum mehr Spuren von L.’ utopischem Konzept der Universalwissenschaften.
L. hat Logik als Zeichentheorie verstanden. Ausgehend von der aristotelischen Syllogistik, die er als grundlegend faßte, versuchte er, die Logik selbst so zu formalisieren, daß sie durch ihre pure Form den Leitfaden der Wahrheit bilden konnte. Dazu brauchte er als Elemente einfache Grundbegriffe, das Alphabetum cogitationum humanarum. Die Elemente dieses Alphabets hätten als Zeichen für die Formalisierung ihrer Kombination und Disposition dienen können. Es ging also in einem ersten Bereich um die Invention dieser Elemente. Zunächst hat L. geglaubt, es ließen sich diese Elemente vollständig und in ihrer Einfachheit finden; ab etwa 1685 ging er von einer Trennung der ersten Weltelemente für uns und an sich aus. Aber selbst mit einer Elementartafel, die nur für das menschlich begrenzte Denken ausreichte, ließ sich kalkulieren: Das Ziel der Kalkulation war die vollständige Definition der Dinge, die in allen ihren Prädikaten a priori hätten rekonstruiert bzw. analysiert werden können. Die Konstruktion oder Analyse hätte, in Analogie zur Mathematik, die dadurch ein Teil der Logik wurde, formalisiert werden sollen. Eine solche Formalisierung hat er als »scientia generalis« und als Schlüssel zu allen Wissenschaften betrachtet; eine solche allgemeine Theorie der Relationen hätte in der Tat für Metaphysik und Moral eine sichere Grundlage allen Wissens und ein isomorphes Bild der Natur gegeben, – vorausgesetzt, daß Gott, der »deus mathematicans«, die Welt als die beste der möglichen kalkulierbaren Welten erschaffen hätte.
Auch die Mathematik war Teil der universalen Logik; in ihr zeigte sich für L. in herausgehobener Weise die Teilhabe des menschlichen Geistes am göttlichen auf der einen und die Angewiesenheit des menschlichen Denkens auf Zeichen auf der anderen Seite. Gleichwohl steht L.’ Mathematik in der mathematischen Tradition. In der Auseinandersetzung mit Pascals »charakteristischem Dreieck« entwickelte er die arithmetische Kreisquadratur, und im Zusammenhang mit seinen Arithmetik-Studien gelang ihm im Oktober 1675 die Erfindung der Infinitesimalrechnung. Die neue Rechnungsart erlaubte die Darstellung und Zusammenfassung von Flächenbestimmungen, Extremwertbestimmungen und Tangentenbestimmungen nach einheitlichen Prinzipien. Freilich wurde die Infinitesimalrechnung erst 1686 in einem Aufsatz zur Integralrechnung veröffentlicht. Auch dieser Aufsatz blieb folgenlos, bis die Brüder Bernoulli 1697 L.’ Methode verwendeten und L’Hospital 1696 in einem Lehrbuch die erste systematische und verständliche Darstellung der Infinitesimalrechnung gab. Die Tatsache, daß Newton seine »Fluxionsrechnung«, die er lange konzipiert und in den Principia mathematica (1687) veröffentlicht hatte, durch L. plagiiert sah, hat im frühen 18. Jahrhundert zu einem zähen Streit um die Priorität der Erfindung der Infinitesimalrechnung geführt, der unentschieden endete: Beide haben die Infinitesimalrechnung unabhängig voneinander gefunden, L.’ Symbolik hat sich allerdings durchgesetzt. Im übrigen besteht L.’ immenser unveröffentlichter Nachlaß zum größten Teil aus immer noch weitgehend unbekannten mathematischen Entwürfen.
Als gelernter Jurist hat L. von Beginn seiner wissenschaftlichen Arbeit an versucht, die Jurisprudenz in sein Konzept einer Universalwissenschaft einzubauen. Es ging ihm dabei um zweierlei: Einerseits sollte das historisch überkommene Recht in einer Weise systematisiert werden, die die Vielzahl der regionalen Rechte und das römische Recht vereinheitlichte. Das hat L. schon 1667 in seiner Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae versucht. Auf der anderen Seite hat er schon 1665, noch als Student, versucht, die Entscheidungsfindungen im Recht mit logischen Prinzipien zu begründen und sicherer zu machen. Als Maßstab schwebte ihm eine »iustitia universalis« vor, die Moral und Recht nach einem einheitlichen Prinzip faßte. Dieses »christliche Naturrecht«, das er in der Einleitung zu seinem Codex iuris gentium diplomaticus (1693) darstellte, ging von L.’ zentraler Gerechtigkeitsdefinition »Justitia est caritas sapientis« aus und stufte das Recht insgesamt nach positivem Recht, Billigkeit – dem die Nächstenliebe korrespondierte – sowie Frömmigkeit und Sittlichkeit als dem Gipfel der menschlichen Erfüllung des Rechts. Diesem Idealrecht entsprach auch seine Normvorstellung des Staats, der nach der Norm des gerechten und weisen Vatergottes eingerichtet war und – wie das Ende der Monadologie beschreibt – das Reich der Gnade ist, der Gottesstaat, der uns in der physischen Welt als unsere innere moralische Welt gegenwärtig ist, unsere Norm des Guten und unsere vorweggenommene Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes.
Artikel »Leibniz«. In: Grundriß der Geschichte der Philosophie. 17. Jahrhundert, Bd. 4. Hg. von Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Basel 2001, S. 1023–1152. – Heinekamp, Albert (Hg.): Leibniz-Bibliographie. Die Literatur über Leibniz bis 1980. Begründet von Kurt Müller. Frankfurt am Main 21984. – Müller, Kurt/Krönert, Gisela: Leben und Werk von G. W. Leibniz. Frankfurt am Main 1969. – Guhramer, Eduard Gottschalk: G. W. Freiherr von Leibniz [1846]. Hildesheim 1966. Wilhelm Schmidt-Biggemann
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